Von Ian Sperg

Dieser Tag war so hell und leuchtend, wie schon lange nicht mehr. Der Sommer hatte ewig auf sich warten lassen und war an diesem Morgen mit einem bunten Knall einfach dagewesen.

 

Das Morgenlicht ergoss sich mit voller Wucht über die Welt und ließ die Bäume, Wiesen und Äcker in allen Farben leuchten.

 

Der Vater war mit seinem Sohn seit dem letzten Herbst nicht mehr hier draußen gewesen und nun gingen sie leichtfüßig den bemoosten Waldboden entlang. Die Erde unter ihren nackten Füßen war weich und warm und der kleine Käfig baumelte in der Hand des Vaters mit einem leichten Klingeln hin und her.

 

„Warum hast du sie mitgenommen?“, fragte der Sohn neugierig, während sie an einem kleinen Bachlauf hielten, um etwas zu trinken.

 

Der Vater schmunzelte und blinzelte in die Sonne. „Sie hat es ebenso verdient, den Beginn des Sommer zu erleben, wie wir auch, meinst du nicht? Wie auch die Vögel, Schmetterlinge und alle anderen Bewohner des Waldes.“

 

Der Sohn nickte und breitete die Arme aus. „Wie die Vögel, Schmetterlinge und anderen Bewohner des Waldes“, wiederholte er, ging in die Hocke, schöpfte mit beiden Händen etwas Wasser aus dem Bach und trank gierig davon. Das Wasser war herrlich kalt.

 

Der Vater klopfte sachte an die goldenen Gitterstäbe. „Wach schon auf, kleine Schlafmütze.“

 

Der Sohn stellte sich neben seinem Vater. „Glaubst du, sie freut sich, hier zu sein?“

 

„Aber natürlich“, meinte der Vater. „Das ist schließlich ihr Zuhause. Sie ist hier geboren, weißt du? Und hier wohnten alle ihre Freunde.“

 

„Meinst du, sie leben nicht mehr hier?“, wollte der Sohn wissen aber der Vater zuckte nur mit den Schultern. „Wer weiß das schon, Elfen sind sehr unbeständige Wesen. Und sie kümmern sich nicht sehr umeinander, sagt man. Es war ihr Glück, dass ich sie im Winter hier draußen gefunden habe, so alleine und fast erfroren.“

 

„Vielleicht haben die anderen sie gesucht“, meinte der Sohn nachdenklich.

 

Der Vater lächelte nachsichtig. „Nein. Das hätten sie nicht. Sie wäre ganz sicher hier draußen gestorben. Ganz blass war sie, als sie hier draußen lag, käseweiß. Und ihre Flügel ganz mit Eis bedeckt. Bei uns konnte sie sich erholen.“ Der Sohn nickte verstehend.

 

Wieder klopfte der Vater an die Gitterstäbe. „Wach schon auf“, flüsterte er. „Der Sommer ist da, der Wald leuchtet ganz hell. Sieh dich um.“

 

„Ihre Flügel sind ganz durchsichtig“, meinte der Sohn erstaunt. „In unserer Stube ist mir das nie aufgefallen. Ihr ganzer Körper scheint aus Glas zu sein.“

 

Wieder lächelte der Vater. Sein Sohn hatte noch viel zu lernen. „Das ist das Sonnenlicht“, erklärte er. „Es lässt die Dinge leuchtender und unwirklicher erscheinen, als sie sind.“

 

Der Sohn nickte und setzte sich neben den Käfig. „Glaubst du, wir können sie einen Moment nach draußen lassen?“

 

Der Vater schüttelte energisch den Kopf. „Es ist zu gefährlich. Siehst du den Bussard dort oben?“

 

Der Sohn schirmte mit einer Hand seine Augen ab und entdeckte einen weit entfernten Raubvogel, der über dem Wald seine Kreise zog.

 

„Er scheint zwar weit entfernt zu sein“, sagte der Vater, „aber er sieht doch alles, jede Maus. Er bräuchte nur einen Augenblick, um sich vom Himmel zu stürzen und sie zu packen. Nein, mein Sohn, hier draußen wäre es zu gefährlich. Und nach der langen Zeit wird sie das Fliegen verlernt haben.“

 

„Glaubst du?“, fragte der Sohn und betrachtete neugierig den kleinen, zusammengerollten Körper, der immer durchsichtiger zu werden schien. Der kleine Bauch senkte sich langsam auf und ab. „Sie atmet ganz ruhig“, sagte er. Eine dunkle Wolke kroch langsam über die Wipfel und schob sich vor die Sonne. Ein langer Schatten schob sich rasch den Hügel hinab und eine plötzlich aufkommende Windböe ließ Bäume und Gräser rascheln.

 

Der Vater wischte sich mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

 

„Darf ich sie rausholen?“, fragte der Sohn. „Nur einen Moment. Ich halte sie auch gut fest.“

 

Der Vater schüttelte den Kopf und setzte sich neben seinen Sohn. „Zu gefährlich. Wir wissen zu wenig über sie. Sie könnte dich beißen. Oder entkommen, sobald wir die Tür öffnen. Es ist besser für sie, wenn wir sie nicht stören.“

 

Sie saßen nebeneinander, den Käfig zwischen sich und den Sommer um sich herum. Aber immer mehr Wolken drängten sich vor die Sonne und die Böen wurden stärker.

 

„Ein Gewitter zieht auf“, meinte der Vater. „Das ist gut für den Wald.“

 

Enttäuscht blickte der Sohn nach oben. „Die Sonne war so schön. Ich mag keinen Regen.“

 

„Aber er bedeutet Leben“, sagte der Vater. „Für die Tiere, Pflanzen und alle anderen Bewohner des Waldes. Außerdem ist es doch ziemlich heiß.“

 

Sie saßen weiter schweigend da und betrachteten zärtlich den kleinen schlafenden Körper, der ruhig dalag, von seinen zarten Flügeln umwickelt und sich in leisen Atemzügen leicht bewegte.

 

„Sieh doch“, rief der Sohn plötzlich und deutete auf eine Stelle in der Luft. Der Vater hob den Kopf.

 

Nicht weit von ihnen entfernt bewegten sich kleine leuchtende Punkte wie winzige Sterne, die in hohem Tempo umherschwirrten. Sie tanzten umeinander herum und dem Sohn war es, als würden sie Fangen spielen. „Was ist das?“, wollte er wissen.

 

Der Vater lächelte. „Das sind andere Elfen, mein Sohn. Auch sie freuen sich über den Sommer.“

 

Erstaunt sah der Sohn dem leuchtenden Treiben zu. „Elfen sind leichtsinnig“, stellte er fest. „Sie sollten sich lieber vor dem Bussard in Acht nehmen.“

 

„Ja, das sollten sie“, meinte der Vater nur, schüttelte schmunzelnd den Kopf und legte seine Hand auf den Käfig. „Zum Glück ist sie in Sicherheit.“

 

„Zum Glück“, bestätigte der Sohn.     

 

Voller Staunen betrachteten sie das leuchtende Treiben im aufkommenden Wind, während die Vögel, Schmetterlinge und alle anderen Bewohner des Waldes weiter den Sommer begrüßten und sich nicht am aufkommenden Gewitter störten. Der Sohn lächelte glücklich. Das Leben war in vollem Gange.

 

Der Wind strich weiter durch die Bäume und Sträucher und nur er allein war es, der den kleinen, leblosen Körper sanft hin und her wog und sich bewegen ließ.