Von Andreas Schröter

Wenn ich morgens im Bett lag und einen Fuß hob, dann schwammen meine Malawisee-Buntbarsche an die Scheibe ihres Aquariums. Sie sahen die Bewegung und hofften, dass es bald Frühstück gab. Man könnte sagen: Die Fische mochten mich. Vielleicht liebten sie mich ja sogar. Konnte das sein? Ein schöner Gedanke jedenfalls, der mich sofort einen Hauch fröhlicher stimmte. Vielleicht könnte ich die Anti-Depressiva einfach durch den Anblick meiner mich liebenden Fische ersetzen. Mich würde interessieren, ob die Tiere auch bei der Bewegung eines anderen Menschen an die Scheibe schwimmen würden. Nun, ich würde es nie erfahren. Außer mir selbst kam nie jemand in meine Dachkammer.

Das machte mir nicht besonders viel aus. Ich war zufrieden mit meinem Leben, so wie es war. Nach dem Frühstück – immer zwei Tassen starker schwarzer Kaffee, eine Schnitte mit Schinken, eine mit Salami – bereitete ich mich auf meinen Job im Einwohnermeldeamt vor. Dort war ich ein beliebter Kollege, weil es mir durch meine ruhige Art gelang, auch schwierigste Kunden zu besänftigen. Einmal hatte jemand ein Messer gezückt, weil er nicht verstehen konnte, dass wir ihm ohne biometrisches Lichtbild keinen Personalausweis ausstellen konnten. Am Ende war ich es, der den Mann beruhigte.

Abends wärmte ich mir ein Fertiggericht in der Mikrowelle auf, telefonierte mit meiner 90-jährigen Mutter im Seniorenheim, und pünktlich um acht saß ich vor der Tagesschau. Danach hatte ich die große Netflix-Auswahl. Manchmal ließ ich den Fernseher aus und hörte ein klassisches Konzert – zum Beispiel von Brahms, Wagner oder Mahler. Dabei hätte ich gern mal ein Glas Wein oder Bier getrunken, aber das ging wegen der Tabletten nicht. Ja, ich hatte ein zwar gleichförmiges, aber gutes Leben.

 

***

Neulich im Amt setzte sich ein Mann in den Wartebereich, dessen Bewegungen mir gleich seltsam vertraut vorkamen. Und als er dann, als seine Nummer endlich aufgerufen wurde, tatsächlich an meinen Schreibtisch kam, erkannte ich ihn. Es war Jürgen, mit dem ich vor über 40 Jahren in derselben Schulklasse gewesen war. Heute waren wir beide um die 60, Jürgen hatte keine Haare mehr und um die Mitte herum kräftig zugelegt. Ich bildete mir ein, deutlich besser gealtert zu sein. Aber er war nach wie vor Jürgen – mit Jürgens Lachen und Jürgens Augen. Wir plauderten ein bisschen über die alten Zeiten, aber ich war froh, dass ich ihn irgendwann mit Verweis auf die vielen Wartenden unterbrechen konnte. Die Zeiten damals waren vorbei und hatten nichts mit meinem heutigen Leben zu tun. Was brachte es, ständig darüber nachzudenken und zu reden?

Doch so schnell wurde ich ihn nicht los. Am nächsten Tag kam er wieder, und ich richtete mich schon auf eine weitere Nostalgie-Orgie ein, in der ich gezwungen war, sämtliche damaligen Klassenkameraden namentlich durchzugehen – verbunden mit der nicht beantwortbaren Frage, was wohl aus ihnen geworden sein könnte. Ich instruierte noch schnell meinen Nachbar-Kollegen, er möge mich nach spätestens fünf Minuten zu einem unaufschiebbaren, wichtigen Fall rufen.

Doch dazu kam es nicht. Jürgen sagte, er könne nicht lange bleiben, habe einen dringenden Termin. Aber nach unserer Begegnung am Tag zuvor wolle er mir etwas geben, mit dem ich sicherlich mehr anfangen könne als er. Schließlich sei ich es doch gewesen, der damals mehr mit Natascha zu tun gehabt hatte als er. Aber ich wisse ja, wie Natascha damals eben gewesen sei. Fröhlich, lebenslustig und manchmal vielleicht auch ein bisschen unbesonnen. Jedenfalls sei damals seltsamerweise er es gewesen – und nicht ich –, der beim Flaschendrehen etwas von Natascha gewonnen habe. Und das wolle er mir nun geben. Mit diesen Worten griff er in seine Jackentasche und förderte ein Plastiktütchen hervor, das nicht mehr ganz neu aussah. „Da, bitte, schenk ich dir“, sagte Jürgen, „eine Locke von Nataschas Haar.“

Ich nahm das Tütchen, betrachtete es lange und blickte zu Jürgen auf. Doch der war längst gegangen. Ich hatte es nicht bemerkt. Dann begann ich zu weinen.

 

***

43 Jahre zuvor: Obwohl ich damals erst 17 war, hatte meine Mutter mir einen Ferienjob in der Fabrik ergattert, in der sie als Sekretärin arbeitete. Ich musste per Seilwinde Metallteile unterschiedlich lange in verschiedene Säurebäder packen und rechtzeitig wieder herausholen. Eine elende Schufterei mit ungesunden Dämpfen, bei der die Tage einfach nicht verstreichen wollten. Aber nach sechs schlimmen Wochen hatte ich genug Geld zusammen, um mir ein Moped zu kaufen, eine Kreidler Florett, die ich künftig hegte und pflegte. Meine Eltern kamen aus dem Staunen nicht heraus, welche Akribie ich beim Putzen der Chromteile an den Tag legte.

