Von Marianne Apfelstedt

Im weißen Land fließt die Magie in Menschen von Geburt an wie das Wasser im Flussbett. Sie sind so selten wie Trinkwasser in der Wüste. Die Zauberkundigen weben Magie mit Runen und Holzstäben, den Webernadeln und werden Magyr genannt. Sind ihre Kräfte gering, benutzen sie ellenlange Webernadeln. Wächst die Kraft, schießt die Nadel bis zur Größe eines Wanderstabs empor. Noch seltener sind Krähen mit diesen Kräften. Sie verbinden sich mit einem Menschen durch ein Mal und werden zu lebenslangen Seelengefährten, die in Gedanken miteinander sprechen und sich beschützen. Junge Menschen lernen bei weisen Magyr, wie Zorya im Borkenwald bei Magyr Myriam.

 

***

 

Gleich nach dem Aufstehen versorgte ich die Tiere, Myriam kochte uns Haferbrei und wir stärkten uns. Im hinteren Teil der Höhle fanden wir Platz für meine erste Lektion.

„Zuerst wirst du lernen, einen Verhüllungszauber zu weben und diesen so lange aufrecht zu erhalten, wie du es wünscht. Überlege dir, welche Gestalt dich verbergen soll? Der Zauber ist erst dann von Nutzen, wenn nicht einmal dein eigener Vater dich erkennt.“ Ich trat vor einen mannshohen Spiegel.

„Lass ein Abbild der neuen Hülle im Kopf entstehen. Zeichne die Runen auf den Boden und platziere dich darauf. Wandle dich vom Scheitel bis zu den Füßen. „Welch leichte Aufgabe, das hörte sich nach Spaß an.“ Auf der Lippe nagend schloss ich die Augen und erschuf mein neues Abbild. Aus dem walnussbraunen glatten Haar wurden rote Locken, die in Wellen den Rücken hinabflossen, mit zartgebräunter Haut und grünen Augen. Ich wob den Zauber und sah triumphierend zu Myriam.

„Nein Zorya! Wie willst du dich mit so auffälligen Haaren verstecken? Deine Magie muss beschützen, dich verbergen und nicht die Blicke aller auf sich ziehen. Von Neuem!“, befahl Myriam.

 

Etliche Stunden später sah ich im Spiegel eine Bauersfrau mit grünen Augen, hier blieb ich unnachgiebig. Mein Spiegelbild war mittelgroß und rundlich. Ein Zopf blonder Haare lugte unter dem Kopftuch heraus. Das Weben des Zaubers hatte Kraft gekostet. Hungrig wie ein Wolf fiel ich über Brot und Käse her. Myriam hatte mir aufgetragen, im Wald Kräuter zu suchen, die ich kannte, um mein Wissen zu prüfen. Bei diesem Ausflug musste ich mich nochmals in den Zauber hüllen. So vergingen die Tage mit dem Weben von schlichter Magie und Kräuterkunde.

 

***

 

„Zorya, Tochter des Königs Farin, Seelengefährtin der Krähe Gasula, Schützling der Magyr Myriam. Zum heutigen Ehrentag, dem Tag, an dem sich deine Geburt zum 17. Mal jährt, überreiche ich dir mein Geschenk. Hier ist eine Webernadel, möge sie mit deiner Kraft zu voller Stärke heranwachsen und ein ganzes Leben lang deine Zauber verstärken“, mit diesen Worten legte sie mir die Nadel auf die Handflächen und verband sie mit purer gewebter Magie.

„Achte sorgsam auf sie, mein Mündel, was ihr widerfährt, wird dich ereilen.“

„Dank dir, Magyr Myriam, Bewahrerin der Runen.“ Ich fiel auf die Knie und entblößte den Nacken, um das erste Zeichen meines Standes zu empfangen. Das Mal der Magyr, der Zauberkundigen. Myriam zeichnete mit Kohle die Rune auf. Sie erhob ihre Stimme und wob den Zauber. Mit ihrer Webernadel, die der Macht geschuldet, zur Größe eines Wanderstabs herangewachsen war. Das Mal brannte sich in die Haut. Ich biss mir auf die Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Die Rune pulsierte im Takt meines Herzens. Ich konnte es kaum erwarten, die Nadel auszuprobieren.

