Von Christa Blenk 

Meine Mutter liebte Boccaccio! Während meine Mitschülerinnen Nicole, Sandra, Melanie und Katrin hießen, taufte sie mich Griseldis! Ab der Einschulung war ich jeden Tag dem gnadenlosen Gespött der anderen ausgesetzt. Dabei hätte ich mit meiner zierlichen Figur und den glatten, braunen Haaren durchaus apart genannt werden können, aber der Name Griseldis verhinderte das.

 

Mit der Zeit verlagerte sich mein Leben immer mehr in die Welt der Bücher und Alice, Emil und Pony Hütchen, Huck, Pippi, Robinson oder Passepartout wurden meine Freunde. Im Regal meiner Mutter fand ich den verfluchten Dekameron, den ich mit Verachtung verschlang. Hätte sie für Dante geschwärmt, würde ich heute Beatrice heißen!

 

Ach so, mein Nachname ist Elend. Griseldis Elend: mit diesem Namen würde ich es nie zu etwas bringen, hatte mir ein Lehrer in der 12. prophezeit.

 

Mit 16 entdeckte ich die Klassiker, was unweigerlich zu einem Literaturstudium führte. Schon lange interessierte sich niemand mehr für meinen Namen und mir wurde klar, wer für meinen Leidensweg von klein auf verantwortlich war: Nicole-Liv Schön, die charakterlose, intrigante Tochter eines mächtigen Verlegers. Wahrscheinlich habe ich aus purem Masochismus nach dem Studium einen Job als Lektorin im Verlag ihres Vaters angenommen.

 

Nun der Clou. Eben diese Nicole-Liv Schön, auf deren Namen ich mein Leben lang neidisch war, warf nun einen Beststeller auf den Markt. Sie, die Frivole! Ein Ding der Unmöglichkeit. Nun sind zwar die meisten Beststeller eher Konsum und keine große Literatur, aber nicht einmal so ein Werk traute ich ihr zu.

 

Ich verließ meine bleierne Grauzone und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich würde Nicole-Liv überführen, sie demütigen. Und wer konnte mir bei dieser Aufgabe besser helfen, als die Helden aus meinen Lieblingsbüchern.

 

Detektive mussten her. Hercule Poirot, unbedingt. Ihm würde ich Columbo und Miss Marple zur Seite stellen. William von Baskerville? Manuskripte waren seine Stärke. Als Pendent dazu den opportunistischen Julian Sorel. Candide als Kenner dieser auf keinen Fall besten aller besten Welten. Joseph K., das Justizopfer. Dorian Grey, unentbehrlich und als Beobachter Charles Swann.

Ich berief eine Versammlung ein.

 

„Ihr gehört zu meinen Roman- und Filmhelden und müsst mir helfen herauszufinden, wieso diese verachtenswerte Person mit dem edlen Namen, dem schönen Körper und dem exquisiten Familienhintergrund ein Buch auf den Markt bringen konnte. Sie ist dazu nicht fähig. Ich weiß das und alle anderen, die sie kennen, wissen das auch. Und, damit eins klar ist: Das hat nichts mit Neid zu tun!

 

„Hercule, Du musst bitte Deine kleinen, grauen Zellen mit Columbo, William und Miss Marple teilen.“

 

„Ich fühle mich sehr geehrt, Griseldis, mit William, dessen kriminalistischen Spürsinn ich verehre, der praktischen Miss Marple und mit Columbo – auch wenn sein Mantel wie ein ungemachtes Bett aussieht und eine Zumutung für meine Augen ist – zu ermitteln. Ich hätte mir diese Konstellation zwar so nicht ausgesucht, ja nicht einmal in Erwägung gezogen, aber sie ist köstlich und erfolgversprechend.“

 

„Sir, die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Sie sind ohne Zweifel der größte französische Detektiv. Aber das mit dem Gerstensud müssen Sie mir erklären“, kontert naiv Columbo und fragt nebenbei nach Feuer.

 

Belge, mon ami, ich bin Belgier!“

 

„Ich muss nur noch schnell meine Cookies aus dem Ofen holen“, informiert Miss Marple.

