Von Kerstin Bodenmiller

Zum ersten Mal seit Tagen sah sie Tageslicht, keinen strahlend blauen Himmel, wie romantische Dichter den Augenblick beschrieben hätten, nur ein wolkenverhangener grauer Dunst, der schwer über der Stadt lag und das Licht des jungen Morgens dämpfte. Seit langem drangen andere Gerüche als Unrat, Krankheit und Fäulnis in ihre Nase. Da lag der Duft von Brot in der Luft, von Kohle und frisch geschlagenem Holz und von etwas, das sie an ihre Heimat erinnerte. Der Duft von Ginster? Sie schloss die Augen und sog die Luft ein wie eine Ertrinkende, der es gelungen war, den Kopf über die todbringenden Wellen zu erheben und mit einem kräftigen Atemzug dem unausweichlichen Ende wertvolle Sekunden abzuringen.

 

Sie sieht sich selbst durch den Garten des prächtigen Hofes laufen, lachend verfolgt sie einen Schmetterling. Goldenes Licht der untergehenden Sonne zaubert trügerische Ruhe auf die Szenerie. Es herrscht Krieg, doch in diesem Augenblick regiert Friede und Gleichgewicht. Und Friede, so wusste sie, würde bald wieder herrschen. Sie hatte es verkündet. Ihr konnte sie trauen, denn sie sprach Gottes Wort und Wille.

Mutter und Vater stehen in der Tür des Hauses und rufen nach ihr. Mutter, Vater…

 

Ein harter Stoß in ihren Rücken ließ sie nach vorne taumeln, beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, nur die groben Seile, die ihr um Hüfte und Handgelenke gelegt worden waren hielten sie von ihrem Sturz ab und schnitten sich qualvoll in ihre zarte Haut. Ein weiterer, unerbittlicher Stoß in ihren Rücken trieb sie zum Gehen an und sie folgte der Aufforderung. Sie war zu schwach, um sich zu wiedersetzten. Worte genügten hier schon lange nicht mehr. Und mehr als Worte hatte sie nicht mehr, hatte sie streng genommen nie. Sie hatte getan, was sie ihr aufgetragen hatte, hatte ihr Wort an die Menschen getragen und die Menschen hörten sie an. Doch wer schenkte ihr nun noch Gehör?

 

Sie betritt einen langen Saal voller fremder Menschen, die erwartend, teils lauernd Raubtieren gleich auf die junge Frau blicken, die es wagt vorzutreten und verspricht, den Sieg in diesem Krieg zu erlangen. Der Dauphin selbst lauscht ihren Worten. Sie ist eine gute Rhetorikerin und weiß sich auszudrücken. Eine wichtige Waffe in dieser Welt. Vielleicht hatte sie sie aus diesem Grund ausgewählt, weil sie der Doppelzüngigkeit der Machthabenden beikommen konnte. Sie tritt vor uns spricht. Drei Wochen wird sie der Prüfung unterzogen, ob ihre Worte und Beweggründe rechtschaffend sind. Letztlich erhält sie, was sie fordert.

 

Etwas Weiches traf sie mit Wucht an der Schulter und riss sie zurück in die Realität. Der verfaulte Kohlkopf, der von einem jungen Burschen geworfen worden war, hinterließ einen stinkenden Fleck an ihrem zerlumpten Kittel. Der Bursche rief ihr eine unflätige Bemerkung hinterher. Jetzt erst bemerkte sie, wie einige Menschen den Weg ihrer Prozession säumten. Einige von ihnen riefen gleich dem Burschen wüste Worte zu ihr herüber. Sie nannten sie eine Hochstaplerin, eine Hexe. Zu Beginn ihrer Reise hätte sie sich diese Beleidigungen nicht gefallen lassen, auch hätte sie niemand hier wie einen Hund an der Leine durch die Straßen führen können. Sie hätte gekämpft. Für ihre Überzeugung, für ihr Ziel. Nun fehlte ihr die Kraft dafür.

 

Sie ist auf dem Schlachtfeld. Ein Pfeil steckt in ihrer Schulter, doch sie kämpft weiter. Es ist nötig. Jemand muss den Männern hier den Glauben an den Sieg schenken. Und sie sahen zu ihr auf, sahen in ihr die Erlösung des gepeinigten Landes. Das Leben dieser Männer, die Freiheit ihres Landes, all das liegt schwer auf ihren Schultern. Was war da schon ein einzelner Pfeil? Sie weiß, dass sie die Schlacht gewinnen wird. Sie hat es ihr erzählt, und ihrem Wort kann sie trauen, sie hat sie bislang nie getäuscht oder verraten.