 

Am nächsten Tag nahm ich sie, um einen ersten Zauber damit zu weben, und um festzustellen, wie machtvoll meine Magie derzeit war. Ich fuhr mit einem dornigen Zweig über den Arm, bis Blutstropfen erschienen. Das Zeichen für den Heilzauber kannte ich. Es gelang mir nicht, mit der Webernadel die Rune zu zeichnen. Sie misslang bei jedem Versuch. Wütend schleuderte ich die nutzlose Nadel von mir, als sie vom Felsen abprallte, brannte das Mal im Nacken höllisch. Um die Schmerzen zu lindern, drückte ich ein Heilkraut, das am Bach wuchs, auf die Wunde.

„Sie gehorcht dir nicht“, argwöhnte Myriam. „Übe dich in Geduld, mir scheint, deine Webernadel hat die gleiche Gesinnung wie du. Ich werde sie für dich verwahren, bis du deinen Geist gestärkt hast.“ Sie schlug die Nadel behutsam in ihr Schultertuch ein und trug sie zurück zur Höhle. „Du hast eine Aufgabe zu meistern“, erinnerte sie mich.

 

Im Schneidersitz starte ich missmutig einen Stein an. Nicht nur einen, sondern einen ganzen Haufen. Diese sollte ich ohne Körperkraft zu einem Kreis legen. Vor Wut war mir heiß und ich wünschte mein Kurzschwert, um auf das Gestein einzuschlagen. Nicht mal Magie konnte ich weben.

Pah, wozu war ich eine Magyr?“, dachte ich.

Zorya, öffne deinen Geist. Schiebe alles bei Seite, sperr es hinter eine Mauer, dann lass deine Kraft fließen und bewege die Steine“, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Grinsend reckte ich das Haupt zu den Baumwipfeln über mir.

„Gasula, wo bist du?“, rief ich freudig nach oben.

Nicht mit den Augen suchen. Schließe sie. Denke an mich, markantes Gefieder, obsidianschwarze Augen. Spüre mit dem Herzen, mit der Seele.“ Ich schloss dieselben. Hörte Vögel zwitschern, das Rauschen der Blätter im Wind. Für einen Herzschlag errichtete ich eine Mauer, hinter der das Spektakel der Geräusche verschwand. Etwas zog mich an, langsam drehte ich mich im Kreis, legte den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Vor mir, auf dem untersten Ast einer Lärche, saß meine Seelengefährtin.

 

Genauso! Behalte dir dieses Gefühl in Erinnerung. Gebrauche deinen Kopf, Zorya. Zügele deine Wut, die nutzt dir nichts.“

„Besserwissender Zausel! Trotzdem freue ich mich, über dein Erscheinen.“

Danke, ich freue mich auch, dich zu sehen, und den Zausel nehme ich dir übel. Dein Verhüllungszauber bekommt Risse. Schau deine Kleidung an, wie eine Lumpenpuppe“, amüsierte sich Gasula. Ich sah an mir herab und lachte schallend, ein Bein steckte in braunen Reithosen, das andere wurde von wollenen Röcken der Bauersfrau verdeckt. Das blonde Haar wurde dunkler und der Zopf löste sich auf. Lumpenpuppe war wirklich trefflich.

„Wozu muss ich hier im Wald meinen Zauber aufrechterhalten, mich sieht doch keiner?“, murrte ich herum.

Denken, nicht mit dem losen Mundwerk plappern. Übe, deine wahre Gestalt zu verhüllen, bis es dir im Schlaf gelingt. Wieso ist die Rune am Nacken so rot, als wäre sie frisch gezeichnet?

Diese nutzlose Webernadel gehorcht mir nicht. Ich habe sie etwas unsanft behandelt. Jetzt brennt die Rune jedes Mal höllisch, beim Weben von Magie, obwohl ich die Nadel seither nicht mehr angefasst habe.“

„Hat dir Myriam nicht kundgetan, wie deine Webernadel fügsam wird?“, fragte Gasula. „Ich war so wütend, dass ich ihren Worten kein Gehör schenkte“, gab ich kleinlaut zu. „Es ist mir nicht möglich zu weben, weil die Schmerzen jedes Mal stärker werden und ohne Magie heilt die Wunde nicht“, erklärte ich beschämt.