 

„Julien, Deine Ambitionen avisieren Ruhm und Ehre um jeden Preis und Du heuchelst sogar in Selbstgesprächen, aber nun musst Du Dich in die Person von Nicole-Liv versetzen. Nur sag einmal bitte das, was Du auch wirklich denkst.“

 

„Nun, ich habe zwar keine Ambition, mein Innerstes mit Dir zu teilen, Griseldis, aber an mir soll es nicht liegen.“

 

„Joseph K. ist dabei, aber Winston Smith, was machst Du denn hier?“

 

„Ich? Aufpassen, dass Ihr nichts manipuliert.“

 

„Dorian, Du bist die eitle und skrupellose Gegenwelt. Was geht in Dir vor? Immer schön und jung bleiben, das will sie auch.“

 

„Charles, du bist unser Schriftführer. Aber bitte keine Proust-Romane!“

 

„Obwohl mein Herz der Kunst und Odette gehört und ich gerade sehr niedergeschlagen bin, werde ich Dir helfen, sobald ich mich von dieser anstrengenden Reise erholt habe. Ich liebe übrigens Deinen Namen, bedauere es, niemanden der so heißt, zu kennen. Proust sicher auch. Deine Idee ist gut, denn Du kennst unsere Stärken, Vorlieben und Schwächen. Auch wenn nicht alle meine Hochachtung verdienen und es an Stil heftig mangelt – wenn ich nur an die Essgewohnheiten dieses Amerikaners denke! – so bin ich doch fähig, über meinen Schatten zu springen. Zuvor aber noch eine Tasse Tee und eine Madeleine. Nur so kann ich brillant sein. Den Keksen der Britin fehlt es definitiv an Sensualität!“

 

„Du sollt ja nur protokollieren, aber kurz fassen! Was haltet Ihr von Peter Kien als Verstärkung. Er ist sehr belesen und weiß um die Macht der Manipulation.“

 

„Na ja, das mag ja zutreffen, aber er ist zu verschroben, weltfremd und feige“, bemerkt Dorian abwertend.

 

„Ich muss ihm hier leider zustimmen und sage nur Auto-da-fé. Peter ist ein Versager, mit Verlaub“, fügt Julien naserümpfend hinzu.

 

„Die scharfzüngige Elisabeth und den arroganten Darcy. Die schaffen ein Happy End. Ich hasse dramatische Finale.“ meint leise K. aber keiner hört hin.

 

„Wie wäre es mit Jean-Baptiste Grenouille? Obwohl, um ehrlich zu sein, fehlt hier vor allem ein hübscher, junger Mann, eine Inspiration, um meine „grauen“ Zellen, wie Poirot das nennt, anzukurbeln“, bringt sich Dorian erneut ins Spiel.

 

„Grenouille, um Gottes Willen, viel zu gefährlich, der entduftet uns Alle im Handumdrehen. Über Tadzio oder Törless ließe sich reden?“

 

„Dann lieber den jungen Törless.“

 

Ich musste aufpassen, denn Dorian würde auch dessen Seele verkaufen. Ich werde ein Porträt verhindern!

 

„Was haltet ihr von einem nüchternen, existentiellen Realisten, von einer Person, die von Vernunft und Logik gesteuert wird, wie Walter Faber.“

 

„Na ja, aber zum Schluss endet auch seine Welt im Chaos“, meint K. zurückhaltend.

 

„Was ist mit mir? Ich drifte gerade auf einen moralischen Abgrund zu und etwas Abwechslung würde mir gut tut. Mein Beil könnte ich zuhause lassen.“

 

„Darum würden wir auch sehr bitten“, meint Charles erleichtert und schreibt mit.

 

„Wir sollten weniger reden und mehr denken. Aber, ob wir Raskolnikow brauchen, als das zweifelnde Böse, der Gott töten will, um über dem Gesetz zu stehen, mag ich bezweifeln. Nun: Bring uns auf den Stand, Griseldis“, mahnt William.

 

„Wer hat Dich denn zum Anführer bestimmt? Kirchenhierarchisch stehe ich über Dir und Dein letzter Fall ging ebenfalls in Flammen auf“, spottet Julien und eröffnet:

 

„Sie hat alles auf einer genialen und brillant durchdachten Lügenpyramide aufgebaut, ein fremdes Werk vordatiert und als ihr eigenes ausgegeben.“

 

„Nein“ säuselt Dorian, „sie hat mit dem Teufel einen Pakt geschlossen und der hat geschrieben.“

 

„Jemand hat sie in diese Position hineinmanövriert. Sie ist unschuldig! Könnten wir dann eventuell über meinen Fall reden“, fordert zögernd K.

 

„Es geht ihr nur um Materielles. Sie hasst Bücher und hat sicher keines geschrieben“, meint Peter mit Zittern in der Stimme.

 

„Vielleicht“, wirft Candide optimistisch ein „kann sie ja noch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden.“

 

„Fehlbesetzung!“, wirft ihm Julien süffisant vor.

