Von Marc Späni

Der Antiquitätenhändler hatte ihn gleich durchschaut. «Sie stöbern mich auf, verfolgen mich durch den ganzen Flohmarkt wegen einem wertlosen Erinnerungsstück einer alten Nachbarin, für die Sie ab und zu einkaufen waren? Ich werde nicht einmal darüber nachdenken, den Kauf rückgängig zu machen, wenn Sie mir nicht die ganze Wahrheit sagen, warum Sie das Bild wiederhaben wollen.»

Sie saßen draußen an einem Tisch, von dessen Platte der rote Lack abblätterte. Dennis hatte seinen Kaffeebecher, den der Händler ihm ungefragt hingestellt hatte, nicht angerührt. Er konnte Kaffee nicht ausstehen. Außerdem war er verzweifelt und hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

Die ganze Misere hatte er seiner Mutter zu verdanken. Genaugenommen waren seine Eltern schon schuld an seiner prekären finanziellen Situation, hatten sie ihm doch bis aufs Allernötigste alle Unterstützung gestrichen, solange er mit seinem Geschichts-Studium nicht vorwärtskam, und jetzt, wo er seinen Trumpf ausspielen wollte und das Bild aus seinem Zimmer in der Elternwohnung herausgesucht hatte, wusste seine Mutter nichts Besseres zu tun als es mit einem Haufen altem Gerümpel einer Trödlerin für den Flohmarkt mitzugeben – zwei Stunden nur hatte er es unbeaufsichtigt herumstehen lassen! Immerhin hatte er den Stand der Frau gefunden, hatte sich den Käufer beschreiben lassen, glücklicherweise einen Stammkunden, den man regelmäßig auf dem Markt antraf, hatte sicher zehn falsche Personen angesprochen, aber schließlich den farblosen, hageren Mann mit der großen Jutetasche gefunden, dem er jetzt gegenübersaß.

Aber wozu? Wenn er dem Händler offenlegte, was es mit dem Bild auf sich hatte und dass er mit einem vierstelligen Verkaufspreis rechnete, würde der es erst recht behalten wollen. Schließlich lebte er davon, Flohmärkte nach solchen Trouvaillen abzusuchen.

Der Hagere musterte Dennis amüsiert, drehte sich dabei eine Zigarette und steckte sie so in den Mundwinkel, dass sie wie angeklebt haften blieb, selbst wenn er den Mund öffnete, um etwas zu sagen oder kleine Rauchschwaden in die kühle Luft zu blasen.

Dennis versuchte verzweifelt eine Geschichte zu erfinden, warum das Bild für ihn bedeutungsvoll, für den anderen aber wertlos sei, kam aber auf nichts. Er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte als sich dem Händler anzuvertrauen und auf ein Wunder an Nächstenliebe zu hoffen. Er rückte seinen Stuhl zurecht, räusperte sich zweimal und begann dann widerwillig, aber wahrheitsgetreu zu erzählen, was es mit dem Foto des weißen Retrievers auf sich hatte.

Als er geendete hatte, zog der andere die Brauen hoch, fixierte Dennis kurz und nahm dann langsam das Bild aus der Tasche, die er an seinen Stuhl gelehnt hatte, was Dennis schon als Demonstration unrechtmäßiger Besitznahme einstufte. Der Antiquitätenhändler lehnte den Kopf zurück und schaute sich die gerahmt Fotografie lange aus der Distanz an, befühlte dann den Rahmen, drehte das Bild um und musterte die Rückseite. «Aus dem Besitz von General Henri Guisan, sagen Sie, signiert und datiert von 1957.» Er kniff die Lippen zusammen und musterte Dennis mit einem Blick, in dem sich Schalk, Spott, Freundlichkeit und Geschäftsinteresse mischten.

«Wissen Sie, wie die Frau an dieses Bild gelangt ist?»

Die Nachbarin, die vor vier Jahren verstorben war, stammte aus Pully, wo der General bis zu seinem Tod gelebt hatte. Das hatte sie Dennis mehrmals erzählt.

«Sie hat ihn persönlich gekannt?»

Dennis zuckte mit den Schultern. Die alte Frau Bollier war ein richtiger Guisan-Fan gewesen, mehrere Bilder des Generals, mit steifem Kragen und lorbeerbekränztem Hut, hatten in der Wohnung gehangen, der Neffe, dieser unsympathische Typ, der nach ihrem Tod die Wohnung geräumt hatte, soll sogar auf seinem Dachboden eine Art Privatmuseum betreiben. Aber ob sie ihn persönlich gekannt hatte – wohl kaum.

«Aber Sie hat es Ihnen vermacht, nicht diesem Neffen?»

«Na ja, ich hatte ihn darum gebeten, und er hatte dieses Bild wohl nicht direkt mit Guisan in Verbindung gebracht.»

Ein Lächeln huschte um den Mundwinkel mit der Zigarette, dann ging die Fragerei weiter. «Taucht das Bild in irgendeinem Katalog, in Dokumenten zum Nachlass des Generals auf?»

«Wissen Sie, ob der General in den 50er Jahren wirklich einen Hund hatte?»

Dennis hatte vor zwei Jahren, mehr um sich im Ambiente seines wertvollen Besitzes zu bewegen als um Gewissheit zu erlangen, eine Ausstellung zum 50. Todestag des Generals in  einem Schloss bei Bern besucht, wo während des Kriegs das Armeekommando stationiert gewesen war. Vom weißen Retriever hatte er nichts erfahren, dafür hatte er Fotos gesehen, wie sich der General Lawinenhunde vorführen ließ.

