Von Ellie Eder

Seit Wochen beobachtete Cataleya den alten Mann. Er kam fast täglich in ihre kleine Galerie und stand dann lange vor dem Bild ihrer Großmutter. Manchmal lächelte er sie an, manchmal flossen ein paar Tränen, die er verschämt mit einer raschen Handbewegung wegwischte, und manchmal bewegten sich seine Lippen als spräche er zu ihr. Mitunter schien es, als wolle er ihr zart über die Wangen streichen, seine mageren Finger näherten sich zitternd ihrem Gesicht, zuckten jedoch kurz vor der Berührung zurück.

Als er wieder einmal tief in das Bild versunken dastand, trat Cataleya zu ihm hin. „Erinnert Sie die Frau an jemanden?“, fragte sie leise.

„Ich bin ein sentimentaler alter Depp“, sagte er. „Wo haben Sie das Bild her?“

„Es stammt aus dem Nachlass meiner Großmutter und zeigt sie als junge Frau. Es muss ihr viel bedeutet haben, denn es hing immer über dem Sofa im Wintergarten, ihrem Lieblingsplatz. Welche Bewandtnis es mit dem Bild hat, habe ich nie erfahren. Sie hat nie darüber gesprochen. Als sie mir die Galerie vererbt hat, hat das Bild, das ihr so am Herzen lag, einen Ehrenplatz auf dem schmalen Bord an der hinteren Wand bekommen. So kann man es von jeder Stelle des Raumes sehen.“

„Ich kannte sie.“

Cataleya sah ihn erstaunt an. „Sie kannten meine Großmutter? Sind Sie da ganz sicher? Die Frau auf diesem Bild?“

Er lächelte. „Ganz sicher bin ich da, junge Dame, ganz sicher. Die Frau am See, in ihrem bunten langen Kleid und dem wehenden Haar, die habe ich seinerzeit gemalt.“

Cataleya starrte den Mann staunend und fragend zugleich an. Als sie sich etwas gefangen hatte, wollte sie wissen, woher er ihre Großmama kannte. „Würden Sie mir erzählen, wie es zu diesem Bild kam?“ Sie sah ihn bittend an. Er nickte. Sie hängte das Geschlossen-Schild an die Tür und bat ihn in die kleine Küche im hinteren Teil der Galerie. Sie stellte zwei Tassen auf den kleinen Tisch, forderte ihn auf, sich zu setzen, und goss Kaffee ein. Er begann zu erzählen.

„Es war im Sommer zweiundsiebzig. Ich war mit Freunden zum Zelten am Schwarzensee; ein malerischer See in den Bergen des Salzkammerguts. Kennen Sie sicher.“

Cataleya nickte. Sie war ein paar Mal mit ihrer Großmutter dort gewesen.

„Wir verbrachten die Tage mit Schwimmen und Blödeln und hüpften den ganzen Tag übermütig durch die Wiese. Abends saßen wir dann um ein Lagerfeuer, grillten auf Holzstäbe gespießte Knackwürste, tranken Bier, und einer spielte Gitarre. Dazu sangen wir die aktuelle Hitparade auf und ab.“ Er machte eine Pause. „Katrina …“

„Meine Großmutter“, flüsterte Cataleya.

„Katrina kam spätabends allein an den See, und wir halfen beim Aufstellen ihres Zeltes. Anschließend luden wir sie zum Essen ein, tanzten zur Gitarrenmusik und sprangen zwischendurch zum Abkühlen ins Wasser.“

Er machte eine Pause, fragte, ob er rauchen dürfe, Cataleya nickte, er bot ihr eine Zigarette an, sie nahm sie und steckte sie in ihren schwarzen, mit goldenem Mundstück versehenen Zigarettenspitz.

