Von Regina W. Egger

Anneliese Wohlgemuth war eine überaus geduldige Frau. Sie konnte zuhören und sich in ihr Gegenüber einfühlen, sodass auch die schweigsamsten Menschen sich irgendwann öffneten und es aus ihnen nur so heraussprudelte. Dann luden sie ihren seelischen Unrat bei ihr ab und fühlten sich erleichtert. Sei es die Freundin, die gerade Liebeskummer hatte und sich ausweinen wollte, sei es der Arbeitskollege, der seinen Frust über ein missglücktes Hausbauprojekt loswerden musste, sie war stets als menschliche Klagemauer zur Stelle. Man könnte also behaupten, dass Anneliese Wohlgemuth so etwas wie die zwischenmenschliche Müllabfuhr war. 
Dadurch war sie für ihren Beruf geradezu prädestiniert. Sie vermochte den Menschen die Angst und die Scham zu nehmen, sie verwandelte ihr Problem – für sie war es nur ein simpler Eintrag in ihrem Auftragsbuch – in ein Problemchen, dem man mit ein paar Handgriffen und den richtigen Chemikalien beikommen konnte.
Und sie machte ihre Sache gut, sie kroch gleichsam unbemerkt in ihr Gegenüber hinein, sodass es sich auch die intimsten Geheimnisse entlocken ließ, und das waren ihrer Erfahrung nach meist Bettwanzen, mitgebracht aus dem Urlaub oder von sonst woher. Egal. Es ging ihr nicht darum Ursachenforschung zu betreiben, wichtig war es, die Menschen von lästigem Ungeziefer zu befreien.
So saß sie wochentags und manchmal auch am Wochenende und an Feiertagen am Telefon, hörte sich die Probleme der Leute an und schickte dann ihre Armee von Kammerjägern los, bestens ausgerüstet mit den passenden Waffen zur Beseitigung der Plagegeister, egal ob es sich um Wespen, Küchenschaben, Mäuse, Ratten oder den verschämt eingestandenen Bettwanzen handelte.

***

Der 3. August war ein schwüler Tag, einer der einem schon am Morgen den Schweiß aus allen Poren trieb. Im Büro angekommen, schaltete Anneliese den Ventilator ein und schloss das Fenster, um die Hitze nicht in den stickigen kleinen Raum dringen zu lassen.
Mit dem Headset auf dem Kopf öffnete sie das Abrechnungsprogramm auf dem Computer, um die Rechnungen vom Vortag zu bearbeiten, da klingelte schon das Telefon.
„Firma Pollak, Schädlingsbekämpfung. Was kann ich für Sie tun?“
„Sie sind wieder da!“
„Wer ist denn wieder da? Worum handelt es sich?“
Der Mann in der Leitung keuchte.
„Wespen. Es sind Wespen. Irgendwo unter dem Dach müssen sie ihr Nest haben.“
Anneliese öffnete ruhig ihr Auftragsbuch und begann mit dem Eintrag.
„Okay. Wespen, sagen Sie. Das ist überhaupt kein Problem. Da schicke ich Ihnen einen Techniker vorbei, der erledigt das im Handumdrehen für Sie.“
Der Mann blieb vorerst unbeeindruckt.
„Sie fliegen durchs Klofenster. Ich kann das Fenster gar nicht mehr schließen und aufs Klo traue ich mich auch nicht mehr.“
„Ja, ich weiß, die Biester können einem richtig Angst machen. Aber glauben Sie mir, mein Techniker, der ist ein Profi, für den ist die Jagd auf Wespen gar kein Problem. Er ist – könnte man behaupten – ein wahrer Jägermeister unter den Kammerjägern!“
Sie schmunzelte ein wenig, so sehr gefiel ihr das Wortspiel, das ihr soeben eingefallen war.
Und auch der Mann in der Leitung schien nun abgelenkt zu sein. Der ängstliche Ton hatte sich ein wenig gelegt, als er antwortete:
„Ja, wenn Sie das sagen… Ach, richtig, ich habe Ihnen ja noch gar nicht meinen Namen genannt: Dachs, ich heiße Alois Dachs…“
„Alois Dachs. Mit weichem d und ch? So wie der Dachs in seinem Bau?“
„Ja.“
„Schon notiert. Und dann noch die Adresse bitte…“
 „Gaisbergweg 29. Es ist ein kleines Einfamilienhaus, das letzte in der Gasse.“
„Okay, danke, das habe ich auch. Und telefonisch sind Sie unter dieser Nummer erreichbar, Herr Dachs?“ Sie las die Ziffern vom Display ihres Telefons ab.
„Ja, das ist richtig. Ich … äh… ich hätte noch eine Frage…“
„Ja, bitte…“
„Wie macht er das, Ihr Jägermeister? Wie beseitigt er die Wespen?“
Ihr Wortspiel hatte Herrn Dachs tatsächlich gefallen.
„Oh, das geht ganz schnell, wir verwenden eine Sprühdose mit hochwirksamem Nervengift.“
„Und wenn die Wespen ihn stechen? Ich meine, vielleicht ärgert er sie so sehr, dass sie noch aggressiver werden.“
Anneliese lachte ein wenig.
„Keine Sorge, mein Techniker trägt Handschuhe und einen Schutzanzug, und das Gift wirkt so rasch, dass die gar nicht mehr aus dem Nest kriechen können.“
„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte Alois Dachs, atmete erleichtert aus und legte auf.

