Von Lauretta Hickman

 

Wo genau wohl die Grenze zwischen Hingabe und Aufopferung liegt?
Um die Familie zu retten, würden Kinder ihr Leben geben. Das halte ich für Hingabe.
Vielleicht, weil sie noch so nah an Gott wohnen, dass dieser dreidimensionale Reifespielplatz für Erwachsene für sie durchsichtiger ist. Noch nicht so real.

In jedem Fall basiert das eine auf Liebe, das andere auf Wertlosigkeit.
Das eine hat mich gerettet. Das andere fast getötet.

Mit der Fernbedienung stelle ich den Ton leise, so wie die Aufnahmeleiterin es mir vorhin gezeigt hat. Ich will die Viertelstunde, bevor sie mich holen, in Stille genießen.
Seltsamerweise bin ich nicht aufgeregt. Studio, Kameras, Leute im Zuschauerraum – und kein Lampenfieber. Eher ruhige Vorfreude, ohne Ehrgeiz. Oder Erwartung. Ich glaube, ich mag Ereignissen mit „Peak“-Qualität, egal, ob Drama oder Jubel, nicht mehr erlauben, die klare See meines inneren Friedens aufzuwühlen. Zu kostbar. Zu hart errungen.

Wer hätte auch gedacht, dass mein Buch: „Dem Leben entgegen sterben – mein Tanz mit dem Tod in die Freiheit“ so einschlägt. Beziehungsweise die Geschichte dahinter. Meine Geschichte. Kommt mir gerade etwas unwirklich vor.

Wie wohl meine Mutter die Sendung aufnimmt? Falls sie sie überhaupt sieht.
Na, die loyalitätsverpakteten Kontakte aus Familie und Freundeskreis werden ihr das sicher zuspielen.

Der Raum hier ist angenehm und ästhetisch. Hell, verschiedene Sitzgelegenheiten, unter anderem das rote Sofa, auf dem ich sitze. Schalldichte Fensterfront. Der Fernseher, natürlich. Unaufdringliche, moderne Kunst an der Wand. Ein Tisch, vier Stühle darum herum. Zitrusduft. Hohe Topfpflanzen.

Die eigene Mutter aus dem Leben zu werfen, ist tabu. Aber sie war doch auch traumatisiert. JA! Und es ist ein Unterschied, ob ich mein Trauma auf Menschen blute, die mich lieben oder abhängig von mir sind und es nicht verursacht haben. Oder ob ich verdammt noch mal den Mut habe, mich den eigenen Schmerzen zu stellen, um es eben nicht weiterzugeben. Das! ist eine bewusste Wahl.

So oft habe ich mir das vorgesagt und es richtig gefunden – der altbekannte Stress war dennoch da.

Vertraut, eben: ich betreibe Selbstfürsorge, schaffe Raum für Heilung, indem ich mich dem giftigen Einfluss entziehe – gesund und positiv. Mache es also richtig. Aber ich bin böse, weil ich meiner armen Mutter den Kontakt verweigere. Mache es also falsch.

Immer: Zuerst wird mir die Wunde geschlagen. Und dann ist die Wunde ein aggressiver Angriff auf die Umgebung.

Ich stoppe die Gedanken, bevor sie alte Gefühle lostreten können, gehe zum Kaffeeautomaten und lasse mir einen mittelgroßen Sojalatte heraus. Dazu nehme ich mir eine Banane vom Tisch.
Großzügig sind sie hier. Das muss man ihnen lassen.

„Sie ekelt mich an, wie sie da fett und weiß in der Badewanne liegt.“
Oh? Ein Flashbackhighlight.
Eines, das es auf den Punkt bringt. Mit dem beeindruckenden Gestus „tief verletzte Majestät“ überreichst du mir den Kommentar deines zweiten Ehemannes, den ich nicht Stiefvater nennen mag: Deutschlands liebster Fernsehpapi – zuhause Schlagen, Schreien, Unberechenbarkeit, täglich.

Von heute aus betrachtet, beinhaltet dieser Satz so viel Merkwürdiges, dass ich gar nicht weiß, wo anfangen.

