Von Elisabeth Rosche

Marlene verspürte ein klein wenig Ärger, als sie die E-Mail von Detlef las. Er bat sie, ihm die Noten, die er für seinen abendlichen Auftritt in der Kölner Altstadt vergessen hatte, mit einem Taxi nachzuschicken.

Ihr Friseurbesuch stand doch an. Oder sollte sie zuerst dem Wunsch Detlefs nachkommen? Marlene atmete tief durch. Wo blieb ihr seelisches Gleichgewicht, auf das sie so stolz war? Es zu erreichen, hatte viel Arbeit gekostet, es auch im täglichen Ablauf zu erhalten, fast noch mehr. Eine vergessene Partitur durfte ihre innere Harmonie nicht stören.

Dank ihres reichen Vaters, eines Bauunternehmers, besaß sie im Vorort von Köln drei Reihenhäuser. Im mittleren wohnte sie, das rechte und das linke hatte sie vermietet.

Bei der Auswahl ihrer Mieter hatte sie große Vorsicht walten lassen. Sie suchte nicht den Mieter, der ihr mit größtmöglicher Sicherheit die Miete regelmäßig zahlen würde, auch nicht denjenigen, von dem sie die höchstmögliche Miete verlangen konnte.

Nein, ihre Mieter mussten wie sie im Sternzeichen der Waage mit dem besonderen Zusatz des Aszendenten Waage geboren sein. Neben dieser Voraussetzung verlangte sie einen künstlerischen Beruf bei ihren Mietern.

Bisher hatte sie nämlich aus eigener Erfahrung gelernt, dass eine Waage, die beispielsweise einem kaufmännischen Beruf nachging, niemals ihr wahres Wesen entfalten konnte. Marlene legte Wert darauf, dass jeder Mensch seine besondere Eigenheit auch lebte. Waage und Kunst gehörten einfach zusammen, sie schafften Harmonie. Dies wiederum führte zu der positiven Energie, in der Marlene sich wohl fühlte und ihre innere Waage zum Gleichgewicht pendeln konnte. Endlich war dieser Zustand eingekehrt. Besser gesagt: fast.

Zu ihrer Linken wohnte die Kinderbuchillustratorin Melanie, eine ehemalige Balletttänzerin, blond und zierlich wie Marlene, zu ihrer Rechten Detlef, Hornist, langhaarig und stattlich. Marlene selbst schrieb Gedichte. Insofern passte alles.

Rein äußerlich glichen sich die Häuser natürlich auch, jedes ähnelte dem anderen bis auf das letzte I-Tüpfelchen. Es gab jedoch noch kleine Unstimmigkeiten: die Gärten ihrer Mieter entsprachen nicht Marlenes Schönheitsvorstellungen.

Im Melanies Garten wucherten mittlerweile sämtliche Pflanzen für eine realistische Malvorlage zu den Märchen der Gebrüder Grimm. Vor allem die Dornenhecke für „Dornröschen“ ragte mit ihren meterlangen Ranken bis in Marlenes Garten hinüber. Marlene schwieg dazu, da sie wusste, dass sich die Arbeiten ihrer Nachbarin dem Ende näherten und die Illustration einer Wüstenreise anstand.

Detlefs Garten dagegen wies das phantasielose Grün eines langweiligen Rasens auf, den der Musiker zum Leidwesen seiner Vermieterin oft und gern für lange Grillabende mit seinen Bandmitgliedern nutzte. Sehr zu ihrem Verdruss fand Marlene sogar in ihrem eigenen Garten ab und zu nach einer solchen Party ihres Nachbarn Reste der Feier: leere Bierflaschen, Kippen gerauchter Zigaretten, leere Feuerzeuge oder ein abgebranntes Streichholz. Sogar eine Damenstrumpfhose hatte sich letzte Woche nach einer stürmischen Nacht in einer Dornenranke verfangen.

Dennoch hielt sie sich mit ihrer Kritik zurück.

Detlef hatte sich nämlich bereit erklärt, nur im Keller, den er auf eigene Kosten schalldicht isoliert hatte, zu üben. Die einstudierten Stücke präsentierte er dann in seinem Wohnzimmer. Die dünnen Hauswände ließen sie an der Schönheit der Musik teilhaben.

Bei diesen Gelegenheiten fühlte sie sich von der Musik ihres Nachbarn oft zu besonderen Werken der Lyrik inspiriert..

 Erst letzte Woche hatte sie einen besonders gelungenen Vierzeiler zur Herbstjagd geschaffen und ihn der hiesigen Zeitung angeboten. Mit dem Hinweis auf die Osterausgabe lehnte der Verlag den Druck jedoch ab. In ihrer Euphorie hatte Marlene die aktuelle Jahreszeit übersehen. Ärgerlich. Schon wieder ein negatives Gefühl.

Um es zu verdrängen, warf Marlene einen Blick in ihren eigenen Garten. Hier herrschte der Farbton Blau, die Farbe des Himmels, das Zeichen der Lüfte, wie auch die Waage den Luftzeichen zuzuordnen war. Das Vergissmeinnicht blühte üppig, später würde der Rittersporn es ablösen, danach folgten blaue Astern bis tief in den Herbst hinein.

 

Eine kreative Energie durchströmte Marlene. Die erste Zeile zu einem Gedicht über das zarte Vergissmeinnicht entstand in Gedanken. Doch bevor sie die Worte niederschrieb, musste sie noch die Partitur auf den Weg bringen. Vielleicht könnte sie dann selbst auf dem Weg zum Friseur einen Umweg in die Altstadt einlegen und kurz halten. Leere Parkplätze mit einer Parkuhr waren hoffentlich noch zu finden.

Mit Hilfe des Ersatzschlüssels betrat Marlene Detlefs Haus und stieg die Treppen in den Keller hinab.

Die Noten fand sie bereits nach kurzem Suchen in einem Stapel auf dem obersten Regal. Auf dem Schreibtischstuhl stehend zog sie die Partitur vorsichtig hervor. Dabei lösten sich drei Spinnen von der Wand, eine kleine und zwei große, und fielen genau auf Marlenes Hände.

Laut schreiend vor Entsetzen verlor Marlene ihr Gleichgewicht. Kurz bevor sie mit dem Kopf auf dem Notenständer aufschlug und das Bewusstsein verlor, schwor sie sich, beim nächsten Mieter denjenigen mit dem Aszendenten der ordentlichen Jungfrau zu bevorzugen.