Von Daniela Seitz

Ein Käfig aus Glas. Gebildet aus Idealisierung und Schuld. Wer sich freiwillig in diesem Käfig vor der Welt versteckt, dessen Welt ist nur gut, wenn die Menschen in dieser Welt gut sind. Und die Menschen sind gut, wenn sie für ein schlechtes Verhalten einen Grund haben.

Die Tür verschwindet, nachdem man den Käfig betreten hat. Sie taucht erst wieder auf, wenn man bereit ist, die Menschen so zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Wenn man aufhört, ihr schlechtes Verhalten zu entschuldigen. Sie zu idealisieren.

Manchmal findet man diese Tür sein ganzes Leben lang nicht. Manchmal wird der Druck von außen zu stark. Dann kommen die Käfigwände auf einen zu und drohen den Insassen zu erdrücken. Dann kann man nur noch das Glas zerschlagen und aus allen Poren blutend durch die Scherben laufen. Den gesundheitlichen Schäden zum Trotz. Um zu überleben.

Ich hasse es, dass Svenja uns hier eingesperrt hat. Wenn ich nur die verdammte Tür finden könnte.

 

Svenja

„Den Fall kann ich so nicht anordnen. Du hast vergessen die Staatsangehörigkeit in den Personendaten zu erfassen! Ich habe den Fall zurückgewiesen!“

Bösartig grinsend lässt Simon die Papierakte demonstrativ auf meinen Schreibtisch knallen. Er weiß genau, dass er mir den Fall auch erst hätte anordnen können. Denn seine geforderte Erfassung ist für die Richtigkeit meiner sonstigen geänderter Eingaben irrelevant.

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Ich stehe vor dem Waschbecken, weil ich glaube, mich übergeben zu müssen. Ich würge. Doch es kommt nichts. Ich will nicht zur Arbeit gehen. Aber dieses trockene Gewürge ist mir selbst zu wenig um krank zu machen. Also steige ich ins Auto.

Meine Lieblingssängerin hat ein neues Album rausgebracht. Mein einziger Lichtblick, bevor ich Simon wieder gegenübertreten muss. Ich spiele ein Lied wieder und wieder ab. Jenes, in dem der Refrain mit „I am not scared! I am not scared!“ beginnt. Ich mache das Lied lauter um mitzusingen. Doch je öfter ich es wiederhole, umso mehr brülle ich anstatt zu singen: Ich habe keine Angst!

Es ist mein Kampfschrei, bevor ich erneut in die Schlacht ziehe.

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Eine Umstrukturierung aller Teams erlöst mich aus dieser Situation. Im neuen Team finde ich zwar keinen Anschluss, aber ich bekomme endlich den unbefristeten Vertrag und kann meine Arbeit in Ruhe erledigen.

 

Svenja liebt diesen Käfig. Ihr ist klar, dass Simon sich schlecht verhält. Doch sie glaubt, dies mit ihren eigenen Fehlern, auf die Simon sie aufmerksam macht, entschuldigen zu müssen. Sie idealisiert dadurch Simon so, dass er in ihre heile Welt passt. Ihr ist nicht klar, dass sie Fehler macht, weil Simon sie so unter Druck setzt. Sie glaubt, die Fehler und nicht Simon seien die Wurzel allen Übels.

 

Jana

Eine erneute Umstrukturierung innerhalb des Teams stößt bei dem Großteil des Teams auf Widerstand. Als mein Chef mir daher einen Bereich überlassen will, von dem ich durch meine ehemalige Kollegin Jana weiß, dass er äußerst schwierig ist, stimme ich dennoch zu.

Ich will diese Umstrukturierung genauso wie mein Chef. Auch gegen den Willen des restlichen Teams. Daher werde ich ihn unterstützen, indem ich diesen Bereich ohne Gegenwehr übernehme. Immerhin bekomme ich dafür das, was ich schon seit Jahren will. Eine gerechtere Regelung der Zuständigkeiten für alle!

Ich sehe, dass ich meinen Chef damit überrasche. Seine Körperspannung lässt mit einem Schlag nach. Er hatte sich auf einen Kampf mit mir eingestellt.