 

„Sie hat den wahren Verfasser getötet und das Manuskript an sich genommen. Nicole-Liv gehört aufgrund der Naturgesetze zu den Privilegierten und darf sich das erlauben“, äußert Raskolnikow mit leeren Augen.

 

„Ich lese keine Romane“, bemerkt Faber lakonisch und geht.

 

„Sie riecht interessant.“

 

„Grenouille, Du gehörst nicht zum Team“, kommt es einstimmig und beherzt von den anderen.

 

„So einfach geht das nicht. Wir müssten schon ein paar Beweise sammeln, bevor wir solche Anschuldigungen aufstellen. Und redet doch bitte nicht so schnell und durcheinander. Dürfte ich meinerseits noch Sophie Beaufortiez vorschlagen, sie ist eine ausgezeichnete Ermittlerin und hat obendrein Ahnung von Kunst. Ich verehre sie“, schwärmt Charles mit einem Leuchten in den Augen.

 

„Ich bin doch sehr verblüfft. Sophie? Die gibt es doch noch gar nicht. Das Buch sucht gerade einen Verleger“, kontert Poirot. „Meine grauen Zellen sagen mir, dass Nicole-Liv ein gutes, abgelehntes Manuskript volé, gestohlen hat!“

 

„Ja, ich stimme Hercule zu. Wir müssen das nur beweisen.“ Schwungvoll wirft sich Miss Marple ihr graues Wollcape über die Schultern und blickt ermutigend und geräuschvoll einen Butterkeks kauend in die Runde.

 

„Bekommen wir auch ein Plätzchen, Miss“, fragt Julien und wendet sich dann Columbo zu.

 

„Und Sie, Inspektor, wollen Sie nicht ihren komischen Überwurf ausziehen, es ist doch warm hier. Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?“

 

„Inspektor! Ohne Mantel kann ich nicht denken. Wir müssen nur die losen Enden zusammenführen. Nicole-Liv wird mich belächeln und gestehen. Wo kann ich hier eine Schale Chili bekommen?“

 

„Columbo hat fünf Sätze ohne Inhalt gesagt“, ruft Charles leicht verschnupft.

 

„Dorian, hör sofort auf, Törless zu portraitieren. Du begleitest Columbo, umgarnst Nicole-Liv und versprichst ihr ewige Jugend und Schönheit, wenn sie sich reinigt und die Wahrheit sagt.“

 

„Amateure!“, ruft Julien. „Ihr seid ihr nicht gewachsen. Ich werde sie mit Gott und dem Teufel verführen, verraten, verkaufen.“

 

„Silentium, ich rekapituliere: Jemand, eine Frau auch noch, hat ein Buch veröffentlicht, das sie wohl nicht selber geschrieben hat. Wir müssen das Originalmanuskript finden. Aber wenn ich das recht verstehe, hat sie dafür so einen modernen Computer benutzt. Wir brauchen einen Spezialisten, jemanden der sich Zugang zu ihrem Gerät verschaffen kann. Muss ich Euch das sagen, ein alter Mönch aus dem Mittelalter?“

 

„William hat recht. Eine Hackerin muss her. Lisbeth, bist du dabei?“

 

„Erledige ich im Alleingang. Ihr könnt zurück in eure Märchenwelten.“

 

Columbo, Miss Marple und Poirot blicken sich leicht verschnupft an.

 

„Und der Fall K.?“

 

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Das Ermittlerteam (alphabetisch):

William von Baskerville – Mönch aus „Im Namen der Rose“

Sophie Beaufortiez – Ermittlerin eines nicht veröffentlichten Vendée-Krimis

Elisabeth Bennet und Darcy – Figuren aus „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen

Candide –  „Candide oder der Optimismus“ von Voltaire

Inspektor Columbo – bekannter US Fernsehdetektiv (Peter Falk)

Walter Faber –  „Homo Faber“ von Max Frisch

Jean-Baptiste Grenouille – Figur aus Süskinds „Parfum“

Dorian Grey – Figur bei Oscar Wilde

Joseph K. – aus Kafkas „Prozess“

Peter Kien – Sinologie aus „Die Blendung“

Miss Marple – Amateurdetektivin von Agatha Christie

Hercule Poirot – belgischer Detektiv von Agatha Christie

Raskolnikow  – mehrfacher Mörder aus „Schuld und Sühne“

Lisbeth (Salander) – moderne Hackerin aus „Millennium“

Julien Sorel –  „Rot und Schwarz“ von Stendhal

Winston Smith – „1984“von Orwell

Charles Swann –  Figur bei Proust

Törless – Musil „Der junge Törless“