Von Jasmin Fürbach

Staub. Er bedeckte alles, von Schränken über Kinderspielzeug. Selbst der alte Lehnstuhl war nicht verschont geblieben. Das rote Polster schien jede Farbe verloren zu haben, war ausgeblichen in den Jahren, in denen die Sonne durch das Dachfenster hereingeschienen hatte. Die Türe knarzte bei jeder Bewegung, der Boden unter den Füßen wartete nur darauf einzubrechen. Die Holzbretter zeigten Spuren des Morsches.

 

Ihr Blick glitt über von Spinnweben verhangene Wände und verblieb für einen Moment bei dem Portrait ihrer Großmutter. Sie musste einmal ein hübsches Mädchen gewesen sein, ihr Haar ebenso hell wie das ihrer Enkelin, jedoch länger und kunstvoll geflochten. Eine Welle der Nostalgie überkam sie bei dem Anblick. Lange schon hatte sie nicht mehr an die freundliche, alte Dame gedacht, doch nun drohten die Erinnerungen an selbstgebackene Kekse und den Geruch von frischen Erdbeeren sie zu überwältigen. Sie dachte zurück an Sommertage, an denen sie im Garten gespielt hatte, umgeben von duftenden Rosenblüten.


Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Trance. Die Stimme ihrer Mutter drang zu ihr durch, die Bitte um Hilfe bei der Zubereitung des Abendessens blieb ungehört. Ihre Finger strichen über die eingetrocknete Farbe, von der die Leinwand bedeckt wurde, jede Erhebung, jeder Pinselstrich erfüllt vom Voranschreiten der Zeit. Ein Set an Spielkarten fing ihren Blick auf, als sie um die Ecke bog und sich weiter vorantastete. Pokerabende mit ihren Brüdern hatten in hitzigen Debatten über immer höhere Einsätze geendet. Laut hallten die Stimmen in ihren Ohren, als wäre sie inmitten einer Runde Texas Hold’em.

 

Die Puppe neben dem Kamin, der schon lange nicht mehr in Betrieb war, lächelte sie fröhlich an. Ihr fehlte ein Büschel Haare direkt über der Stirn, doch auch dieser Makel nahm ihr nicht den kindlichen Charme. Sie fühlte sich in Kindertage zurückversetzt, in denen sie Teepartys gegeben hatte. Das Service stand immer noch auf dem ausklappbaren Campingtisch. Die Malerei auf dem Porzellan war bereits an einigen Stellen abgeblättert.

 

Ein schiefstehendes Regal ließ sie innehalten auf ihrem Weg durch gestapelte Magazine und Möbelstücke, die nicht zueinander passten. Sie verkniff sich ein Grinsen, als sie das karierte Tischtuch auf einer gestreiften Kommode hochhob. Bei näherer Betrachtung handelte es sich bei dem Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, um ein Buch anstelle der dort vermuteten Schmuckkiste. Sie war von kurzer Enttäuschung erfasst, die jedoch schnell abebbte, als ihr der Titel des Buchs ins Auge fiel. Auf dem reichlich verzierten Ledereinband war das Wort „Stillstand“ eingraviert. Sie hatte von diesem Buch gehört, als ihr Großvater aus seiner Kindheit erzählt hatte. Es waren wundervolle Geschichten gewesen, von fliegenden Kindern, von Feen und seltsamen Trollen, die goldene Kessel versteckten. Aber auch von Uhren, die verkehrt herumliefen, von grausamen Wesen, die des Nachts in die Zimmer der Kinder schlichen und ihnen im Schlaf böse Träume bescherten. Anstelle der Zahnfee hatte er von Kobolden erzählt, die die Zähne alten Menschen brachten, um daraus ein neues Gebiss für sie zu fertigen. Sie musste lachen bei der Vorstellung eines kleinen Kobolds, der in den Mund einer netten, alten Dame kletterte, um den Milchzahn eines Kindes anzubringen. Nichtsdestotrotz hatte sie solche Geschichten geliebt, die ihr die graue Realität versüßt hatten.

 

Von Neugierde überkommen sah sie sich um auf dem geräumigen Dachboden, fasste ein weiteres Mal den Lehnstuhl ins Auge und beschloss, die Geschichte zu lesen, wie ihr Großvater es immer getan hatte. Sie schob die alte Schneiderpuppe aus dem Weg, um Platz zu schaffen für den Lehnstuhl, der in seiner momentanen Position nicht von der Leselampe erleuchtet wurde. Die erste Seite ließ sich nur schwer aufschlagen, steif wie sie war von so langer Zeit, in der sie regungslos zwischen den Buchdeckeln eingeklemmt gewesen war. Es dauerte nicht lange, da flogen ihre Augen nur so über die Zeilen, Seite um Seite wurde umgeblättert, während sie meinte die alte Standuhr zu ihrer rechten bei jeder vollen Stunde einen leisen Gong von sich geben zu hören.

 

Die Zeit schien stillzustehen und gleichzeitig so viel schneller zu verstreichen, als gewöhnlich. Sie war versunken in die Worte, die sich zu Welten in ihrem Kopf formten. Fremde Welten, die noch unerforscht waren und sie überzeugten, sich auf Entdeckungsreise zu begeben. Auf ihrem Weg traf sie ebenjene Wesen, die in den Geschichten ihrer Kindheit die Protagonisten gewesen waren. Sie ließ sich von einem Kobold auf eine warme Milch einladen, von einer Fee durch den finsteren Wald führen, um mit dem König zu sprechen und besuchte selbst die Trolle mit ihren goldenen Kesseln.

 

Erst als sie am Ende angelangt war, klappte sie das Buch wieder zu, erfüllt von der Leichtigkeit mit der sie über Wolken spaziert war. Sie wandte sich um zum Fenster, sah jedoch lediglich ihr eigenes Spiegelbild, das ihr neugierig entgegenblickte. Das Dunkel draußen hatte sich kaum verändert seit sie sich in den Lehnstuhl hatte fallen lassen. Mit kritischem Blick sah sie auf das Ziffernblatt der Standuhr.

 

Es war keine Minute vergangen.

 

Gerade als sie sich erheben wollte, um nachzusehen, ob die Uhr überhaupt funktionierte, ertönte der Gong, der die volle Stunde signalisierte. Sie war sich sicher gewesen, dass es kurz vor zehn gewesen war, als sie das Buch aufgeschlagen hatte. Doch die Uhr schien zu widersprechen, da sie erst jetzt entschied, zehn zu schlagen. Mit einem Kopfschütteln legte sie das Buch zurück an seine Stelle unter dem Tischtuch. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel – vom Türstock rieselte Putz bei dem Aufprall – ließ sie auch das seltsame Gefühl hinter sich, das sie überkommen war.

 

Möglicherweise stand auf dem Dachboden die Zeit tatsächlich still.