Von Maria Lehner

In der üblicherweise ruhigen Gegend ist heute nichts wie sonst. Leute sehen vom Hof zum offenen Fenster hinauf. Gepolter. Schreie. Immer wieder eine besänftigende Männerstimme: „Bitte beruhige dich!“ Dazwischen hört man Hiebe. Dann wieder kreischt eine Frau: „Es reicht!“

Das entsetzt die Nachbarn. Umso mehr, als aus dieser Wohnung bisher nur Musik in Zimmerlautstärke oder Lachen gedrungen waren. Die blaublühende Clematis schlängelt sich am Balkongeländer entlang wie die Tage zuvor. Aber genau über dem Haus scheint eine dicke dunkle Wolke zu stehen. Kein Vogellaut ist zu hören. 

Etwas geht kaputt. In der Wohnung drischt jemand auf die Einrichtung ein. Aber auch für die Nachbarn ist ein Traum zerbrochen. Der Traum vom ehrenwerten Haus, in dem nur „bessere“ Leute wohnen. Das Haus, in dem es nie ein lautes Wort, zu keiner Zeit Streit und schon gar keine Gewalt gibt. So etwas kennt man nur aus Doku-Soaps über die sogenannte „Unterschicht“, wie sie einem die Regisseure vorsetzen: Alkoholkranke Frauen, arbeitslose Familienväter im Feinripp-Unterhemd, apathische Kinder. Dann schaudert man kurz und seufzt: „Leute gibt´s!“ oder „Die armen Kinder. Sie haben keine Chance“. Zufrieden darüber, dass man selbst nicht zu solchen Leuten gehört, knabbert man weiter am Schokoladenkeks zum Espresso, schüttelt den Kopf und zappt weiter – das Leben ist wieder in Ordnung und das Böse weit weg. Fernab von dieser Siedlung. Und nun das!

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„Sollen wir eingreifen, sollen wir uns Sorgen machen? Schließlich ist man als Nachbar auch moralisch verpflichtet“, sagt einer und ein anderer schlägt vor, einfach an der Türe zu klingeln. Sie tun es. Sofort ebben die Schreie ab und die Schläge hören auf. Ein Kind öffnet scheu. 

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„Ist etwas passiert bei euch zu Hause?“ Das Kind druckst herum: „Nein. Es ist nur grade schwierig“. 

Ein Nachbar fragt: „Ist jemand verletzt?“ „Beide. Mami und Papi“, sagt das Kind, dann wird es hastig von innen in die Wohnung gezogen und die Tür wird verschlossen. 

Kurz darauf: Ein gellender Schmerzensschrei der Frau. Ein Wutschrei des Mannes und ein Triumphschrei der Frau_ „Es reicht! Nimm das!“ (Krach, sprnnk.) „Und das!“ Die Stimme der Frau scheint zu kippen.

Das Kind hört man flehen: „Mama, bitte nicht!“

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Ein Auto hält, eine ältere Frau steigt aus. Sie sieht, als sie den Lärm hört, seufzend nach oben. 

„Kommen Sie zu Besuch?“, fragt einer der Nachbarn. „Ich glaub, das ist ungünstig. Dicke Luft sozusagen. Verstehen Sie uns nicht falsch, aber wir machen uns Sorgen“. 

„Zu Recht!“, stößt die Frau hervor, „Ich bin auch alarmiert nach dem Anruf meiner Enkeltochter. Ihre Mutter war schon als Kind so. Was haben wir geredet, insistiert, gestraft …“. 

„Sie meinen, es gab schon öfter…“, aber die Frau ist schon ins Haus geschlüpft, offensichtlich hat sie einen Schlüssel – und Erfahrung.

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Ein paar Minuten später ist es ruhig. Die Mutter der Frau hat es vielleicht geschafft. Was muss sie schon alles mitgemacht haben! Und der Mann, das Kind! 

Doch es geht wieder los: „Nein!“, wieder hört man die junge Frau, „ich beruhige mich nicht! Da hast du!“ Die Stimme des Mannes, beinahe tonlos: „Es ist schon egal. Schlag nur zu.“

„Hör auf, vielleicht gibt´s noch Hoffnung!“, beruhigend, so wie wenn man ein Kleinkind wiegt, kommen die Worte der Frau, die gerade ins Haus gegangen ist, aber offenbar bewirkt sie das Gegenteil. 

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„Das ist für das geschönte Bild! Scheißdreck!“ So ein Wort? Vor dem Kind? Was ist schlimmer: die unflätige Sprache oder die Gewaltanwendung? Ja jetzt ist es wie bei diesen Filmchen, bei denen angeblich das Leben das Drehbuch schreibt.

„Und das“, ein weiterer Hieb ist zu hören, „ist dafür, dass ich mich in dem blöden Laden duzen lassen musste!“ Ist sie so ein Heißsporn? Was kann der Mann dafür? Den hört man nur mehr im Hintergrund stöhnen und jammern: „Aus und vorbei!“

„Und hier!“ wieder kracht es „das ist für die Bauanleitung in der stand fon Kunststoffrecycling zur Sperrholzentsorgen. Nimm das, du Arsch für die fehlenden Montageteile“. Ein nächster Hieb: „Missgeburt eines Technikerhirns! Und das ist für die Strafe wegen Schnellfahrens beim dritten Weg zum Möbelhaus.“ 

Nun aber, die Stimme des Mannes, als sei eine große Last von ihm abgefallen: „Überteuerter primitiver Hühnerstall mit schwedischem Namen, jetzt gibt’s was auf den Deckel!“ (diesmal hört man ein Geräusch, als ob ein großer Holzteil bersten würde). „Und das ist für die eingequetschte Zehe, die du mir beschert hast“. 

Jetzt wieder die Frau „Und das auch noch, du Kieferholzsarg unseres Ehefriedens, dafür, dass wir uns deinetwegen gestritten und uns gegenseitig angeschrien haben“. „Und uns raue Namen füreinander haben einfallen lassen“, der Mann sagt es schon fast lachend. 

Vier Leute, drei Erwachsene und ein Kind gehen ein paar Mal die Treppe runter und bringen die kleine und größere Einzelteile weg. „Da bleibt eine Leerstelle, ich schwör´s dir,“ hört man die Frau sagen. Der Mann schweigt. Die Großmutter seufzt. Das Kind wirkt müde, aber entspannt.

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Die Versammlung der Nachbarn löst sich auf. Man wird die Familie im Auge behalten. Es ist wieder ruhig, immerhin. Der Mann humpelt wegen der gequetschten Zehe. 

Zwei Dinge passieren anschließend, über die – zumindest die drei Erwachsenen – nicht so recht lachen können: Schäden am Parkett werden sichtbar. Und das Kind kommt: „Mama, Papa: ich habe diese Übersetzungsapp. Der Produktname ist doch schwedisch, nicht? Schau!“ Gespielt unschuldig sagt das Kind: „Djävulsgrejer: Teufelszeug“.

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Die Amsel zwitschert wieder. Die Clematis reckt sich nach der Abendsonne. Im Müllraum verspricht ein handgeschriebener Zettel: „Sperrmüll nur zwischengelagert. Wird morgen entsorgt.“

Als einer der Nachbarn später vorbeigeht, dringen aus der Wohnung die vertrauten Geräusche: Leise Musik und Geschirrklappern. Da das Fenster noch offen ist, hört er die Frau sagen: „Nein, Kastenmörderin nennt ihr mich nicht! Es war Notwehr! Ich habe nur zurückgeschlagen“. 

Version 2