***

Als Fabian, der Techniker, wenig später von seinem Einsatz zurückkehrte, schmunzelte er.
„Der Dachs im Dachsbau.“
„Wie meinst du das?“ Anneliese lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück und streckte die Arme hoch.
„Naja, er wirkt ein wenig schrullig. Sagte, er lässt keinen ins Haus. Er hat auch mit mir nur durchs Küchenfenster kommuniziert. Das Wespennest befand sich zum Glück unter dem Vordach im Freien. Und sein Haus gleicht einer Hobbithöhle, rundherum ein verwunschener Garten.“
„Wirklich? Ist doch schön, dass es sowas hier bei uns in der Stadt gibt. Und die Viecher?“
„Na, was wohl? Überhaupt kein Problem und zum Glück auch keine geschützte Art, da hätte ich das Nest ja aufwendig bergen und umsiedeln müssen.“
Problem also gelöst. Anneliese wandte sich zufrieden wieder ihrer Arbeit zu.

Am Nachmittag, sie hatte über einer Reihe neuer Aufträge Alois Dachs schon wieder vergessen, klingelte der Fahrradbote und übergab ihr einen in rosarotes Seidenpapier gewickelten Blumenstrauß und ein Kuvert. Als sie das Papier entfernte, entfaltete sich vor ihren Augen eine Blütenpracht aus Zinnien, Levkojen, Stockrosen, Schleierkraut, Rittersporn und Löwenmaul. Und das Kuvert enthielt eine Karte mit Goldrand, auf die Alois Dachs mit schwungvoller Schrift die folgenden Zeilen geschrieben hatte: „Mit diesem kleinen Blumengruß aus meinem Garten möchte ich mich für die mir erwiesene Hilfe ein wenig erkenntlich zeigen. Herzlichen Dank und beste Grüße, Ihr Alois Dachs.“

Anneliese war gerührt und fand die altmodische Ausdruckweise passte ganz zum Bild, das sie sich vom Dachs in seinem Bau gemacht hatte. Sogleich rief sie ihn an und plauderte ein wenig. Dabei erfuhr sie, dass Alois Dachs früher Inhaber eines kleinen Papierfachgeschäfts war und noch immer über einen Fundus an Glückwunschkarten und edlen Geschenkpapieren verfügte. „Ich habe das Geschäft aufgegeben und bin jetzt in Pension. Meine Tochter wollte den Laden nicht übernehmen. Kein Mensch schreibt heute noch Karten“, fasste er seine Situation resigniert zusammen.
Zum Schluss gestand Herr Dachs ihr auch, dass er allergisch auf Wespengift reagiere.
„Verzeihen Sie also bitte, wenn ich vorhin ein wenig hysterisch war.“