 

Bei der Rückkehr in die Höhle wartete Myriam schon auf uns.

„Myriam, bitte zeig mir nochmal die Dankbarkeitsrune.“ Wie ein Habicht verfolgte ich das Zeichnen der Rune. Nach einigen Versuchen gelang mir ein Abbild derselben auf den sandigen Boden. Die Webernadel erwärmte meine Haut, doch der brennende Schmerz blieb aus. Demütig bedankte ich mich bei der Nadel, indem ich mit ihrer Spitze mein Herz berührte. Der Erprobung weiterer Zauber stand jetzt nichts mehr im Weg. Ich wickelte sie in ein Tuch und legte sie zu meinen Habseligkeiten.

„Kommt, lasst uns beim Abendbrot Geschichten austauschen“, lud Myriam ein.

 

***

 

Morgens, gleich nach Sonnenaufgang, sammelte ich Kräuter für eine Salbe. Beinwell fand ich am Bach. Abgelenkt hörte ich die Reiter erst, als sie ihre Pferde zügelten. Sie kreisten mich ein und kamen mir bedrohlich Nahe. Jetzt stand ich hier mitten im Wald umringt von fremden Soldaten. Ihre Wappen waren mir unbekannt. Einziger Schutz war der Verhüllungszauber, in den ich mich bei jedem Gang aus der Höhle kleidete.

„He du Weib. Wir suchen eine junge Frau gekleidet wie ein Mann mit Pferd und Schwert. Hast du sie gesehen?“, rief der Reiter hoch zu Ross. Ich setzte zur Antwort an, als ein ohrenbetäubendes Heulen erklang. Das Wolfsgeheul ging mir durch Mark und Bein. Eine Fuchsstute, die nervös tänzelte, stieg beim nächsten Heulen empor und warf ihren Reiter im hohen Bogen über den Pferdekopf nach vorn. Er landete unglücklich auf den Felsen am Bach. Meine Beine reagierten schneller als der Kopf. Ehe ich mich versah, beugte ich mich über den Fremden. Ein Arm lag wie ein lahmer Flügel abgespreizt vom Körper. Die Augen geschlossen, ein dünnes rotes Rinnsal zeichnete die Wange und sammelte sich im Sand. Ich ertastete seinen Puls flattrig unter meinen Fingerspitzen.

„Was tut ihr? Tretet zurück vom Sohn des Königs!“, befahl der grauhaarige Soldat.

Wütend fauchte ich ihn an: „Mit Schwert und Lanze richtet ihr hier nichts aus. Bleibt, wo ihr seid!“ Ich legte ihm beide Handflächen auf die Stirn und verspürte, wie seine Lebenskraft mit jedem Herzschlag weniger wurde.

Gasula, schnell ich bin am Bach, bei den großen Felsbrocken. Komm mit Myriam – Soldaten – brauche Hilfe!“

„Webernadel ich bitte dich, schenke mir die Kraft, diese Blutung zu stillen.“ Ich beschwor die Wand im Geiste und verbannte alles um mich herum dahinter, die Rune für den Heilzauber gelang und der Strom der Magie ergoss sich in den leblosen Körper. Die Wunde verschloss sich, der Herzschlag wurde beständiger, kraftvoller. Langsam bröckelte die Mauer und die Geräusche des Waldes fluteten an mein Ohr. Ich wurde mir meiner Umgebung wieder gewahr und sah in blaue Augen so tief wie zwei Bergseen.

„Beim großen Merlin! Sie ist eine Magyr, jetzt trägt Sie Reithosen. Schnell nehmt sie gefangen. Passt auf den Holzstab auf!“ Grobe Hände entwanden mir die Webernadel, schleuderten sie zu den Felsen und zerrten mich auf die Beine. Ich hörte ein Knacken, als die Nadel auf dem Gestein aufschlug. Ein schneidender Schmerz war das Echo, ausgehend vom Mal im Nacken fraß er sich in meinen Körper. Ich entfloh den Qualen und ergab mich der Schwärze.

 

 

 

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