Von Anni Spreemann

Ich suche meinen dunkelbraunen Stift. Er ist weder in der Federtasche noch auf dem Schreibtisch. Dabei will ich Charlie malen. Chaplin ist schon fertig. Sein weißes Fell ist einfach, da brauche ich nicht so viele Farben. Nur blau für die Augen und rosa für die Löffelohren. Charlie ist da schwieriger. Sein Fell besteht aus lauter Brauntönen. Hell, dunkel, grau und in der Sonne schimmert er rötlich. Ich krabble unter den Tisch. Auf dem braunen Boden ist der Buntstift schwer zu finden. Außerdem habe ich ihn so oft benutzt, dass er ganz kurz geworden ist. Mit meinen Händen fahre ich über die kühle Fläche und entdecke einen roten Stift. Er ist zwischen dem Boden und der Scheuerleiste eingeklemmt. Wahrscheinlich hat Natalja ihn beim Staubsaugen dort reingeschoben. Seit sie hier wohnt, putzt sie jeden Tag. Sie kocht auch. Lauter Sachen, die ich nicht kenne und die komisch klingen. Wie Borschtsch. Die rote Suppe schmeckt eklig. Rote Dinge sind doof. Ich hätte niemals wie Schneewittchen die rote Hälfte vom Apfel gegessen.

Selbst in Mathe bei den Ausmalbildern brauche ich ihn nicht. Meine Lehrerin hat mir erlaubt statt Rot, Orange zu benutzen. Mama wird böse sein, wenn er nicht ordentlich in der Federtasche ist. Ich habe ihn schon mal in den Müll geworfen. Mama hat ihn gefunden und hat geschimpft. „Du kannst doch keine Farbe aussortieren. Wie sähe denn der Regenbogen ohne Rot aus?“

Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich das gut fände. Schließlich ist Mama Ärztin. Da sieht man jeden Tag Blut und muss die Farbe mögen, sonst würde ihr der Beruf keinen Spaß machen. Dann würde sie denken: „Schon wieder diese blöde Farbe“ und sich ärgern. Papa mag Rot, weil sein Laden eine rote Schrift hat. Das ist der Grund, warum Mama und Papa sich gut verstehen. Beide mögen Rot.

Natalja macht Rot traurig. „Zu oft gesehen“, hat sie mir erzählt und dabei seltsam geblinzelt. Das tut man, wenn man nicht weinen will. Ich weiß das, weil mir das auch schon passiert ist, als meine Eiskugel von der Waffel rutschte. Meine Augen brannten, als würde man beim Grillen im Rauch stehen. Damit die Tränen nicht rauskommen, habe ich sie schnell weggeblinzelt. Mama hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben und mir eine neue Kugel gekauft. Weil ich kein Eis für Natalja hatte, habe ich ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Doch das hat nichts genützt. Bei ihr sind trotzdem ganz viele Tränen über ihr Gesicht gekullert. Mama und Papa haben sie gedrückt und gesagt, das ist okay. Ich habe vorgeschlagen, dass wir Eis einkaufen, aber keiner hat auf mich gehört. Manchmal höre ich Natalja abends weinen. Wahrscheinlich ist sie auch traurig, dass Mama und Papa noch kein Eis eingekauft haben.

Ich gehe zur Küche, um nach dem Buntstift zu suchen. Schließlich soll ich für die Schule ein Plakat über mein Lieblingstier malen. Natürlich habe ich mir Charlie und Chaplin ausgesucht. In meiner Klasse gibt es auch einen Charlie. Charlie Brückner. Er ist mein bester Freund. Er mag Fische. Wir spielen gerne, dass wir in der Unterwasserwelt gegen Bösewichter kämpfen und hilflose Tiere retten. Außerdem trägt er coole Lederarmbänder und hat lange Haare. Tom hat ihn deshalb geärgert. Doch Charlie hat ihm erklärt, dass Aquaman auch solche Haare hat.

In der Küche zischt es und es riecht nach Butter. Bestimmt macht Natalja wieder Wereniki. Das Wort habe ich von Natalja gelernt. Doch bei ihr klingt es viel lustiger, wenn sie es sagt. Mein Stift kann ich nirgendwo finden. „Abendbrot fertig“, sagt sie mir und stellt die Pfanne auf den Tisch. Da sich mein Bauch leer anfühlt, beschließe ich, später weiter zu suchen.

„Ich bringe Charlie und Chaplin in den Garten“, sage ich. Zum Spielen hole ich die Hasen gerne in mein Zimmer, aber Mama ist gegen die Haare allergisch und deshalb müssen sie nachts draußen schlafen. „Geh Hände waschen. Ich mache“, sagt Natalja, wischt sich ihre Finger an der Schürze ab und schlurft davon. Ich beobachte, wie Natalia die Hasen am Nacken packt. Zuerst hatte ich Angst, dass es Charlie und Chaplin weh tut, aber Mama hat erklärt, dass alle Tiere ihre Kinder so tragen, weil sie keine Hände haben. Als Natalja vor drei Monaten hier angekommen ist, hatte sie gedacht, wir wollen die beiden essen. „Hasen lecker“, hat sie gesagt und Mama hat ihr erklärt, dass wir einmal in der Woche Fleisch essen, aber keine Hasen. Natalja sieht, wie ich sie anstarre. „Hände waschen“, sagt sie und ich renne ins Bad. Ich singe schnell drei Mal „Happee Börthday to yuu“ und setze mich an den Tisch.