«Die Handschrift der Signatur?»

«Andere Bilder mit Guisan und dem Hund?»

«Machart des Bildes, Fabrikat?»

Fragen über Fragen, die Dennis mehrheitlich mit Schulterzucken oder Kopfschütteln beantwortete.

Schließlich legte der Händler das Bild zwischen sich und Dennis auf den Tisch, lehnte sich zurück und entließ ein paar Rauchwolke in die kühle Luft. «Wenn Sie das Bild so anschauen, würden Sie auf die Idee kommen, dass es einer historischen Persönlichkeit wie General Guisan gehört haben könnte?»

Dennis kam sich vor wie bei einem seiner ersten Geschichts-Proseminare an der Uni, wo er das Bild mitgenommen hatte, um es in einen Vortrag über den General und seine Rolle in den Medien einzubauen. Prof. Stüssi, der die «Einführung in die Methoden der Geschichtswissenschaft» leitete (Mittelschullehrer, nicht einmal richtiger Professor) hatte sich zwar nicht zur Authentizität des Bildes geäußert, Dennis aber nach wenigen Minuten unterbrochen, von Primarschul-Niveau gesprochen und ihn wegen seines kindischen und unwissenschaftlichen Zugangs vor der ganzen Studentengruppe zusammengestaucht.

Wenn man das Bild auf dem Tisch so anschaute, ja, würde man da auf die Idee kommen, dass es dem großen General Guisan gehört haben könnte? – Dennis musste sich eingestehen, dass der Antiquitätenhändler mit seinem farblosen Trenchcoat und der selbstgedrehten Zigarette noch eher aus dieser längst vergangenen Zeit zu stammen schien als dieser weichgezeichnete Hundekopf auf dem hässlich blau gefleckten Hintergrund.

«Ich bin schon lange Kunsthändler», fuhr der Hagere fort. «Glauben Sie mir: Von all dem, was mir auf Flohmärkten und bei Wohnungsräumungen begegnet, ist höchstens ein Prozent etwas Echtes, etwas Wertvolles, und oft wissen es die Leute gar nicht. Dafür glauben ganz viele, etwas Wertvolles zu besitzen, was sie zu Geld machen können, in Wirklichkeit sind es aber fast immer billige Reproduktionen, Massenprodukte, wertloser Trödel.» Er nahm den letzten Schluck vom Kaffee, der mittlerweile eiskalt sein musste, und stellt den Becher auf den Tisch. «Das hier» – er wies mit dem knochigen Zeigefinger auf das Bild – «ist ein ganz normales Allerwelts-Foto, wie wir sie zu Hunderten bei Wohnungsräumungen finden, die Altersheime hängen voll davon: ein Geschenk zum runden Geburtstag, Erinnerungen an das Haustier, das man einmal besessen hatte… Es tut mir leid, wenn ich Ihre Hoffnungen zerstöre, aber das Bild ist kaum die drei Franken wert, die ich dafür bezahlt habe.»

Dennis schluckte leer. «Aber die Signatur?», startete er einen letzten kraftlosen Versuch.

«Henri? Wissen Sie, wie verbreitet der Vorname ist?» Der Händler schüttelte den Kopf. «Außerdem hatte es Guisan, so weit ich weiß, mit Pferden, nicht mit Hunden.» Er lachte heiser. «Hundenarr war der auf der anderen Seite der Grenze.»

Dennis atmete ein paarmal tief ein und aus und starrte auf den Hund, der so erhaben in die Ferne schaute, während er ganz dümmlich die Zunge aus der Schnauze hängen ließ.  

«Sie fragen sich vielleicht, warum ich das Bild gekauft habe, wenn es wertlos ist», nahm der andere Dennis’ Frage vorweg. «Sehen Sie, ich kann mir nicht jedes Objekt im Detail ansehen, ich kaufe große Mengen und sortiere sie zuhause, immer auf der Suche nach einer echten Perle. Das hier wird im Brockenhaus in einer großen Kiste mit anderen Haustierfotos landen, neben einer Kiste voller Landschaftsgemälden, die ein Einheimischer an einem Touristenort zu Hunderten gemalt hat: völlig wertlos.» Er schob den Hund einige Zentimeter auf Dennis Seite, der den Blick gesenkt hatte und sich auf die Lippen biss.

«Aber wenn Ihnen wirklich an dem Bild liegt», sagte er und zwinkerte Dennis zu, «dann überlasse ich es Ihnen. Sie brauchen mir nicht einmal die 3.- Fr. zurückzuzahlen, als Erinnerung an Ihre Frau…»

«Bollier», ergänzte Dennis müde. Je länger er auf das Bild starrte, desto mehr schien es ihm, als würde der Hund langsam im blauen Hintergrund untergehen und er selber hinterhertauchen. Er löste seufzend den Blick, schob das Bild mit einer entschiedenen Handbewegung dem Händler hin und schüttelte resigniert den Kopf.

 

*

 

Drei Monate später, wenige Tage nachdem Dennis die dritte Betreibung ins Haus geflattert war, erzielte bei der Zürcher Niederlassung von Sotheby’s eine Fotografie aus dem Nachlass des Schweizer Generals Henri Guisan (1874 – 1960) einen Verkaufspreis von sensationellen 380’000 Schweizer Franken. Der anonyme Verkäufer soll die signierte Farbfotographie von 1957, die den Lieblingshund des Generals zeigt, zufällig auf einem Zürcher Flohmarkt entdeckt haben.