„Am nächsten Morgen“, fuhr er dann fort, „ich wollte schon früh in den See hinausschwimmen, saß sie am Ufer und schaute nachdenklich auf das Wasser. Die Sonne war gerade über den Bergen aufgegangen, der Anblick, der sich mir bot, war einfach umwerfend. Ich holte meine Malutensilien, die ich immer mit dabeihatte, und fragte Katrina, ob ich sie malen dürfe. ‚In welcher Pose hättest du mich denn gern? Vielleicht als Denkerin?‘, dabei lachte sie, legte das Kinn auf ihre Hand und stützte den Ellbogen auf das Knie. ‚Oder als Jane Avril?‘, sie sprang auf und ahmte die Tanzfigur der Frau auf dem gleichnamigen Bild von Toulouse Lautrec nach. ‘Wie wäre es‘, sie setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin, ‚mit einer Dame aus dem Salon in der Rue des Moulins?‘. So ging das eine ganze Weile. Ich sah ihr fasziniert zu. Offensichtlich hatte sie Spaß daran, in den unterschiedlichsten Stellungen diverser Porträts zu posieren. Es dauerte geraume Zeit, bis sie schlicht als Katrina dasaß und sich von mir malen ließ.“

Er zündete sich die nächste Zigarette an.

„Die folgenden Tage waren wir unzertrennlich. Meine Freunde fuhren nach Hause, ich blieb. Blieb, bis auch Katrina aufbrach. Als ich sie zum Abschied fragte, wann wir uns wiedersehen würden, sie lebte hier in Salzburg, ich in Wien, sagte sie: ‚Ich bin verheiratet, Henri. Glücklich verheiratet.‘ Vor einigen Wochen habe ich sie dann hier wiedergefunden. Das Bild habe ich ihr damals zum Abschied geschenkt.“

Sie schwiegen eine Weile, tranken Kaffee. Cataleya war sehr nachdenklich geworden. Nervös zupfte sie am Rüschenkragen ihres, dem Charleston-Stil nachempfundenen, schwarzen Spitzenkleides. „Henri … Henri …, nein, diesen Namen hat sie nie erwähnt.“

„Entschuldigen Sie“, sagte der Mann jetzt, „ich habe mich Ihnen gar nicht vorgestellt. Henri Stein mein Name.“

Cataleya räusperte sich. „Wann, sagten Sie, war das, Herr Stein? Neunzehnzweiundsiebzig?“

„Mmh.“

„Es gab etwas im Leben meiner Großeltern“, begann nun Cataleya zu erzählen, „davon wussten nur drei Personen: Großmama, Opa, und Hanna, die beste Freundin meiner Oma. Großmama starb vor zwei Jahren an einem Schlaganfall, ein paar Wochen später folgte ihr Großvater. Die beiden haben ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Hanna jedoch, sie war immer der Ansicht gewesen, dass Mama und ich ein Anrecht auf die Wahrheit hätten, fühlte sich nach dem Tod der beiden nicht mehr zu Loyalität verpflichtet und lüftete das Geheimnis.“

Cataleya strich sich eine leuchtend blaue Haarsträhne aus dem blass geschminkten Gesicht. Während sie weiter erzählte, nahm sie eine weitere Zigarette aus der Packung. „So erfuhren wir vom großen Kinderwunsch meiner Großmutter. Großvater konnte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Er war zeugungsunfähig. Den Grund dafür kannte Hanna nicht. Die, wie sie sie nannten, assistierte Reproduktion – die Bezeichnung künstliche Befruchtung wäre den beiden nie über die Lippen gekommen – steckte damals noch in Kinderschuhen; war also keine Option. Großmutter war auch der Meinung, dass, sollte sie je ein Kind bekommen, dessen Leben während eines Liebesaktes beginnen sollte, und nicht im weiß gekachelten Behandlungsraum einer Kinderwunschklinik, wie es heute heißt. Großvater gab ihr zu verstehen, dass er nichts dagegen habe, das Kind eines anderen Mannes großzuziehen. Nur, mit dem Mann selbst wolle er nichts zu tun haben. Katrina überlegte eine Weile und kam zu dem Schluss, dass, wollte sie nicht gänzlich auf Kinder verzichten, dies der einzig gangbare Weg war.“

Jetzt war es Henri Stein, der sie fragend ansah.

„Meine Mutter kam im Frühjahr 1973 zu Welt“ sagte Cataleya.

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