 

Sie hob den Blick in den Himmel. Die tiefhängenden dunklen Wolken versprachen einen Regenschauer für spätere Stunden. Doch dies würde sie nicht mehr kümmern. Später war ein anderes Leben. Die Rufe der Menschen wurden lauter, die Stöße in ihren Rücken fester. Sie näherten sich dem Ziel ihres letzten Marsches, dem Marktplatz von Rouen. Dort erhob sich drohend als Zeichen der Endgültigkeit ihr Richtplatz.

 

Verrat hatte sie in die Hände ihrer Feinde gebracht. Verraten, weil sie eine hoffnungslose Schlacht nicht gewinnen konnte. Hätte ihr König sie doch nur schon früher entsandt, so hätte sie ihm den Sieg bringen können. Nun steht sie hier, zwei Fluchtversuche waren bislang gescheitert, und wurde verkauft an diesen schmutzigen Engländer, der es gewagt hatte, ihrem Land den Krieg zu bringen. Sie weiß, dass ihr Leben enden wird. Sie hat es ihr gesagt. Sie kennt ihr Ende. Sie gibt sich gefasst und sicher. Und doch fürchtet sie, was auf sie zukommt.

 

Sie hatten den Marktplatz erreicht. Der errichtete Scheiterhaufen stand bereit für das Freudenfeuer, dass die Bevölkerung von Rouen erwartete. Die Männer, die sie hierhergeführt hatten, hoben sie auf die Unmengen an geschichtetem Holz. Sie hatten nicht schwer an ihr zu tragen. Die Wochen der Gefangenschaft hatten sie ausgezehrt, sie war nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst.

 

Sie wurde geschlagen. Sie wurde gequält. Sie musste hungern. Ein Edelmann versuchte, sich an ihr zu vergehen. Ihr wurden die Kleider geraubt. Ihr Wille wurde gebrochen. Ihre Worte verpönt. Ihre Existenz belächelt.

 

Sie nahm war, wie ihr die Seile abgenommen wurden und sie stattdessen mit festen Ketten an den Scheiterhaufen gebunden wurde. Sie vernahm die Stimme des Richters, der ihr ihre Verfehlungen aufführte. Sie des Mordes, der Verbreitung des Irrglaubens und der Häresie bezichtigte. Sie vernahm den Urteilsspruch.

 

Die heilige Katharina zeigt sich. Sie verkündet, dass sie morgen einen qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen finden wird. Doch Gott ist ihr hold und sorgt dafür, dass sie nicht lange leiden wird. Sie ist besorgt und bittet die heilige Katharina, ihn in der Stunde des Endes beizustehen. Sie verbringt die Nacht in stillem Gebet, bis am Morgen die Tür zu ihrem Verlies geöffnet wird und die Männer ihr die Hände verbinden. Sie hofft, einen letzten Blick auf den blauen Himmel werfen zu können.

 

Das leise Knistern der Flammen, die sich gierig nach dem trockenen Holz ausstreckten und ihr in heißen Wellen ins Gesicht schlugen steigerte sich schnell zu einem lauten Fauchen und Ächzen und weckte sie aus ihrer Lethargie. Panik stieg in ihr auf. Warum stand sie hier? Hatte sie nicht dem Ruf der heiligen Katharina entsprechend getan, was Gott verlangte? Sie blickte gen Himmel, graue Fetzen zwischen pechschwarzen Rauchsäulen, und haderte mit ihrem Schicksal. Die Worte der heiligen Katharina lagen noch in ihren Ohren, dass das Ende schnell und ohne großes Leid kommen würde, doch dies verhalf kaum gegen ihre Panik. Sie wollte schreien, doch der dicke Qualm stieg ihr in die Lungen, nahm ihr die Stimme und trieb ihr die Tränen in die Augen. Die ersten Flammen leckten bereits an ihrem Kleid und der Schmerz glühenden Eisens brannte sich an all die Stellen, an denen die schweren Ketten ihre Flucht vor dem Feuertode vereiteln sollten. Heilige Katharina, flehte sie in Gedanken, lasst mich in dieser Stunde nicht allein zurück. Ein letzter Blick glitt über die flimmernde Hitze über den Markplatz, der nun dichtgedrängt von Menschen war, dann verlor sie durch Hitze und Rauch die Besinnung, ehe die Flammen ihren Körper verzehrten.

 

Am Nachmittag dieses trüben Maitages im Jahre 1431 löschte starker Regen das Feuer, das Jeanne d´Arc aus der irdischen Welt löste.

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