Es war der 23. September 1977, als etwas passierte, womit ich selbst im Traum nicht gerechnet hatte. Natascha, die ich damals anhimmelte, sagte: „Hey, Michi, warum zeigst du mir nicht, was deine Karre so drauf hat?“ Damit schwang sie sich auf den Rücksitz. Ich war baff, aber ließ mir diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen, schwang mich ebenfalls auf die Maschine und startete den Motor.

Es war ein herrlich warmer Spätsommertag und als wir allein über eine schmale Straße fuhren, die links und rechts vom hochstehenden Mais gesäumt wurde, presste Natascha ihren Oberkörper von hinten an meine Lederjacke, und ich spürte deutlich ihre Brüste in meinem Rücken.

„Spürst du das?“, fragte sie.

„Ja“, krächzte ich. Der Fahrtwind musste mir eine Fluse in den Mund geweht haben.

„Und wie findest du das?“

„Ähh … gut“. Meine Aussprache hatte sich nicht verbessert.

„Würdest du es nicht vielleicht noch besser finden, wenn Deine Lederjacke und mein T-Shirt nicht im Weg wären?“

„…“

„Bitte? Ich kann dich schlecht verstehen.“

Statt eine weitere Antwort zu versuchen, bog ich auf einen schmalen Feldweg ab. Was folgte, war die mit großem Abstand glücklichste Stunde meines Lebens.

 

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Am nächsten Tag hatte das Wetter umgeschlagen. In der Nacht war ein Gewitter durchgezogen, das jede Menge Äste und Blätter auf die nassen Straßen geweht hatte. Wahrscheinlich war ich noch zu euphorisch von den Ereignissen am Tag zuvor, jedenfalls war ich für diese Straßenverhältnisse deutlich zu schnell unterwegs. In einer Kurve, in die ich mich zu sehr gelegt hatte, rutschten die Reifen weg und die Kreidler und ich schlitterten in den Gegenverkehr.

Ab diesem Moment habe ich eine Erinnerungslücke von ziemlich exakt drei Wochen. Später berichtete man mir, ich sei in ein künstliches Koma versetzt worden und mein Leben habe ein ums andere Mal am berühmten seidenen Faden gehangen. Die Ärzte hätten im Grunde nicht mehr an mich geglaubt, als es mir dann doch langsam begann besser zu gehen.

Das Erste, an das ich mich wieder erinnere, ist ein Gespräch mit dem leitenden Arzt.

„Sie haben riesiges Glück gehabt“, sagte er, „Ihre Wirbelsäule war eigentlich schon mehr als nur ein bisschen angeknackst. Noch einen winzigen Tick mehr, und Sie wären für den Rest Ihres Lebens querschnittsgelähmt gewesen. Fälle wie Ihrer sind es, die mich gegenüber meinen eigenen Jungs eine so strikte Haltung einnehmen lassen, was das Motorradfahren angeht. Natürlich sind sie deswegen sauer auf mich. Aber erst gestern konnte ich sie wenigstens noch ein wenig davon abhalten. Ich habe ihnen einfach Bilder von Ihren Verletzungen gezeigt.“

„Ich … ich danke Ihnen. Meine Freundin und ich …“

„Es gibt allerdings eine Sache, die ich Ihnen mitteilen muss, und ich kann Ihnen versichern, dass mir das nicht leicht fällt. Ein Teil der Stoßstange des Wagens, in den Sie gerutscht sind, hat sich in Ihre Geschlechtsteile gebohrt. Die entsprechende Operation war nicht einfach. Leider ist es jedoch so, dass Sie künftig weder Kinder zeugen noch eine irgendwie geartete sexuelle Lust empfinden können.“

 

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Natascha besuchte mich in den ersten drei Wochen alle zwei Tage im Krankenhaus. An den übrigen Tagen verbot es ihr ihre Mutter mit dem Hinweis auf die Hausaufgaben, die in der Oberstufe des Gymnasiums, das wir beide besuchten, nicht gerade wenig waren. In meinem Fall war bereits entschieden worden, dass ich das Schuljahr wiederholen würde. Ich hatte zu viel verpasst.

Gegen Ende der vierten Woche begannen Nataschas Besuche im Krankenhaus seltener zu werden, und nach weiteren zwei Wochen gestand sie mir unter Tränen, dass sie einen neuen Freund habe – ausgerechnet einen der jungen Pfleger in diesem Krankenhaus. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie mir eine Zeitschrift aus der Cafeteria geholt hatte.

Ich starrte an die Krankenzimmer-Decke, wo sich gerade eine Fliege auf die Lampe gesetzt hatte. „Ist es wegen …?“ Ich hatte ihr von den Prognosen des Arztes erzählt.

Sie schwieg und starrte ebenfalls an die Decke.

Fünf Minuten später nahm sie ihre Jacke, murmelte ein „Sorry“ und war weg.

 

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43 Jahre später: An diesem Abend schaute ich weder eine Netflix-Serie, noch hörte ich klassische Musik. Ich betrachtete stundenlang Nataschas Locke und befühlte sie.

Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Ich sah mich nicht im Stande, auch nur aufzustehen. Und so blieb es in den nächsten Tagen und Wochen. Ich verließ nur noch für den Gang zur Toilette das Bett – oder um mir eine Dosensuppe aufzuwärmen. Das Wasser in meinem Aquarium wurde langsam trübe, und die Fische schwammen nicht mehr so enthusiastisch an die Scheibe wie zuvor. Wahrscheinlich spürten sie, dass von mir nichts mehr zu erwarten war.