Von Veronika Beckmann

Lena lässt im Vorbeigehen ihre Finger über das Gitter des Zaunes gleiten. Schon bevor sie das Törchen erreicht hat, sieht sie, dass keine anderen Kinder auf dem Spielplatz sind. Sie bleibt am Eingang stehen, seufzt ein wenig theatralisch und stützt die linke Hand auf ihre Hüfte.
“Das war ja klar. Ich habe Mama gleich gesagt, dass heute keiner hier ist“, sagt sie laut zu sich selbst. Dann legt sie den Kopf etwas zurück und streicht sich mit der rechten Hand eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Zufrieden mit ihrem kleinen Auftritt hält sie inne und schaut sich um. Nicht nur der Spielplatz ist verwaist, auch die Straße durch das Wohngebiet liegt leer und in sommerlicher Ruhe vor ihr.
Sie schlendert weiter am Zaun entlang bis zur Ecke des Spielplatzes. Dort blickt sie noch einmal vorsichtig über ihre Schulter und huscht dann in den Fußweg, der zwischen den Häusern und dem Spielplatz in Richtung Wald führt. Sie weiß genau, dass sie allein auf keinen Fall dorthin gehen soll, aber wenn schon keiner Zeit für sie hat, möchte sie wenigstens etwas Abenteuerliches erleben. 

Als sie nach etwa zwanzig Metern das Waldstück erreicht, das direkt an die Wohnbebauung angrenzt, klopft ihr Herz vor Aufregung. Zum Glück sieht sie nur Max, einen Jungen aus ihrer Nachbarschaft, der nicht weit vom Weg am Waldrand hockt. Max ist zwei Jahre älter als sie und wendet ihr den Rücken zu. Er beugt seinen braunen Lockenkopf  vor und betrachtet anscheinend etwas, das direkt vor ihm auf dem Boden liegt. Neugierig geht Lena hinüber und versucht, an ihm vorbeizuschauen.
„Was hast du da?“
„Pass auf“, warnt Max statt einer Antwort und streckt den rechten Arm zur Seite aus. Auf der Höhe ihrer Schienbeine bildet der Arm vor Lena eine Schranke. Das Mädchen macht noch einen vorsichtigen Schritt, bis sie Max fast berührt, und geht dann ebenfalls in die Hocke. Gnädig rückt der Junge ein wenig zur Seite.

„Oh, ein Vogel“, ruft Lena als sie das kleine Tier im welken Laub entdeckt.
Dicht vor Max Füßen liegt ein kleiner Vogel auf dem Rücken, einen Flügel ein wenig abgespreizt und den Kopf leicht zur Seite gedreht. Die Augen hält er geschlossen.
„Ist der tot?“
„Nee, der lebt noch.“
„Was willst du mit ihm machen?“
„Weiß ich noch nicht.“
„Kann man den zum Arzt bringen?“
„So einen Vogel doch nicht.“ Max gibt sich überlegen.
„Aber wenn dem was weh tut?“
Max kaut auf seiner Unterlippe. Der Gedanke, dass der Vogel Schmerzen haben könnte, beunruhigt ihn. Nun sieht auch Lena, wie der Vogel die Augen öffnet und einen Flügel zitternd bewegt.
„Wir könnten mal meine Mama fragen“, schlägt sie vor.
Max überlegt und nickt, dann schaut er sich um. Schließlich entdeckt er an einem kleinen Ahorn, was er sucht. Er steht auf, reißt ein großes Blatt ab und legt es neben den Vogel. Mit einem Stöckchen schiebt er den Vogel vorsichtig auf das Blatt. Lena beobachtet Max und schließt aufgeregt die Hände zu Fäusten. Als der Transfer erfolgreich abgeschlossen ist, legt der Junge das Blatt mit dem Vogel auf seine Handfläche und beide Kinder stehen auf.

Jetzt können sie den Vogel ganz aus der Nähe betrachten. Sein Köpfchen und die Kehle glänzen schwarz und auf den Wangen hat er strahlend weiße Flecken. Über den hellgelben Bauch zieht sich, von der Kehle bis hinunter zwischen die zarten Beinchen, ein gerader schwarzer Strich. Die Flügel sind an der Unterseite unauffällig graubraun gefiedert, aber die Oberseite schimmert grau und bläulich und hat einen hellen Querstreifen. Es ist eine Meise.
„Ist der schön“, flüstert Lena andächtig. Ihr Atem bewegt die zarten Federchen auf dem Bauch des Vogels, der seine Augen wieder geschlossen hat.

