Von Winfried Dittrich

Rot. Blau. Gelb. Grün. Bio-Qualität. Toll, dachte ich, das wird der Hit für die Kinder.

Dem Nachwuchs multisensorische Erfahrungen ermöglichen, das hörte sich toll an, als mir dies die Verkäuferin in dem Fachgeschäft für Spielzeug und Bastelbedarf erklärte. Also packte ich vier in Recyclingkarton verpackte Sets ein.

Jetzt im April würde das Wetter zeitweise schlechter werden, und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Kinder wären da sicher willkommen – bei den Kindern und den Eltern. „Muss man bei dem Produkt irgendetwas beachten?“, fragte ich beim Bezahlen noch.

„Nein, da müssen Sie sich überhaupt keine Sorgen machen“, erklärte mir die Verkäuferin mit einem Strahlen auf dem Gesicht. „Sie und Ihre Kinder können da ganz entspannt rangehen!“

Ja, die Kinder – nicht meine eigenen. Vier Nichten habe ich. Drei davon sind Schwestern. Wenn die sich zusammen mit ihrer Cousine in einer Reihe aufstellen, dann sehen sie aus wie die Orgelpfeifen.

Eigentlich hatte ich gedacht, an jenem Wochenende noch Orgelmusik zu hören, denn ein großes Ereignis stand ins Haus. Ich sollte mal wieder in die Kirche gehen. Die erste Erstkommunion in der Familie seit achtundzwanzig Jahren, seit meiner eigenen.

Wir gingen zwar alle seit Jahren nicht mehr regelmäßig in die Kirche, und einer meiner Brüder hatte nur standesamtlich geheiratet. Aber bestimmte Sakramente empfing man eben doch noch. Das war allen wichtig – der guten Ordnung halber. Man wollte ja das intakte Bild aufrecht erhalten, das von unserer Familie stets in die Nachbarschaft der Siedlung abgestrahlt worden war.

Jedenfalls wurde ein großes Fest vorbereitet, fünfundzwanzig Gäste eingeladen, eine entsprechend große Tafel im Lokal meines Onkels reserviert, und auch in anderen Bereichen wurde nicht gespart.

„Dick auftragen“ – dieses Prinzip scheint allen Blutsverwandten meiner Familie genetisch einprogrammiert zu sein.

Nach vier Stunden auf der Autobahn kam ich an diesem Samstagnachmittag bei meinem Elternhaus an. Es wurde von meiner Mutter und den Familien meiner beiden Brüder bewohnt. Ich ging direkt in den Garten.

„ONKEL PAUUUL!!!“, hörte ich die vier Mädchenstimmen gleichzeitig brüllen. Sekunden später umklammerten vier kleine Menschen meine Beine.

„Was hast Du uns mitgebracht?“, fragte Lieschen. Dieses vierjährige, vor Energie nur strotzende Kind strahlte mich mit seinen blauen Augen erwartungsvoll an. Denn bisher brachte ich ihnen immer etwas mit.

„Hallo, erstmal. Lieschen, lass mich mal ankommen. Ich trinke noch etwas und bin danach ganz für euch da. Wo ist denn eure Mutter?“

„Die holt unsere Kleider ab“, erklärte mir Marie, die Älteste. „Für Sonntag. Die Schneiderin ist erst heute fertig geworden. Ich hol‘ dir was zu trinken.“ Wir spielten eine Weile weiter im Garten.

Die Kinder waren jedes Mal total heiß auf meine Geschenke. Anfangs kaufte ich nämlich immer wieder irgendwelche „Terror-Spielzeuge“ mit Batterien oder mit Aufklebern, Musikinstrumente oder buntes Plastikspielzeug in den schrillsten Farben. Die Kinder standen drauf, und ihre Eltern konnte ich damit immer ein bisschen ärgern. Manchmal brachte ich einfach frische Batterien für schon vorhandene Spielzeuge mit. Irgendwann hatten wir in der Familie aber ein ernstes, klärendes und völlig berechtigtes Gespräch, weil die Eltern es leid waren, bunte Plastikteile oder Batterien aus den Mündern der beiden Zweijährigen zu fischen. Im Ergebnis war ich sehr einsichtig, und wir trafen eine Vereinbarung, wonach ich zukünftig nur pädagogisch wertvolle Geschenke mitbringen würde.

Also holte ich schließlich die vier Päckchen aus dem Wagen, zeigte sie den Kindern und übergab sie Marie mit den Worten: „Das packt ihr mal schön weg. Das ist etwas für Regentage. Im Moment scheint ja die Sonne und wir sind im Garten.“ Die Kinder verschwanden mit ihren Geschenken brav im Kinderzimmer und kamen zum Spielen in den Garten zurück.

Nach einer Weile kam Katja, meine Schwägerin, von der Schneiderin zurück. Ich ging mit ihr ins Haus. „Kinder! Marie, Lieschen, Thekla, Lotta! Kommt alle mal ins Wohnzimmer!“, rief Katja den Kindern nach draußen in den Garten zu. „Eure Kleider sind da! Wir machen eine Modenschau!“ Katja zog vier Kleider aus der Tasche, die sie für den Erstkommunionstag hatte anfertigen lassen. Das weiße Kommunionkleid für Marie sah aus wie ein Brautkleid in Miniaturform. Die drei anderen Kleider passend dazu, jedoch etwas dezenter und noch kleiner. Die Kinder stürmten das Wohnzimmer und zogen die Festkleidung schnell über.

