Von Helmut Blepp

Seine Familie zog in eine Wohnung im Nachbarhaus. Er kam zu mir in die Klasse, sein Platz war neben meinem in der letzten Reihe. So wurden wir fast zwangsläufig Freunde: er, der dicke Charly mit dem fränkischen Akzent, und ich, der kleine Schmächtige mit der rachitischen Brust. Wir waren „Dick und Doof“ auf dem Schulhof, bei den Turnstunden die letzten, die in die Völkerballmannschaften gewählt wurden, von den Jungs bei jeder Gelegenheit herumgeschubst und gehänselt, während die Mädchen dazu kicherten. Wir hielten das zusammen aus. Nach Unterrichtsschluss nahmen wir auf dem Heimweg Charlys kleinen Bruder Fritzchen in die Mitte, der den Jahrgang unter uns besuchte, und singend und blödelnd gingen wir zurück in unser Armeleuteviertel. 

Ich hatte nicht viele Pflichten zu Hause. Nach Erledigung der Hausaufgaben hielt mich nichts mehr in der Enge unserer Wohnung. Ich musste einfach los, um zu schauen, was die anderen Kinder trieben. Aber ich hatte nicht immer Lust auf Fußball oder Trapperspiele. Deshalb schloss ich mich öfter Charly und Fritzchen an, die nachmittags meist von ihrem Vater mit Arbeit eingedeckt wurden. 

Bald half ich ihnen, im Frühling und im Sommer den Schrebergarten der Familie zu bewirtschafteten. Wir pflanzten Salat und Tomaten, legten Gemüsebeete an, schnitten die Obstbäume und schleppten die Ernten heim. Was die Familie nicht verbrauchte, verhökerte der Alte in der Eckkneipe und finanzierte seine berüchtigten Besäufnisse mit dem Ertrag. 

Nicht anders war es im Herbst. Da sammelten wir drei säckeweise Tannenzapfen im nahen Wald oder gingen in die Keller der älteren Nachbarn, um Holz zu hacken. Was wir verdienten, versoff der Alte. 

Schlimm war es im Winter. Die Brüder wurden dann zum Kiesloch geschickt, dessen Bagger wegen der Kälte stillgelegt worden war. Auf den noch nicht gesiebten Halden, deren Oberflächen gefroren waren, mussten sie dann nach Metall wühlen. „Guss graben“ nannte ihr Vater das. „Guss“ war alles, was sich beim Händler zu Geld machen ließ: alte Gerätebolzen, Draht, Fahrradrahmen, marode Teile des Baggers selbst und natürlich die Reste von Armeewaffen, die bei Kriegsende hier versenkt worden waren, als die Alliierten anrückten. 

Im zweiten Jahr unserer Freundschaft war der Winter ein besonders harter. Eines Tages zogen wir wieder mit der alten Deichselkarre los. Charly war sehr nervös und plapperte unentwegt irgendwelchen Unsinn von Fleiß, der seinen Preis habe. Fritzchen dagegen blieb merkwürdig stumm. Vor dem niedergetrampelten Zaun zum Kieswerk wurde es mir schließlich zu dumm.

„Was ist denn heute los mit euch? Ist etwas passiert?“ 

Fritzchen schaute seinen großen Bruder an, der stur auf den Boden starrte. 

„Der Alte schlägt ihn“, brach es dann aus dem Kleinen heraus., „immer ihn. Und wenn die Karre heute nicht voll wird, schlägt er ihn tot. Das hat er gesagt.“ 

„Quatsch! Ihr wollt mich auf den Arm nehmen.“ 

„Zeig´s ihm“, schrie Fritzchen jetzt. „Er ist unser Freund, also zeig´s ihm!“ 

Verschämt öffnete Charly nun seine Jacke. Er drehte sich um und zog seinen dicken Pullover hoch. Sein Rücken war voller Striemen, die Haut von getrocknetem Blut verkrustet. 

Mir wurde speiübel. Noch nie hatte ich etwas so Schreckliches gesehen. Ich war völlig überfordert mit dieser Situation. Beide weinten jetzt. Auch mir lief der Rotz aus der Nase. Wut und Ohnmacht pressten mir die Brust zusammen. 

