Von Hans-Günter Falter

Das Virus macht mir Angst. Ich kann es nicht sehen, nicht riechen, nicht spüren. 
Es kann überall auf mich lauern. Vielleicht auf dem Wochenmarkt.
Vielleicht kommt es durch meine Kinder, die jetzt wieder, zumindest ab und zu, in die Schule gehen.
Vielleicht hatte ich es aber auch schon längst, bin immun und habe nichts davon bemerkt. War da nicht dieses Unwohlsein vor ein paar Wochen, Halsweh hatte ich, vielleicht sogar Fieber? Beim Arzt war ich nicht, so schlecht ging es mir schließlich nicht.
Ich fühle mich verunsichert. 

Was mich derzeit aber mehr beschäftigt sind die „Rassenunruhen“ in den USA und Demonstrationen gegen Rassismus in der „Westlichen Welt“.
Ich denke viel über diese längst überfälligen Proteste nach. Rassismus ist als Thema schließlich auch viel griffiger, als dieses ominöse Virus; sichtbar, spürbar, greifbar, nachvollziehbar. Die Ungleichbehandlungen sind belegt und die betroffenen Menschen authentisch. Das Thema ist mir viel näher, ich bin davon persönlich betroffen und fühle mich ertappt. Wechsele ich nicht auch tendenziell die Straßenseite, wenn sich vor mir junge Männer, in einer mir nicht verständlichen Sprache, laut unterhalten? 

Bin ich Rassist? Ja, aber nur, wenn es um Hühner geht. Ich züchte nämlich Hühner: Vorwerker, um genau zu sein. Und nein, die haben nichts mit Staubsaugern zu tun. Diese Hühner sind mein Hobby, ich kann mich herrlich entspannen, wenn ich im Garten sitze und die Tiere beobachte, wie sie herumlaufen, ein Sandbad nehmen und auf der Jagd nach Fressbarem sind. Ich sehe diese Hühnerrassengeschichte nicht so bierernst, wie manche Züchterkollegen. Die Kriterien der Rasse sind allerdings sehr klar festgelegt, Vorwerkhühner haben ein genau definiertes Aussehen und bestimmte Eigenschaften, wenn sie das nicht erfüllen, werden sie von der Zucht ausgeschlossen. Ende.

Aber Menschenrassen? Bei dem Gedanken läuft es mir kalt, sehr kalt, den Rücken hinunter. Immerhin gab es schon viele Bestrebungen einen jeweils passenden Menschentypus für bestimmte Zwecke zu schaffen, durch Selektion, so wie bei meinen Hühnern. Nicht nur bei den Nazis, aber da sehr gut belegt und dokumentiert.
Mit Sicherheit gibt es auch aktuell einige Regime, die ein großes Interesse an der Entwicklung einer folgsamen, arbeitswilligen oder kampfbereiten „Bürgerrasse“ hegen, daran bestehen kaum Zweifel.
Mein Schaudern hält an.

In den USA gehen aber keine Menschen auf die Straße, die für einen bestimmten Zweck gezüchtet wurden. Ihre Vorfahren wurden für einen bestimmten Zweck entführt, ausgebeutet und benutzt. Sie haben sich dieses gelobte Land, im Gegensatz zu den meisten anderen Einwanderern, nicht ausgesucht. Sie wurden ihrer Wurzeln beraubt und hatten nie die reelle Chance zu ihnen zurückzukehren.
In vielen, viel zu vielen, Köpfen haben irrationale Vorstellungen, Ängste und Vorurteile die Jahrhunderte überdauert, sich verfestigt und etabliert. Die brutale Ermordung eines Mannes durch Polizisten, lässt dieses bösartige Geschwür wieder aufbrechen und ergießt sich über das Land. 

Mittlerweile hat sich ja allgemein herumgesprochen, dass die gesamte Menschheit aus Afrika stammt, und auch, das der Durchschnittseuropäer genetisch sehr viel enger mit den Asiaten verwandt ist, als zwei beliebige Schwarzafrikaner miteinander. Die genetische Vielfalt ist unter Schwarzen Menschen sehr viel höher. Aber das tut eigentlich gar nichts zur Sache.
Ich verstehe nämlich schon alleine die Logik der Zuordnung zu den sogenannten Rassen nicht.
Einen Menschen aus Nordschweden, mit blondem Haar und blauen Augen, definieren wir als Weiß. Menschen aus Südspanien, oder aus Griechenland, die, rein optisch, dem Schweden nicht sonderlich gleichen, ebenso. Seltsam.
Das Kind eines Schwarzen und eines Weißen Menschen gilt aber, ganz unabhängig von seiner tatsächlichen Hautfarbe, als Schwarz. Warum? Vererbt sich schwarz dominant? Habe ich da im Biologieunterricht nicht aufgepasst? Oder stimmt ein ganzes Denksystem nicht? Ich bin überfordert.
Ist nicht jeder Mensch ein Geschenk? Gibt es bessere und schlechtere Geschenke? Falsche Verpackung = schlechtes Geschenk. Welche fatale Anmaßung und Überheblichkeit.

Bei meinen Hühnern, um das Beispiel nochmals zu bemühen, sind es bei züchterischen Rasse-Leistungsschauen einzig die Äußerlichkeiten, auf die es ankommt.
Vielleicht sollten wir, wenn wir schon die Menschheit nach äußeren Gesichtspunkten einsortieren wollen, andere offensichtliche Merkmale auswählen: die Rasse der Übergewichtigen; die Rasse der Zahnprothesenträger, die Rasse der Depressiven, die Rasse der Eigenheimbesitzer, die Rasse der 40-jährigen … .
Diese Rassen wären dann durchlässig, wandelbar, nicht von Geburt an festgeschrieben.
Rassen mit der Chance auf Veränderung.

Aber zum Glück gibt’s bei uns ja keine amerikanischen Verhältnisse, wir Europäer kennen das Rassen-Problem schließlich kaum. Obwohl, …  immerhin waren es Europäer, die den Sklavenhandel massgeblich betrieben hatten. Aber das ist ja schon so lange her.
Wir sind heute sehr viel aufgeschlossener und toleranter. Denken wir.

Das Thema macht mich betroffen, darüber sollte ich eine Kurzgeschichte schreiben. Etwas von Relevanz, mit einem überraschenden Schluss. Vielleicht so: War nur ein schlechter Witz, alles ausgedacht, Horror-Science-Fiction. Logisch sind alle Menschen gleich. Dieser Rassenquatsch ist nur einem kranken Hirn entsprungen. 

Leider ist das aber nicht so, davon kann ich euch ein Lied singen. Ich habe nämlich auch eine absonderliche Auffälligkeit. Die sieht man mir nicht unbedingt an, aber wenn ich sie erwähne, was ich nur äußerst selten tue, halten meine Gesprächspartner reflexartig ihre Portemonnaies, Handys und sonstige Wertgegenstände fest und ich spüre ihr schleichendes Unbehagen in meiner Gesellschaft. Alles was ich sage, oder jemals gesagt habe, wird neu beleuchtet, bewertet und hinterfragt. Gerade auch von denen, die sich ja für sooo tolerant halten.
Ich bin nämlich Manouche. Ihr nennt uns gewöhnlich Zigeuner, aber das Wort hat einen schlechten Klang bei uns. Für dich gehöre ich deshalb zu den Sinti. Aber das macht es auch nicht besser.
Rassismus ist wie das Virus, du kannst nie genau wissen, ob du es hast, oder ob du dich noch damit anstecken wirst.  

 

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