Von Christoph Klaus

Urlaub, endlich. Es ist an der Zeit, sich etwas zu gönnen. Der von ewigem Lockdown gepeinigten Seele was Gutes tun, das ist so wichtig. Wie ein scheinbar erloschener Vulkan schlummerte die Sehnsucht nach »Bella Italia«, Inbegriff von Kultur und Lebensart, tief in meinem Herzen, nur darauf wartend, diesen Anschein als Blendwerk zu entlarven und sich in einer gewaltigen Eruption über das ausgemergelte Terrain vertrösteter Hoffnung zu ergießen. Jetzt sollte es so weit sein.

Eigentlich hätte es mein Budget überstiegen, aber die Verlockung des Angebots – immerhin 30 % Nachlass – hatte meine Sinne betört und meine Geldbörse umschmeichelt. Mit Erfolg und zum Glück. Der bevorstehende Genuss würde weder mit dieser Investition noch mit jedem anderen Geld der Welt aufzuwiegen sein.

Der Tag liegt bereits in den letzten schwindenden Klängen. Im Gegensatz zur Sonne, die ihren Zenit schon vor Stunden überschritten hatte, bin ich gerade dabei, mich auf Maximalhöhe tragen zu lassen. Ich spüre die Leichtigkeit, gleich einem Vogel, den keine Schwere von Körper oder Seele an die Niederungen des Alltags fesseln kann. Die Vorfreude auf das, was gleich kommen wird, hat mich vollkommen in den Bann gezogen. In meinem Kopf kreist alles um das versprochene und fieberhaft herbeigesehnte Ereignis, dessen teilhaftig zu werden ich auserwählt bin.

In den Schleier meiner entrückten Gedanken versunken, habe ich die Augen geschlossen, vor deren geistigem Widerpart das Bild der sich anbahnenden Erbauung Kontur anzunehmen beginnt. Das monotone Summen des Gebläses, das alle von außen eindringenden Geräusche dominiert, umsäuselt meine Ohren und entfaltet eine geradezu hypnotische Wirkung. Ich muss mich zwingen, dem Drang, das Bewusstsein in höhere Sphären entfliehen zu lassen, zu widerstehen. Ich öffne die Lider und mein Blick fällt durch das Fenster der kleinen Maschine auf den Fluchtpunkt all meines Sehnens, der von einem mystischen goldgelben Schein umspielt wird:

»Vesuvio«, so sagen die Italiener dazu, und bereits dieses Wort, das in keiner anderen Sprache ein höheres Maß an Verführung zu versprühen vermag, stimuliert meine Haare bis in deren Spitzen. Jetzt, beinahe zum Greifen nah, ermangelt es mir an Worten, dieses Gefühl zu beschreiben. Nur eine dünne Glasscheibe trennt mich von der jenseitigen Welt und ihrer lebensfeindlichen Unwirtlichkeit, von der eine geradezu morbide Faszination ausgeht. Man möchte die Hand danach ausstrecken, wohl wissend, welche unangenehmen Folgen das haben würde.

Das Flimmern der heißen Luft, die sich über dem hitzeschwangeren Untergrund aufstaut, taucht die Szenerie in die Irrealität einer Fata Morgana; eine brüchige Nahtstelle an der Grenze zwischen Traum und Fiktion, die einem die abschließende Erkenntnis verwehrt, auf welcher Seite der Realität man sich gerade befindet. Schwaden wabernden Dampfes ziehen vorüber und trüben die objektive visuelle Wahrnehmung, jedoch außerstande, beim Betrachter jene innere Vision der Vollkommenheit zu unterbinden, welche dem Moment innewohnt. Meine Augen suchen nach einem Fixpunkt inmitten der Kraterlandschaft dort unten, sind aber zunächst der Verwirrung erlegen, die das urwüchsige Chaos der Elemente auf dem von gnadenlosem Wärmeeintrag gezeichneten Boden verströmt. Sie wandern von der nahezu perfekten Rundung des aufragenden Randes hinab in den brodelnden Grund, der zusehends seine einstmals determinierte Struktur verliert. Immer wieder erheben sich Blasen aus der Tiefe des dahinschmelzenden Seins an dessen Oberfläche, die dem Freiheitsdrang des emporstrebenden Gases für eine nur unbedeutende Zeitspanne merklichen Widerstand entgegenzusetzen weiß. Ein kurzes Aufwölben, dann sind Wille und Struktur gebrochen, die aufsteigenden Zeugen des um sich greifenden Infernos unter dem Deckel stetig zunehmender Zähflüssigkeit zu binden. Organisches Material diversen Ursprungs, das ohne eigenes Zutun in diesen Glutkessel geraten und den hier herrschenden physikalischen Bedingungen zu widerstehen eigentlich nicht geschaffen ist, ergeht sich in verzweifeltem Trotz, seine ursprünglich wohle Gestalt zu bewahren. Vergebens. Alles, was vom heißen Atem der Hölle berührt wird, windet sich unwillkürlich in Richtung des eigenen Schicksals und beginnt – nun umso mehr dieser zerstörerischen Macht ausgesetzt –, die Schwärze jenes Stoffes anzunehmen, aus dem es vor Zeiten geboren worden war. 

Für einen Moment entreiße ich mich dieser Kontemplation und richte meine Konzentration auf ein Display rotleuchtender Ziffern, das nach einem mir unbekannten technischen Prinzip die Temperatur bestimmt, die in jenem Backofen zu meinen Füßen herrscht. Sie bestätigt mir, dass ich mich trotz der magischen Anziehungskraft, die von dem Schauspiel ausgeht, auf der richtigen Seite der wenn auch labilen Trennwand befinde, deren nur scheinbar beklagenswerte Hinderlichkeit von ihrer schützenden Wirkung in essenzieller Weise übertroffen wird. In einer Welt, die jeglicher biologischen Existenz abträglich ist, hört dem darauf begründeten Wesen der Spaß auf, noch ehe er beginnt. Dessen muss man sich bewusst sein, anderenfalls könnte sich der finale Kulminationspunkt einer solchen Berauschung der Sinne in purem Schmerz auflösen.

Die Uhr läuft mit erbarmungsloser Präzision und erinnert mich daran, dass keine Freude auf ewig währt. Beruhigen kann mich nur der Umstand, dass der eigentliche Leckerbissen noch auf mich wartet, wenn dieses Intermezzo hier der Vergänglichkeit anheimgefallen sein wird. Ich zähle die letzten Sekunden herunter. Dann macht es »piep«.

Die Pizza ist fertig.

 

(Tipp für alle Lockdown-Geschädigten: Tiefkühlpizza »Vesuvio« mit scharfer Salami, Chilischoten, Paprika, Oliven und Zwiebel, Einzelhandelspreis EUR 5,69, im Sonderangebot EUR 3,99. Weckt die Lebensgeister. Guten Appetit!)

 

V1