Ganz leicht legt Max die Spitze seines Zeigefingers auf die gelbe Brust und lässt sie dort still ruhen. Er meint unter seiner Fingerkuppe eine schwache Bewegung zu fühlen. Max hält den Atem an und konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit auf den Vogel in seiner Hand.
Nach einer Weile ist er sich sicher. Das Herz der Meise schlägt schnell und zart in der kleinen Brust. Ein zerbrechliches Zeichen des Lebens. Das zu spüren, erscheint ihm wie ein Wunder. Es ist so unvorstellbar und einzigartig, dass ihm keine Worte einfallen, um es zu beschreiben.
„Komm, lass uns gehen“, drängt Lena und unterbricht unsanft seine Gedanken. Gemeinsam gehen sie langsam den Fußweg zurück zum Spielplatz. Max trägt nun mit beiden Händen das Vogelbett vor seiner Brust. Er fühlt ein Kribbeln am ganzen Körper und ihm ist feierlich zumute.

Als sie auf die Straße einbiegen, treffen sie vor dem Spielplatz auf Tim und Lukas, die auch hier im Wohngebiet wohnen. Sie sind deutlich älter als Lena und Max, bestimmt schon vierzehn, und haben einen Fußball dabei. Die beiden großen Jungen bauen sich vor Max auf. Lena versteckt sich ein bisschen hinter ihrem Kameraden.
„Was habt ihr denn da?“, fragt Tim.
Die beiden Jüngeren schweigen.
„Nen toten Vogel“, beantwortet Lukas an ihrer Stelle Tims Frage.
„Der ist nicht tot“, widerspricht Lena trotzig.
„Doch, der ist tot“, bestätigt nun auch Tim mit einem fachmännischen Blick. „Mausetot. Der macht nix mehr.“

Max schluckt und meint, dass sein Herz einen Moment erschrocken stehen bleibt. Er schaut auf den Vogel. Der Kleine hat sich seitdem sie losgegangen sind nicht wieder bewegt und die Augen sind immer noch geschlossen. Der Junge spürt jedoch, dass sich irgendwie etwas verändert hat. Noch einmal streicht er sanft mit der Fingerspitze über das Gefieder.
Ja, etwas ist geschehen. Max ist, als ob eine Glocke läuten müsste. Das kleine Herz schlägt nicht mehr.
Lena schaut ihn fragend an. Er zögert, will es immer noch nicht wahrhaben, aber schließlich nickt er. Lenas Augen füllen sich rasch mit Tränen, die kurz darauf ihre Wangen hinunterkullern. 

Die großen Jungen, die gerade noch auf Ärger aus waren, wirken irritiert. Den Kleinen etwas wegnehmen und wütendes Geschrei provozieren, das war ihr Plan. Jetzt steht vor ihnen eine Heulsuse und sie sehen wie Feiglinge aus, die sich nur an weinende Babies herantrauen.
„Wir müssen ihn beerdigen“, sagt Lena mit zittriger Stimme.
Lukas schaut Tim unsicher an. Der prüft mit einem Blick, ob sie noch alleine sind. Die Straße und der Spielplatz sind jedoch noch immer menschenleer.
„Na gut“, sagt er wenig begeistert und nickt Lukas zu.
Am Rand des Spielplatzes, dort wo die Sandfläche an die Büsche angrenzt, heben sie mit einem zurückgelassenen Schäufelchen eine kleine Mulde aus und Max bettet den Vogel mit dem Blatt hinein. Danach häufen sie eine dicke Schicht Erde und Sand auf die Stelle. Zum Schluss klopfen sie den kleinen Hügel noch fest.

Als das Grab wieder geschlossen ist, kehren Tim und Lukas rasch auf die Straße zurück und entfernen sich, den Ball im Gehen auf den Boden prellend. Max hört sie noch reden und lachen, die beiden sind cool.
Lena läuft leise singend auf dem Spielplatz umher. Sie sucht kleine Stöckchen, Blumen und schöne Steine, mit denen sie das Vogelgrab verzieren kann. Statt „Vater-Mutter-Kind“ spielt sie heute „Beerdigung“ mit Tränen und Blumen auf dem Grab.
Max sitzt abseits am Rand der Sandfläche und schaut finster auf die Spielgeräte. Er weiß nicht, was er jetzt machen soll. Blumenpflücken ist doch nur was für Mädchen. Lust, mit seinen Freunden zu spielen, hat er jetzt aber auch nicht.
Blöder Vogel, denkt er und versucht, den Kloß im Hals herunterzuwürgen. Dann reibt er sich verstohlen mit den Händen die feuchten Spuren aus dem Gesicht.