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„Schon wieder ein Sonderfall?“, fragt mein Chef.

Ich kratze mittlerweile fast jeden Tag an der Tür meines Chefs, um Sonderregellungen mit ihm abzusprechen. Meine direkte Vorgesetzte hört sich die Sachverhalte zwar an, schüttelt dann aber immer nur mit dem Kopf und verweist mich hierhin.

„Na, Jana sagte damals nicht umsonst, der Bereich A stehe für A wie Arschkarte!“, gebe ich zurück.

Mein Chef lacht nur. Wir finden eine Regelung für meinen Fall und ich verlasse das Büro.

Es ist nicht nur eine absolute Unverschämtheit, sondern auch höchst unverantwortlich gewesen, diesen Bereich einer neuen Kollegin wie Jana zu überlassen.

Während ich in mein Büro gehe, höre ich die anderen Kollegen laut lachen. Sie machen zusammen im Büro Mittagspause, überziehen diese und stören mit ihrem lauten Lachen meine Konzentration. Die Mittagspause zeigt, wer zur geschlossenen Gesellschaft gehört und wer nicht. Ich gehe alleine raus.

Keine Tür weit und breit. Egal wie sehr ich die Glaswände danach abtaste. Immerhin denkt Svenja nun drüber nach. Doch ihr passiver Widerstand hilft mir nicht. Wir sind immer noch gefangen in Svenjas Idealisierung ihrer Kollegen.

 

Claudio

Den Einstieg des neuen Kollegen, habe ich durch meinen Urlaub verpasst. Doch Claudio ist sehr kommunikativ und steht irgendwann einfach in meinem Büro. Erzählungen über die unterschiedlichsten Urlaubsziele lassen uns beide sehr schnell miteinander warm werden.

Doch die geschlossene Gesellschaft bleibt kalt. Claudio sei zu faul.

„Der benutzt die Wiedervorlagen um Post, die zu bearbeiten wäre, verschwinden zu lassen“, regt Sven sich auf.

„Das ist ja regelrecht bösartig!“, kommentiert die Kollegin, bei der Sven sich aufregt, dieses Vorgehen.

„Man sollte das echt mal dokumentieren. Lilly, wenn du ihn nächsten Monat einarbeitest, achte bitte darauf“, instrumentalisiert Sven Lilly.

Lilly ist ebenfalls eine neue Kollegin, die zwar vor Claudio angefangen hat, aber ebenfalls noch einen befristeten Vertrag hat. Sie hat sich so gut in die geschlossene Gesellschaft integriert, dass man ihr bereits eine Einarbeitung zutraut.

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Der Kommentar mit der Bösartigkeit geht mir zu weit. Ich arbeite ihn nicht ein und kann daher nicht beurteilen inwieweit er fachlich Fehler macht. Aber menschlich betrachtet, traue ich ihm das nicht zu.

Außerdem beschwerte Sven sich darüber, dass ich meine Wiedervorlagen nicht nach meinen Urlaub gelegt habe. Claudio hat lediglich die Wiedervorlagen auf nach seiner Schulung gelegt. Irgendwie inkonsequent, ihm deswegen bösartige Manipulation vorzuwerfen. Immerhin fordert Sven dasselbe Verhalten von mir, um eine leichtere Urlaubsvertretung zu haben.

Ich gehe zu Claudio und mache seine Bürotür zu. Ich will nicht tratschen und habe Schwierigkeiten, wie ich anfangen soll, ohne brühwarm zu erzählen was ich gehört habe.

„Ich bin in dem anderen Team fertig gemacht worden. Und auch wenn dieses Team nicht so ist, wie mein altes Team, möchte ich dich warnen. Biete Ihnen keine Angriffsfläche“, beginne ich.

Claudio schaut mich verstört an. Ich erzähle genauer, was mir mit Simon widerfahren ist. Dann verharmlose ich, entgegen dem, was ich gehört habe, die Atmosphäre im Team. Ein Fehler.

„Ich habe ja noch Welpenschutz! Mach dir keine Sorgen Svenja“, wiegelt Claudio meine Warnung mit einem Handwedeln ab.

