Von Monika Heil

Andrea öffnet die Tür. Ihre schmalen Finger suchen den Schalter. Trübes Licht flackert auf. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen und tastet sich auf den ausgetretenen Stufen abwärts während ihre Augen versuchen, sich an die Dämmerung zu gewöhnen. Auf der letzten Stufe bleibt sie stehen. Es überkommt sie ein Gefühl, als beträte sie diesen Raum zum ersten Mal. Das kann nicht sein. Sie weiß es. Dies ist ihr Elternhaus. Hier hat sie ihre gesamte Kindheit verbracht.

 

Spinnweben zittern in der Atemluft. Ihr Blick fällt als erstes auf das Weinregal. Es nimmt die gesamte rechte Wand ein und enthält nur noch wenige blind-verstaubte Flaschen. Man kann nicht erkennen, ob sie aus grünem oder braunem Glas gefertigt wurden. Auch die Etiketten sind unlesbar unter einer dicken, grauen Schicht verborgen, die sich wie Nebel darauf niedergelassen hat, einem undurchdringlichen Nebel, der den tristen Raum zu verhängen scheint.

 

Die Glühbirne an der Decke ist mit Draht vergittert, die Wattzahl so niedrig, dass ihr fahles Licht nur ein begrenztes Feld ausleuchten kann. Im Hintergrund erkennt Andrea ein paar Schätze aus ihrer Kindheit –  ein hölzerner Tretroller mit verbogenem Lenker, ein kleiner Kindertisch, sich schräg auf drei Beinen haltend, vier Stühlchen. Die ehemals rote Farbe ist mehr zu ahnen als zu erkennen. Gestapelte Obstkisten – ein schiefer Turm ohne Inhalt.

 

Die Truhe!

 

Sie steht unter einem schmalen Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Staubgrau, eisenbeschlagen, abweisend. Hinter der schmutzigen Scheibe herrscht tiefschwarze Nacht, die – gleich einer herabgelassenen Jalousie – keinen Ausblick zulässt. Auf der linken Seite ein weiteres wandhohes Regal. Einmachgläser verdecken die gräulich-weiße Kalkwand. Hier sind die Etiketten noch schemenhaft zu lesen. Mirabellen, Sauerkirschen, Apfelmus. Gläser, Gläser, Gläser.

 

Da – ein kurzes, kaum wahrnehmbares Geräusch. Eine winzige graue Maus huscht eilig vorbei, zieht eine sanfte Spur über den staubbedeckten Boden. Kurz darauf ist es wieder still. Ohrenbetäubend still. Andrea starrt auf die Staubansammlungen der letzten zwanzig Jahre. Darunter hält sich ihre Kindheit verborgen.

 

Ihre Blicke springen. Rechts, links, rechts.

Die Weinflaschen – eine Sammelleidenschaft des Vaters, jetzt dezimiert auf eine Handvoll staubigen Glases. Wahrscheinlich ist deren Inhalt heute nur noch als Essig verwendbar. Übergangen – wie die letzten zwanzig Jahre. Die Vorräte in Gläsern, aufgereihte Schätze aus einer lange zurückliegenden Zeit. Sauerkirschen, Mirabellen, Apfelmus. Damals Sorge um die tägliche Nahrung. Heute verdorbene, ungenießbare Früchte.

 

Die Truhe!

Andreas Blick fällt auf die eisenbeschlagene Kiste. Ihr Herz rast. Das Blut pocht in ihren Schläfen. Sie erinnert sich an das wimmernde Kind, die kleinen Hände zittern auf dem Holz. Sie hört das flehende: „nein, bitte nicht!“, spürt die Angst fast körperlich.

Gebannt starrt sie auf die verschlossene Kiste. Der Inhalt! Was ist da? Was bleibt vor ihr verschlossen? Hat sie jemals da hinein geschaut? Ein leises Klirren. Erschrocken blickt sie auf den Gegenstand, der ihren verkrampften Fingern entglitten ist. Der Schlüssel!

 

Deshalb ist sie hier. Sie hat den Schlüssel in seinem Nachlass gefunden. Sie muss diese Kiste öffnen.

 

Ihre Hände zittern, als sie den Schlüssel aufhebt.

Mit vorsichtigen Schritten nähert sie sich der Truhe, bleibt schwer atmend stehen. Endlich steckt sie ihn in das verrostete Schloss. Seine Umdrehung klingt wie ein ächzender Seufzer, geht in einen metallischen Schrei über. Andrea muss all ihre Kraft aufwenden, um den wuchtigen Deckel zu öffnen. Schwer atmend lehnt sie ihn gegen die schmutzige Wand. Dann zwingt sie ihren Blick in den offenen Trog. Es ist nichts zu erkennen, da das fahle Deckenlicht nicht ausreicht, die dunkle Tiefe zu durchdringen. Ihre Taschenlampe. Mühsam zieht sie das schmale Teil aus ihrer Jackentasche, knipst es an. Ein Lichtstrahl springt an der Truhe vorbei zum Fenster. Andrea zwingt sich, die Lampe zu senken. Bleiches, kaltes Licht fällt auf ihre kleiderlose Puppe mit grotesk verdrehten Beinen. Daneben Polaroid-Fotos. Dutzende schwarz-weiße Dokumente, fragmentarische Augenblicksaufnahmen. Wahllos greift sie in die Bilderflut. Weiße Kinderschenkel, behaarte Männerhände, runde, zarte Pobacken, eine schmale gekrümmte Hand, Onkel Hartmuts Siegelring. In harten Stößen pfeift ihr Atem. Plötzlich setzt das rasende Herzklopfen aus.

 

Ihre Gedanken stoppen jede Emotion. Ihre Augen starren auf das Foto mit dem Ring. Ihre Hände wühlen sich durch das gesamte Material. Bei jedem Foto, das sie in die Truhe zurückschmeißt, weiß sie, dass sie sich vor der Wirkung dieser szenischen Bilder nicht mehr schützen kann. Jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren geraten sie in Bewegung, kommen aus der tief verschütteten Erinnerung und treffen sie wie tödliche Schüsse.

 

Ein Hieb, der von innen, von einem weit entfernten, verborgenen Ort kommt, zwingt sie, die Kiste zuzuschlagen. Mit einem dumpfen Schlag klappt der Deckel herunter. Zu viele Gefühle. Sie kann sie heute nicht zulassen. Noch ist ihre Seele ungeschützt. So kann sie ihrer Verzweiflung nicht begegnen. Aber die Zeit wird kommen. In den nächsten Wochen. Vielleicht erst in einigen Monaten. Sie wird sich den Tatsachen stellen müssen. Sie und alle, die Schuld tragen. Alle, die daran beteiligt waren. Nein, nicht alle. Onkel Hartmut ist tot.

 

Hartmut ist letzte Woche gestorben. Herzversagen. Gestern war seine Beerdigung. Er kann ihr nie mehr wehtun. Eine Gewissheit, die ganz langsam in ihrem Herzen keimt.

 

Sie weiß, diese Bilder werden durch die Presse gezerrt werden. Sie werden auf einem Richtertisch liegen. So lange muss sie den Panzer behalten. Später kann sie weinen. Über sich, über zwanzig verlorene Jahre, über ihre nie aufgearbeiteten Erinnerungen. Nicht heute. Noch ist sie nicht dazu bereit.

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