Von Friederike Meier-Burkert

Am Ende ist die OPEC Schuld, dass der Hund meines Opas sterben musste. Es war der 25. November 1973, ein autofreier Sonntag wegen der Ölpreiskrise. Mein Opa, meine Mama, mein kleiner Bruder und ich fuhren mit dem Bus in die Stadt. Was wir dort wollten, weiß ich nicht mehr. Aber wir nahmen sonst nie den Bus und ich freute mich. 

 

Ich war acht und mein kleiner Bruder vier. Er war ein niedliches pausbäckiges Kind mit großen blauen Augen und einem sehr starken Willen. An dem Tag hatte er beschlossen nicht auf dem Sitz zu sitzen, sondern lieber auf dem Boden. Warum weiß ich nicht. Vielleicht wollte er lieber neben dem großen Hund meines Opas sitzen. Aber mein Opa wollte, dass sich mein Bruder ordentlich auf den Sitz setzt. Und als er nicht gehorchte, packte er ihn an den Haaren, um ihn hochzuziehen. Das tat weh. Das konnte ich sehen. Aber mein Bruder blieb auf dem Boden sitzen. Mein Opa zog doller. Meinem Bruder stiegen Tränen in die Augen, aber er blieb sitzen. Ich weiß nicht, was meine Mutter tat, aber ich stelle mir vor, dass sie einfach aus dem Fenster schaute. 

 

Die Fahrt in die Stadt dauert fast eine Stunde. Und die ganze Zeit hatte mein Opa die Hand in den hübschen blonden Locken meines kleinen Bruders verkrallt. Vielleicht habe ich zu meinem kleinen Bruder gesagt „bitte, steh doch auf, setz dich doch hin“. Bestimmt hätte ich meinen Opa gern angeschrien „lass ihn los, du tust ihm weh“!  Aber ich glaube, ich habe nur zugeschaut, wie meinem kleinen Bruder die Tränen über die dicken Wangen strömten. 

 

Bis zu dem Tag habe ich meinen Opa sehr geliebt. Er hatte mir schon vieles beigebracht, Schachspielen, sogar Billard. Und Spargel essen. Den mochte ich eigentlich nicht. Aber wenn ich Spargel gegessen hatte, ließ mich mein Opa im Ringkampf gewinnen. Denn Spargel macht stark.

Immer samstags nach der Schule besuchte ich meinen Opa. Es war nur ein kurzer Weg über die Apfelbaumwiese durch den großen Garten bis zu seinem Haus  Wenn mein Opa noch schlief, setzte ich mich auf die Terrassenstufen und wartete. Irgendwann ging immer die Küchentür auf. Der große Hund kam heraus und begrüßte mich. Mein Opa und ich brieten zusammen Spiegeleier. Auch das hatte er mir beigebracht. Nach dem Frühstück gingen wir im Dorfladen einkaufen. Ich durfte den großen Hund an der Leine führen und band ihn sorgfältig vor der Ladentür an. 

 

Auch nach dem 25. November 1973 besuchte ich meinen Opa jede Woche. Aber ich konnte die Hand in den Haaren meines Bruders nicht vergessen. An einem eiskalten Samstag nach den Weihnachtsferien wickelte ich die Hundeleine nicht wie sonst dreimal fest um den extra dafür vorgesehenen Haken, sondern zog die Schlaufe nur einmal lose durch.

 

Wahrscheinlich dachte ich, der Hund würde einfach alleine nach Hause gehen. Er war ja klug dieser Hund und der Weg war nicht weit. Vielleicht würde er unterwegs noch ein wenig herumschnüffeln, wie er es gerne tat. Oder ein wenig Unruhe unter den Hühnern von Bauer Böttcher stiften, dazu hatte er ja nur selten Gelegenheit. Vielleicht hoffte ich auch, dass er noch ein wenig länger wegbliebe, damit mein Opa in der ganzen Nachbarschaft herumlaufen und ihn suchen müsste. Das wäre ihm sicher unangenehm. Mein Opa mochte es nicht, wenn man ihm nicht gehorchte. 

 

Sicher wollte ich nicht, was dann passierte. Wir hatten gerade unsere übliche Bestellung abgeben,  „300 Gramm geräucherten Schinken, drei Scheiben Schweinskopfsülze und ein Stück Leberwurst, ja, die grobe bitte“, da kreischten draußen Reifen auf glattem Kopfsteinpflaster. In dem erschrockenen Schweigen war der dumpfe Aufprall deutlich zu hören. 

 

Im Sommer kam ich auf das städtische Gymnasium und sah meinen Opa nur noch selten. Als mein kleiner Bruder eingeschult wurde, nahm auch er samstags den Weg durch die Apfelbaumwiese und den großen Garten. Er wartete auf den Terrassenstufen, bis die Tür aufging und ihn der neue Hund meines Opas begrüßte. Ich glaube, er erinnert sich gar nicht mehr an Opas Hand in seinen Haaren.