Hat er nicht. Durch Lillys Dokumentationen wird er kurz vor Ende der Probezeit gekündigt. Wie passend, dass Sven Urlaub hatte, als die Entscheidung zu treffen war und nun Lilly ganz alleine als der große Buhmann da steht.

Sie kann sich zwar auf Svens Unterstützung verlassen. Denn wenn jemand wagt, ein Wort gegen Lilly zu erheben, steht er sofort als ihr Retter in schimmernder Rüstung parat. Doch die Verantwortung für Claudios Kündigung verbleibt trotzdem allein bei ihr.

Merkwürdig, dass von oben beschlossen wird, dass Lilly für den unbefristeten Vertrag das Team wechseln muss. Und das keine zwei Monate nach Claudios Kündigung. Schade, ich mochte beide.

Wo verdammt noch mal bleibt die Tür? Svenjas aktiver Widerstand sollte doch funktionieren. Warum sind wir immer noch in dem Käfig? Glaubt Svenja immer noch, dass es die Fehler der neuen Kollegen sind, die das Verhalten des Teams den neuen Kollegen gegenüber rechtfertigt? Sieht Sie denn das Druckmittel nicht, dass alle neuen Kollegen erpressbar macht?

Svenja, verdammt! Lass uns hier endlich raus!

 

Beate

Im Personalbereich gab es Probleme mit Beate, weshalb es als Lösung betrachtet wird, diese in unserem Team als Ersatz für eine Kollegin zu erproben. Die Kollegin, für die Beate kommt, wird in Mutterschutz gehen. Daher kann Sie Beate noch einarbeiten.

Da Beate oft die Tür zu hat, vergesse ich oftmals ihr „Guten Morgen“ oder auch „Tschüss bis morgen“ zu sagen, wenn ich ins Büro gehe oder es verlasse. Und ich mache immer eine Runde zu allen Kollegen, morgens und nachmittags. Aber sie habe ich wegen der geschlossenen Tür einfach nicht auf dem Schirm.

Als sie von einer Schulung wiederkommt, bin ich als einzige von allen Kollegen noch da. So kommen wir ins Gespräch und ich erfahre, dass sie am liebsten Affen mag. Als ich Tage später einen Affen in einem Überraschungsei habe, schenke ich ihn ihr.

„Der soll dich beschützen“, sage ich.

„Dann braucht er einen Namen. Wie hieß noch mal der Affe von Pipi Langstrumpf?“, freut sie sich.

„Herr Nielson!“

Das Eis bricht spät. Keine Woche später kommt sie in mein Büro und macht die Tür zu. Ihr wurde gerade gesagt, dass das Team an einer weiteren Zusammenarbeit nicht interessiert sei. Ähnlich wie Claudio solle sie zu viele Fehler machen.

Wieder nehme das Team teilweise in Schutz. Ich erzähle ihr, dass es auch immer wieder Kollegen wie z.B. Lilly gab, die sich in die geschlossene Gesellschaft hineingefunden haben und mittlerweile sogar schlagende Herzen dieser eingeschworenen Gemeinschaft sind.

„Also ist es eine Typfrage!“, stellt Beate fest. Ich gebe ihr Recht und erzähle auch von Simon.

„Na kein Wunder. Wenn du sowieso schon nicht wusstest, wo dir der Kopf stand, warst du ein leichtes Ziel für ihn. Und durch deinen befristeten Vertrag sowieso in der schwächeren Position“, sagt sie ganz selbstverständlich.

Mich hingegen trifft der Schlag.

Wir fallen durch die Tür hindurch ins Freie. Auf einmal war sie da. Aus dem Nichts. So unerwartet, dass ich unseren Sturz auffangen muss. Danke Beate! Für dieses Puzzleteil, dass Svenja fehlte, um von der Idealisierung lassen zu können. Das ich, ihr Unterbewusstsein, ihr nicht liefern konnte.

Der Kampfschrei. Die Arschkarte. Die Dokumentation. Herr Nielson.

Gerade habe ich einfach so eine Wahrheit gefunden, die ich die ganze Zeit nicht sehen wollte.

 

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