***

 Von nun an kam jeden Morgen ein Blumenstrauß und eine Karte für Anneliese. Wenn sie Alois Dachs anschließend anrief, um sich zu bedanken, unterhielten sie sich ein wenig und er vergaß nie, sich zu erkundigen, ob sie am nächsten Tag auch Dienst hatte und die Blumen entgegennehmen könne. Bald schon sah es in ihrem Büro aus wie beim Floristen, zu den Blumenvasen gesellten sich Gurkengläser, um die Fülle an Sträußen zu wässern, und die Techniker spotteten: „Alter Schwede, dein Verehrer haut sich mächtig ins Zeug!“
Dabei war Anneliese selten zuvor eine Beziehung zu einem Mann so harmlos vorgekommen wie ihre zu Alois Dachs. Der Mann war einsam und brauchte ein wenig Ansprache. Zudem war er scheu und ging nicht gern aus dem Haus, geschweige denn hätte er jemanden zu sich hereingelassen. Aber diese kurzen Gespräche am Telefon schienen ihm zu genügen, um besser durch den Tag zu kommen, und so wurden sie für beide zum Ritual.

Eines Morgens klang Herr Dachs bedrückter als sonst.
„Jetzt sind die Himbeeren reif. Aber ich mag sie gar nicht ernten. Ich werde sie den Vögeln überlassen.“
„Warum denn?“
„Ach, früher habe ich immer Himbeersirup gemacht und als meine Tochter klein war, aß sie den so gerne mit Vanillepudding.“
„Und?“
„Ich habe zu meiner Tochter seit Jahren keinen Kontakt mehr.“
„Warum denn nicht?“
„Wir haben uns überworfen, als sie sich weigerte den Laden zu übernehmen. Und jetzt ist es zu spät.“
„Ja, ich weiß, manchmal hat man das Gefühl, man müsste ewig bei einer Entscheidung bleiben, die man einmal getroffen hat. Und es ist ja auch schwierig, seine Haltung zu ändern, denn dann gesteht man sich ein, dass man sich unter Umständen früher geirrt hat.“
Er schwieg und Anneliese wartete.
„Meinen Sie, ich sollte meine Tochter anrufen?“
„Ich weiß es nicht. Aber sie könnte ja mal die Himbeeren einkochen und es sich überlegen.“

Am nächsten Morgen blieb der Fahrradbote aus und die Techniker spotteten: „Wahrscheinlich ist er jetzt endlich seinen ganzen Kartenkram losgeworden oder hat eine billigere Methode gefunden, das Altpapier zu entsorgen.“
Aber Anneliese machte sich Sorgen und so suchte sie nach Dienstschluss in der Kundenkartei die Adresse von Alois Dachs heraus.

***

Fabian hatte recht gehabt. Das Häuschen, das der Dachs bewohnte, lag in den Hang geduckt und war mit wildem Wein bewachsen, der Garten wirkte verzaubert und quoll über von blühenden Stauden und tiefhängenden Obstbäumen. Niemand reagierte auf Annelieses Rufen und Türklingel gab es auch keine. Und da die Haustür nicht versperrt war, trat Anneliese kurzerhand ein.
Sie fand Alois Dachs auf dem Küchenfußboden, er war in einer Lache aus Sirup ausgerutscht und hatte sich den Kopf angeschlagen.
Als die Rettungsleute ihn erstversorgten, schob Anneliese rasch den Gedanken von sich, sie hätte eine Mitschuld an seinem glücklicherweise nicht lebensbedrohlichen Unfall, hatte sie dem alten Mann doch geraten, Himbeersirup einzukochen.
Vor dem Haus blieb sie noch eine Weile stehen und schaute dem Rettungswagen nach, als er von der Einfahrt auf die Straße bog. Der Garten lag friedlich in der Abendsonne, nebenan sprengte ein Nachbar seinen Rasen.
„Was ist denn mit dem alten Dachs passiert?“
„Ein kleiner Haushaltsunfall, zum Glück nichts allzu Schlimmes“, antwortete sie.
Ihr Blick fiel auf den Wasserstrahl, der sich auf die Wiese ergoss. Das Licht brach sich in den Tröpfen und leuchtete in allen Farben des Regenbogens.

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