16 Jahre war ich alt und der plötzlich einsetzenden Fresssucht ausgeliefert. In einem Jahr 20 Kilo zugenommen. Alptraum. Dafür wurde ich fertig gemacht. Problemkind, disziplinlos. Eine Zumutung. Peinlicher Schamfleck der semiprominenten Familie. Als wäre alles intrinsisch und hätte nichts, aber auch absolut gar nichts mit der Umgebung zu tun.

Vorsichtig, mit spitzem Mund beiße ich ein Stück Banane ab. Das Make-up…

Heilen ist Kröpfchen-und-Töpfchen-Millimeter-Arbeit, in scheinbar endlosen, mühsamen Wiederholungen. Eigentlich sind es Spiralen in die Innentiefe. Bis zur Essenz. Bis dann und von wo aus endlich klar ist, was Traumaanpassung war (und nicht „ich“), Rebellion gegen die Anpassung (auch nicht ich), Triggervermeidung (ebenfalls nicht ich) oder unwillkürliche Wiederholung von Beziehungsmustern aus Sicherheitsbedürfnis, weil sie, obwohl zutiefst selbstschädigend, wenigstens vertraut sind (Ganz und gar nicht ich. Nicht mehr.).

Und es sind Ringe: von innen nach außen, von subjektiv nach objektiv. Hier: Versagen, eine Last, mich schwer und schlecht fühlen; alleine verantwortlich für das, dem ich ausgeliefert bin. Verzicht auf Liebe und Bedürfnisse, da sichtlich unverdient. Amorphes Leiden.

Zu: Das war falsch. Das war nicht in Ordnung. Vielleicht lag es ja gar nicht an mir?
Zunächst nur als Gedanke. Kopf. Nicht Körper. Noch nicht im Gefühl.

Dieser Sojalatte schmeckt großartig. Besser als bei Starbucks. Auch ihn genieße ich mit spitzem Mund. Mit dem Make-up fühle ich mich fast wie tapeziert. Bin das gar nicht mehr gewohnt.

Als er das letzte Mal zuschlug, war ich 14. So, dass ich Nasenbluten bekam. Ich bin zum ersten Mal ausgerastet: „Wenn du mich noch einmal schlägst, bin ich weg. Und zeig dich an.“
Du warst mit im Zimmer, hast genäht.
Alles, was du sagtest, war: „Müsst ihr denn so schreien?“

Ich misch mich nicht ein war dein Synonym für: Meine leuchtende, intelligente Tochter ist ein Angriff des Lebens auf mich. Nutze sie also gerne als Blitzableiter. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Klar war ich wütend. Lange. Und depressiv. Es war Unrecht, ungerecht.
Gehasst habe ich dich nur nie. Dazu war mein Wunsch nach Verbindung mit dir zu stark. Begleitet vom Schmerz der Vergeblichkeit.

Aber ich hab gemerkt – meine Wut nährt dich, sogar aus der Distanz. Und sie bindet mich. Wie mein Sehnen, endlich die Wahrheit sagen, Dinge zwischen uns geraderücken, unsere Beziehung aktualisieren zu können. Beides erhält deine Macht. Und meine Abhängigkeit.

Himmel, es begann ja auch so früh. Wer, bitte, reibt seinem Kind ständig rein: „Ich wollte dich ja abtreiben. Aber, ich lag auf dem Tisch, der Arzt hatte die Curette schon bereitgelegt, da hab ich mich anders entschieden. Und weißt du was? Danach habe ich uns mit einem Schwarzwälder Kirschbecher gefeiert.“ „Uns“. In heiter-charmantem Partyton. Was soll ich auf sowas sagen? Wer will das wissen, als Kind?

Heute ist mir natürlich klar: „Meine Macht über dein Leben“. Und: „Du kannst froh sein, dass….“

Ich stehe auf, werfe Bananenschale und Kaffeebecher in den Abfall. Sehe aus dem Fenster. Studiogelände. Mir zu viel Betrieb, gerade. Also zurück aufs Sofa. Fünf Minuten noch.

Du, meine Mutter, kamst über mich wie ein radioaktiver Tornado, eine Art Natur-GAU. Und auch wenn ich das als kleines Kind angenommen habe, weil es mir winzige Kontrolle über eine grausame Situation zu geben schien: Es war nicht meine Schuld. Ich hab das auch nicht „verdient“.