Die gefüllten Nudeln erinnern an Halbmonde. Ich schiebe meine Hände unter den Po. Ein Trick, damit ich das Warten aushalte. Man darf nicht einfach mit dem Essen anfangen, wenn die Erwachsenen nicht am Tisch sind. „Hallo“, höre ich Mamas Stimme aus dem Garten. „Da bin ich genau zur rechten Zeit gekommen“, lacht sie und erscheint auf der Veranda. „Schöner Tag?“, fragt Natalja und beide laufen zum Küchentisch. Sie sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Sie spricht schnell und Mama langsam. Da ich endlich essen darf, ist es mir egal. Erst als mein Teller leer ist, fällt mir meine Suche ein. „Mama? Weißt du, wo mein brauner Stift ist? Ich muss das Plakat für morgen fertig machen?“

„Morgen?“

„Ja, ich soll einen Vortrag halten.“

„Spätzchen, das kann gar nicht stimmen, morgen ist doch Wochenende.“

Ich schüttle den Kopf. „Dann wäre ich heute beim Fußball gewesen.“

Meine Mama sieht zu Natalja. „Habe vergessen“, ruft sie und schlägt die Hände über den Kopf. Mama klopft ihr auf die Schultern. „Nicht so schlimm.“ Da bin ich anderer Meinung und will es auch sagen, aber Mamas Handy klingelt. Sie schaut rauf. „Das ist Charlies Mama“, sagt sie. „Kann ich morgen mit Charlie spielen?“, frage ich.

Mama hebt die Hand, damit ich leise bin. Natalja steht auf und räumt den Tisch ab. Mama und Papa fanden es zuerst nicht gut, dass Natalja so viel macht. Schließlich ist sie ein Gast. Doch Natalja hat weitergemacht und Mama und Papa haben irgendwann aufgehört, etwas zu sagen. Ich nehme meinen Teller und stelle ihn in den Geschirrspüler. Der saubere Teller für Papa bleibt auf dem Tisch. Natalja geht in ihr Zimmer. Mama macht ein ernstes Gesicht. Ich verschränke die Arme und warte. Wenn sie schon mein Fußball vergessen hat, will ich wenigstens mit Charlie spielen. „Wie ist das gemeint? Wie wollt ihr euch von Charlie verabschieden?“, fragt Mama und schaut zu mir. „Ihr meint, wie bei einer Beerdigung?“, fragt sie und runzelt die Stirn.

Das Wort kenne ich. Als Opa gestorben ist, gab es eine Beerdigung. Meine Beine werden weich und ich wünschte, jemand würde mich, wie die Hasen am Nacken packen, damit ich nicht umfalle.

„Ich rufe gleich zurück.“ Mama springt auf und fängt mich auf. Ich zittere. „Es ist alles gut“, flüstert sie und streichelt mir über die Stirn. Der Boden unter mir ist hart. Mamas Körper ist warm und kuschlig.

„Ist Charlie was passiert?“ Meine Stimme klingt merkwürdig. Irgendwie dünn. Meine Augen brennen und ich blinzle.

„Es geht ihm gut, mein Spatz.“

„Aber du hast Beerdigung gesagt!“

Mein Blick verschwimmt und Mama streichelt mir über das Gesicht. „Spätzchen. Das ist nicht so leicht zu erklären. Seine Mama hat mir erzählt, dass Charlie nicht mehr Charlie genannt werden will. Sein neuer Name – ich meine Ihr. Ihr neuer Name ist Lena.“

„Aber ist Lena nicht ein Name für Mädchen?“, frage ich verwundert und stelle mir Aquaman im Rock vor.

Mama nickt. „Dein Freund möchte lieber ein Mädchen sein.“

Ich bin nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe.

„Charlie ist jetzt ein Mädchen?“

„So schnell geht das nicht. Lena hat einen langen Weg vor sich und wir können ihm- ihr- dabei helfen, indem wir Charlie jetzt Lena nennen. Wir machen eine kleine Feier, in der wir uns von Charlie verabschieden und Lena begrüßen.“

Ich denke an die neue Lena mit ihren langen Haaren und den Lederarmbändern.

„Dann kann ich morgen mit ihr spielen?“

Mama lacht. „Genau.“

Sie schaut an mir vorbei und streckt die Hand aus.

„Schau mal, was hier unter dem Tisch liegt.“ Sie reicht mir den braunen Buntstift und wir stehen auf. Ob Lena beim Spielen Aquawoman sein will? Mera mit den roten Haaren.

„Bekommt Lena jetzt rote Haare?“, will ich von Mama wissen.

„Wie kommst du darauf?“

„Na, wenn sie Aquawoman ist?“, erkläre ich und finde die Farbe Rot gar nicht mehr doof.

Mama gibt mir einen Nasenstupser. „Vielleicht. Du kannst sie morgen fragen. Willst du dein Plakat zu Ende zeichnen?“

„Nein, zuerst male ich ein Bild für Lena. Einen Regenbogen mit ganz viel Rot, damit sie weiß, dass es okay ist, wenn sie rote Haare hat.“

Natalja kommt in die Küche und plötzlich habe ich eine Idee. Ich werde ihr auch ein Bild malen. Ein Bild mit lauter roten Gegenständen, wie Kirschen, Erdbeeren, Rosen, Paprika, Tomaten, Marienkäfer und in der Mitte schwebt Aquawoman. Dann weiß Natalja, dass es viele schöne Dinge auf der Welt gibt, die rot sind.

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