Von Jochen Ruscheweyh

Der Security Mann fixiert mich bereits aus dreißig Meter Entfernung.

Ich muss kein Praktikant bei Nostradamus gewesen sein, um vorauszusagen, was jetzt kommt, obwohl ich meine Ware ja ordnungsgemäß in der ersten Etage des Elektrofachmarktes bezahlt habe.

Mein vermeintlicher Fehler besteht vermutlich darin, mit meinem Einkauf nicht in der ersten Etage am dort postierten Wachmann vorbei den Markt mit Übergang in das benachbarte Bekleidungskaufhaus verlassen zu haben.

 

Offensiv aggressive Prophylaxe kann nicht nur Zahnärzten vorbehalten sein.

Also platziere ich den Kassenzettel mit dem briefmarkengroßen Elektrofachmarktlogo über den vier Fotospeicherkarten und trage mein so kreiertes Stillleben mit der Würde eines yorkshire-resken Butlers dem Ausgang entgegen.

 

Securitymann: „Kann ich mal sehen?“ und streckt schon die Hand nach meinem Stillleben aus.

Ich: „Nein. Warum?“

Securitymann: „Ich habe die Anweisung.“

Ich: „Auf welcher Grundlage?“

Securitymann: „Ich habe die Anweisung.“

Ich: „Gerne zeige ich Ihnen meine Einkäufe, wenn Sie mir die Stelle in Ihren AGBs zeigen, die Sie dazu berechtigt.“

Securitymann: „Ich muss Sie kontrollieren, wenn Sie die Ware nicht in einer Tüte dieses Fachmarktes transportieren.“

Ich: „Sagt wer?“

Securitymann: „Die Geschäftsleitung.“

Ich: „Sie wollen mir also in einer Zeit des fast empirisch bestätigten Klimawandels sagen, dass ich eine Plastiktüte kaufen muss, um nicht kontrolliert zu werden? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“

Securitymann: „Wenn Sie sich weigern, muss ich unsere Abteilungsleiterin rufen.“

Ich: „Das müssen Sie dann wohl.“

 

Er quatscht kurz in ein Gerät, das mich an ein Kinder-Walkie-Talkie erinnert. Einen Moment später erscheint nicht die gute Fee, sondern Madame Abteilungsleiterin, die mir professionell geschult und zahnprophylaxe-lächelnd (Querverweis nach oben) entgegenflötet: „Gibt es ein Problem?“

Ich: „Ihr Kollege sagt, ich muss eine Plastiktüte bei ihnen kaufen, um nicht kontrolliert zu werden.

Abteilungsleiterin: „Das hat er sicher nicht so gemeint.“

Securitymann: „Das habe ich nicht gesagt.“

Ich: „Was haben Sie denn dann gesagt?“

Securitymann: „Wenn Sie Ihre Ware lose ohne Plastiktüte tragen, muss ich Sie kontrollieren.“

Ich: „Und wo ist da jetzt der Unterschied, zu dem was ich gesagt hab, was sie gesagt haben?“

Abteilungsleiterin: „Sie müssen verstehen. Leute nehmen sich Dinge und legen dann einen Bon von Lidl drauf …“

Ich: „Ich verstehe es so, dass Sie mich als Kunde gerade pauschal verurteilen und fühle mich diskriminiert. Und jetzt zeigen Sie mir bitte die Stelle in Ihren AGBs.“

Abteilungsleiterin: „Wir haben ein Schild draußen. kommen Sie mal mit.“

 

Die Abteilungsleiterin zeigt auf ein Schild: „Sehen Sie, hier steht‘s!“

Ich: „Das ist die Datenschutzerklärung für Ihre Überwachungskamera.“

Abteilungsleiterin: „Oh! Aber wir hatten mal … ich weiß auch nicht, wo das hin …“

Ich: „Ja, klar. Aber weil ich ein netter Mensch bin, zeig ich Ihnen jetzt den Bon.“

Securitymann (mit mechanischer Roboterstimme, nachdem er einmal kurz draufgeguckt hat): „Danke für ihre Kooperation.“

 

Ich verlasse den Elektromarkt als Sieger über ein System des Generalverdachtes. Als Erin Brockovich des Einzelhandels.