Ab da erst war Trauer möglich.

Die auch nur mir und meinem Erleben galt, nicht mehr dich involviert hat. Ich war raus aus der Fusion, diesem grenzzerschmelzenden Liebe-Schmerz-Mischmasch. Und habe aufgehört, (dir) zu glauben, es sei mein Defizit, dass du nicht lieben, mich nicht lieben kannst. Konntest. Ich hab ja all meine Liebe genommen und bin den doppelten Meter gegangen, um deine Nichtliebe voll zu machen. Die war für mich als Kleinkind lebensbedrohlich.

Um wirklich frei zu werden, war es nötig, mir jede emotionale Reaktion wie Wut, Schmerz, untröstlich traurig, nicht gut genug durch die innere Inquisitorin (WehleidigesMiMiMiAchDuArmesgeschlagenesKindHabdichnichtsoDasistjalächerlich) hindurch selbstmitfühlend zu erlauben. Mehrfach. Und dann fallen zu lassen. Jede Reaktion hat, hätte mich noch kompatibel gemacht mit dem, deinem Gesamtarrangement. Es aufrecht erhalten. Und mich darin gefangen.

Letztlich hat nur Liebe mich befreit. Mich von Liebe abzuschneiden, weil es psychologisch ungesund sei, den Missbraucher zu lieben, also „falsch“, ist eine Selbstverletzung. Selbst wenn es „richtig“ sein mag, dich nicht zu lieben: ich tu mir damit weh. Liebe lässt sich nicht dosieren – so ich denn lieber eine Liebende bin. Beziehung und Nähe aber wohl. Das sind ja zwei ganz verschiedene Planeten.

 

Der letzte Ring war dann pure Objektivierung: Schlichte Biochemie – wenn das Zusammenspiel von Sympatikus und Parasympathikus gestört ist, das autonome Nervensystem sich nicht mehr regulieren kann wegen Daueraufruhr, Dramen, Stress, Ausnahmezustand und der Vagusnerv, auch zuständig für Steuerung des Appetits und des Sättigungssignals, Schaden nimmt, entsteht so etwas. Mir will scheinen, die akut hilfreiche Information kommt immer dem jeweiligen Ring entsprechend zu einem.

Und was bin ich dankbar, dass Meditation mich gefunden hat. Alles! lässt sich reparieren.

Heute liebe ich dich abstrakt und von der Ferne. Mit dem, was nach der compassion fatigue bleibt. Wenn nichts mehr da ist, weil die andere Seite den Beziehungscontainer kontinuierlich geleert hat. Und diesseits kein Motiv mehr zu finden, ihn neu zu füllen.

Vor allem erlaube ich mir, mein Leben zu lieben. Und, mit Schwankungen, mich selbst.

Der furchterregendste Part kam dann am Ende: Die Identität der Traumatisierten sterben lassen. Auch, weil es so lange gedauert hat, bis ich mir das überhaupt zugestehen konnte. Traumabetroffene halten fest, aus Mangel an Urvertrauen und Grundsicherheit. Auch an Selbstdefinitionen. Das kann keiner nachfühlen, den es nicht getroffen hat: Ein Nervensystem, das ständig auf Autopilot Todesangst feuert, dies unterschwellig Normalität wird, obwohl doch „jetzt alles gut ist“. Veränderung macht doppelt so viel Angst. Als anderen. Obwohl sie schön ist. Wachstum ist auch Verlust, mindestens mal des Status quo.

Um glücklich zu sein– und frei – braucht es Mut. Und es ist eine Wahl. Das weiß ich heute.

Jemand klopft an die Türe.

Glücklichsein hat keine Bedingungen, es ist die Bedingung. Und die beste Vergeltung.
So wie mein Erfolg. Ich freue mich an ihm, genieße ihn; still, ruhig. Und er ist ganz meiner.
Er involviert dich noch nicht mal mit dem leisesten Gefühl von Triumph.

„Carina Holten? Sie sind dran!“

Sie holen mich. Ab morgen werden Millionen von Menschen meine Geschichte kennen.

Ich erhebe mich und öffne die Türe.

 

V2 9987Z