Klasse sahen sie aus. Ich blickte mich um und guckte in stolze Gesichter meiner Brüder Fred und Waldemar, meiner beiden Schwägerinnen Katja und Hanne, und meiner Mutter, die zwischenzeitlich dazugekommen waren. Waldemar nahm seine teure Spiegelreflexkamera aus dem Wohnzimmerschrank und hielt die vier weiß gekleideten Orgelpfeifchen fotografisch fest. Das war schon derart feierlich, dass meine Mutter die Szene mit einer Flasche Sekt begießen wollte. Für solche Gelegenheiten hat sie immer Getränke kalt stehen.

Während meine Mutter den Sekt aus ihrer Einliegerwohnung holte, stellte Katja Sektgläser bereit. Hanne ging in den Keller, wo sie immer eine Flasche Orangensaft zum Verdünnen lagerte – sie verträgt nicht so viel. Und ich konnte mal ein paar Worte mit meinen älteren Brüdern wechseln. Eine wirklich tolle Stimmung war das. Waldemar ließ das gerade geschossene Bild der vier Mädchen auf dem riesigen Flachbildfernseher anzeigen, der dort in seinem Wohnzimmer stand, so dass wir alle gemeinsam den schicken Familiennachwuchs betrachten konnten.

„Vier hübsche Prinzessinnen sind das“, sagte meine Mutter voller Stolz. Sie war schon länger sehr aufgeregt, das erste Enkelkind zur Erstkommunion begleiten zu können. „Marie sieht ja fantastisch aus! Wie eine kleine Braut. Die drei Kleinen bekommen am Sonntag Haarreife mit weißen Schleifen von mir geschenkt, die ganz toll zu den weißen Lackschühchen passen. Das wird das I-Tüpfelchen!“

„Mama, ist das nicht ein bisschen übertrieben? Und ein bisschen teuer?“, fragte ich.

„Ach, Paul, lass mir doch die Freude. Ist doch ein Geschenk“, entgegnete mir meine Mutter und blickte wieder selig auf den Bildschirm.

„Geschenk, das ist das Stichwort! Na, was hat denn der Onkel den Prinzessinnen diesmal mitgebracht?“, fragte Katja mit einem gespielt ernsten Gesichtsausdruck, der mich wohl an das klärende Gespräch von vor ein paar Wochen erinnern sollte.

„Keine Sorge, Katja“, sagte ich lachend zurück. „Alles Bio, alles sicher und alles pädagogisch wertvoll! Damit sie mal multisensorische Erfahrungen machen können.“ Richtig stolz war ich auf mich und diese so sorgfältig ausgewählten Geschenke. Waldemar stieß mir mit der Faust in die Seite und hob anerkennend den Daumen. Anscheinend war er erleichtert, dass diesmal kein Ärger wegen meiner Geschenke ins Haus stand.

„Die Kleider wurden nach Maß angefertigt“, erzählte Katja, die sich wieder dem Fernseher zugewandt hatte. „Den Schnitt habe ich mir von einem Brautkleid abgeguckt.“ Ihre Schwiegermutter und meine andere Schwägerin versetzte sie damit in großes Staunen. Ich klinkte mich aus der Unterhaltung aus und hörte nur noch flüchtig etwas über den besonderen Stoff. Brautsatin und Organza oder so ähnlich.

Zusammen mit Waldemar und Fred ging ich noch einmal nach draußen in den Garten, um das Spielzeug einzuräumen und die Polster der Gartenstühle ins Haus zu holen, denn das Aprilwetter bescherte uns einen Schauer.

Wieder in Waldemars Wohnzimmer angekommen, drückte mir meine Mutter die noch fast halbvolle Sektflasche in die Hand und deutete mir, nachzuschenken. Als der Rest auf alle Gläser aufgeteilt war, sagte sie laut: „Prost! Auf dieses schöne Festtagswochenende!“ Wir stießen nochmals an. Dann wurde es kurz still.

„Wo sind eigentlich die Kinder“, fragte ich. „Es ist irgendwie ruhig.“

„Ein bisschen zu ruhig“, meinte Katja. „Ich hatte sie ins Kinderzimmer geschickt, weil es anfing zu regnen. Die müssen auch mal wieder aus den Kleidern raus. Ich gehe gleich mal nachsehen.“ Katja machte sich mit dem Sekt in der Hand auf den Weg in den hinteren Teil der Wohnung.

Ungefähr zehn Sekunden nachdem sie losgegangen war, hörte ich einen ohrenbetäubenden Schrei aus dem Kinderzimmer, gefolgt von meinem Namen. „PAUL!!! NEIN!!! OH NEIN!!!“, brüllte Katja mehrmals.

Ich spurtete ins Kinderzimmer. Sechzehn Töpfchen voll Fingerfarbe waren dort mit vollen Händen auf vier weiße Kleider und darin steckende Kinder verteilt worden. Die kleinen Prinzessinnen hatten ganze Arbeit geleistet und dick aufgetragen. Die Verkäuferin hatte recht. Die Farbe war dickflüssig, wie Pudding. Sie tropfte nicht und spritzte kaum; Fußboden und Wände waren verschont geblieben.

Auf meinen Hinweis, dass die Verkäuferin mir auch versichert habe, die Farbe sei leicht auswaschbar, erfuhr ich, dass man Brautsatin und Organza nicht einfach waschen könne.

Dieser Information etwas Nachdruck verleihend, verschaffte Katja mir darauf hin die erste bewusste multisensorische Erfahrung meines Lebens. Trockener Sekt kribbelt in der Nase, klebt auf der Haut und brennt in den Augen. Eine Ohrfeige brennt auch, nur irgendwie anders.

Version 2.0