„Los jetzt“, entschied ich, ohne nachzudenken. „Wir müssen das hinkriegen, bevor es dunkel wird.“ 

Und wir kriegten es hin. Unsere Finger waren steif, die Nägel eingerissen. Aber als der Abend dämmerte, zogen und schoben wir das wackelige, bis oben hin beladene Gefährt nach Hause. Charlie schnaufte bei jedem Schritt. Fritzchen weinte, denn seine Hände brannten vor Schmerz. 

Der Alte begutachtete die Karre erst am nächsten Tag. Noch verkatert von der Zechtour am Vorabend bugsierte er das Gefährt zum Schrotthändler. Charlie kam dieses Mal ohne Prügel davon, aber Fritzchen fieberte und musste ins Krankenhaus. Um seine Hand vor dem Brand zu retten, wurde ihm der kleine und der Ringfinger amputiert. 

Wochen später, an einem Sonntag, verabredete ich mich mit den Brüdern zum Drachensteigenlassen auf den Stoppeläckern vorm Rheindamm. Aber als ich morgens aufwachte, hatte es kräftig geschneit, so dass ich den Drachen im Schuppen ließ. An unserem Treffpunkt waren schon viele Kinder zugange. Charly war mit dem Bau eines Schneemanns beschäftigt. Fritzchen hatte nicht mitkommen wollen. Seine Hand war immer noch bandagiert, und er hatte in letzter Zeit wenig Lust zum Spielen. 

Zu zweit war unser Werk schnell geschafft, drei dreckig weiße Kugeln aufeinandergestellt, nur mit viel Phantasie als menschliche Gestalt erkennbar. Wir allerdings waren zufrieden mit dem Ergebnis und schauten uns nach einer anderen Beschäftigung um. Ein Stück weiter, auf dem Nachbarfeld, schien einiges los zu sein. Eine ganze Gruppe von Kindern hatte sich da versammelt. Es gab viel Gelächter und Geschrei. Neugierig stapften wir durch den hohen Schnee, um nachzuschauen, was für so viel Spaß sorgte. Ein kleiner rotbäckiger Junge, der ganz aufgeregt war, erklärte uns das Spiel. In den Ackerfurchen waren tiefe Schneewehen, und es ging darum, mit einem Bauchklatscher die tiefste Kuhle in den Neuschnee zu machen. Mein dicker Freund war sofort Feuer und Flamme. Er wollte unbedingt der Nächste sein. Schnell suchte er sich eine unberührte zugeschneite Stelle. Alle beobachteten gespannt, wie er nun einige Schritte zurückging, um Anlauf zu nehmen. 

„Na, los, Dicker, schrien sie. „Mach schon!“

Charly lief los, und er hätte bestimmt gewonnen. Doch, vergessen im Herbst, begraben vom Schnee lag diese Sichel auf Nabelhöhe.

 

Neulich traf ich nach langer Zeit wieder einmal Fritzchen, ausgerechnet am Kiesloch, das längst zum Badesee geworden ist. Es war im Januar. Die Wasserfläche war zugefroren. Kinder vergnügten sich auf Schlittschuhen. 

Fritzchen, im Lauf der Jahre zu einem großen stämmigen Mann geworden, kam freudestrahlend auf mich zu. Er streckte mir die Rechte mit den drei Fingern entgegen, und ich drückte sie herzlich. Er sei jetzt verheiratet, erzählte er, und Vater der kleinen Charlotte, wobei er stolz auf ein kleines Mädchen zeigte, das sich gerade unbeholfen an einer Pirouette versuchte und auf dem Hintern landete. Es begann zu weinen. Da verabschiedete er sich schnell. Schon auf dem Weg zu ihr, drehte er sich noch einmal um und rief lachend: „Übrigens, der Alte ist tot!“ 

Gut so, dachte ich, als ich ihm hinterher sah, denn er lachte wie ein Sieger und ging sicher übers Eis.