Anders als Julia Roberts erhalte ich allerdings keinen Oscar.

Gut, man kann nicht alles haben.

 

Das erhabene Gefühl hält auch noch an, als Freundin, Hund und ich uns ein paar Stunden später auf die Seite drehen – Richtung Westen schlafen wir am Besten – und die Bettdecken über die Nasen ziehen.

 

Am nächsten Morgen grübele ich im Zug darüber, ob ich nicht einen Fehler gemacht, weil ich zu früh eingelenkt habe.

Ich drifte in krude Gedankenmuster ab, in denen ich verlange, mein Bewegungsprofil von der ersten Etage bis in den Ausgangsbereich des Elektrofachmarktes auf der Aufzeichnung zu überprüfen und mit der DSGVO drohe.

Im Anschluss-Bus phantasiere und rachegelüste ich weiter, mit Recht, wie ich finde, denn ich bin ja auf‘s Übelste kriminalisiert worden.

Beim Aussteigen greife ich neben mich und mit der Wucht eines zehn Tonnen-Hammers trifft mich die Erkenntnis, dass ich zwar meinen Rucksack am Mann habe, mein Stoffbeutel jedoch wohl im Zug weiter Richtung Lüdenscheid fährt.

 

Die einzige Strategie ist, sich das Worst Case Szenario zu vergegenwärtigen.

Was kann neben den sieben Büchern aus der Stadtbücherei, deren Wiederbeschaffungswert ich mit circa zweihundert Euro taxiere, noch in dem Beutel gewesen sein? 

Wenn ich nicht so ein Daten-Schlunz wäre, hätte ich auch meine USB-Stick-Sammlung besser im Griff. So weiß ich weder, wie viele Sticks ich überhaupt am Start habe, noch welche Teil- oder Voll-Backups und von welchen Rechnern sich darauf befinden.

Ich brauche eine EDV – Tine Wittler.

Definitiv.

 

An meinem Hoffnungshorizont geht kurzzeitig die Sonne auf, als ich mir überlege, dass nur eine kleine Minderheit das Mac Datei System HFS + verwendet, vor die sich aber sofort wieder eine fette Gewitterwolke klemmt, als ich realisiere, dass wahrscheinlich irgendeine Person ohne IT-Kenntnisse aus dieser Minderheit ausreicht, um mein komplettes Privatleben auszuspähen, weil ich Backups noch nie verschlüsselt habe.

Richtige Arschloch-Finder … nein, das wäre doppeldeutig, besser so: ein Finder, der gleichzeitig ein großes Arschloch ist, würde die Daten irgendwo online stellen, damit noch größere Arschlöcher darauf zugreifen können.

Oder an die Bild schicken.

Ich sehe schon die Schlagzeile: Deutschlands dümmster Stoffbeutel-Loser kommt aus NRW.

Zumindest hat mich meine Paranoia so gut beschäftigt, dass die Fund-Hotline der Bahn inzwischen erreichbar ist.

Ich bekomme eine große Dosis Empathie und eine Zeitschiene von sechs bis sieben Tagen vermittelt und als wenige Minuten später mein Nachforschungsauftrag samt Verlustnummer auf mein Handy gepusht wird, fühle ich kurzzeitig tatsächlich so positiv gepusht, als hätte ich grade mit Eva Longoria einen Liter Hyaluronsäure auf Ex gekippt.

Bis ich in einer abgrundtief bösen Parallelwelt den Securitymann vom Vortag sehe, wie er meinen Beutel findet, an sich nimmt, in Hagen aussteigt, die Bücher in einem Altpapiercontainer verklappt, und drei meiner USB Sticks an den drogensüchtige Ex-Drummer der Band, die mal im selben Übungsraumkomplex wie Nena geprobt hat, vertickt.

Weil ich unter dem Druck noch weniger auf die Reihe krieg als der unaufgeräumte Ginkobiral-Senior aus der TV-Werbung, mache ich eher Feierabend.

 

Im Zug interviewe ich den Schaffner, ab wann er unterwegs ist.

„4.32“

„Immer diese Linie?“

„Korrekt!“

„Ich glaube, ich habe heute morgen einen schwarzen Stoffbeutel hier vergessen.“

„Aha.“

„Da waren Bücher drin.“

„Hmm, noch was?“

„Hustensaft, Asthma-Spray …“

„Und noch was?“

„Bestimmt …“

„Was man an einer bestimmten Körperstelle benutzt?

„Jaaaaaa! Deo. In blauer Verpackung.“

 

Ich könnte ihn knutschen, als er meinen Beutel aus dem Cockpit holt, frage stattdessen nach der Kaffeekasse.

Aber er möchte nichts annehmen.

Wahnsinn.

Ich verneige mich noch ein paar Mal ziemlich übertrieben, aber wenn ich im Devot-Modus bin, gehen die Gesten halt mit mir durch.

 

Zu Hause trete ich online in die SPD ein, weil mir danach ist, etwas Gutes zu tun. Dann schreibe ich alles, so wie es passiert ist, in einem Rutsch runter.

Meine Freundin Jeanette bemängelt, dass der Plot chaotisch ist, das eigentliche Thema zu kurz kommt und ich mir die SPD-Pointe hätte sparen können.

Das Ganze wär außerdem eh keine Shortstory und sie hätte es dick, dass ich sie jetzt schon zum dritten Mal bei einem meiner Pseudo-Intellektuellen-Texte als Spaßbremse aus dem Off einsetzen würde.

Ich kontere, dass es beim dritten Mal keine Wiederholung, sondern Stilmittel und ich tatsächlich in die SPD eingetreten wär.

O.k., oder vielmehr nicht o.k., meint sie, weil sie auch gerne mal sympathisch in einer Story von mir dargestellt werden möchte, dass sie zum Beispiel Wale rettet oder den Erdkern vorm Durchschmelzen bewahrt oder jemanden aus der Management-Etage von Nestle entführt.

Ich rede mich raus, dass das noch weniger zum Monatsthema passt und dass diese Emo-Schiene und wie ich leide, mal eine ganz neue Facette von mir zeigen würde.

Jeanette findet, ich wär ein mieser Poser, weil ich meinen Lesern aus Cliffhanger-Gründen verschweigen würde, dass alle meine USB Sticks super ordentlich archiviert in meinem USB-Case schlummern würden und ich auslassen täte, dass der Securitymann einen Migrationshintergrund gehabt hätte.

Ich sag: „Na und? Ich doch bin doch total multikulti-openminded. Und außerdem ja SPD Mitglied. Jetzt.“

„Das ist Thilo Sarrazin auch“, stochert sie weiter.

„Das ist eine Killerphrase“, benutze ich selber eine Killerphrase.

Sie überlegt einen Moment und sagt: „Jetzt fehlt nur noch deine Standardparole Ruscheweyh und Hemmingway klingen vom Wortstamm ähnlich, daher muss es eine Shortstory sein.“

„Naja, ich hätte ja jetzt nicht damit abgefangen, aber wo du es gerade sagst.“

Sie schäumt über: „Deine bekloppte Story ist eine Story an eine andere geklebt und dann noch eine dritte drübergestülpt. Das ist übelstes Copy&Paste!“

„Quatsch, gar nicht“, empöre ich mich.

„Helene Hegemann Fan!“

„Das nimmst du zurück!“

„Regionalbahn Roadkill!“, stichelt sie weiter.

Es kommt zu einem Handgemenge zwischen uns, an dessen Ende ich strauchele und mich in klassisch deutscher Slapstick-Manier auf das Trackpad meines MacBooks stütze und die Story ungewollt an hochladen@schreiblust schicke, ohne sie Korrektur gelesen zu haben.

 

Jeanette aus dem Off: „Das ist ja noch beschissener als das Zeitmaschinen-Paradoxon! Du kannst die Story ja gar nicht geschickt haben, wenn du darüber schreibst, es gemacht zu haben.“

 

Wo sie Recht hat, hat sie Recht.

Vielleicht ist das einfach nicht mein Monat.