Von Sabine Zercher

Im Polizeirevier Heidelberg-Mitte, Morddezernat, erschien ein Mann, der behauptete, seine Vermieter, ein älteres Ehepaar, am Vortag aus Neid auf ihren Wohlstand ermordet und danach im Neckar versenkt zu haben. Das Verbrechen belaste ihn seelisch nun so sehr, dass er sich stellen wolle. Tatsächlich war das Ehepaar weder telefonisch erreichbar noch zuhause anzutreffen und auch die nächsten Angehörigen – Tochter und Schwiegersohn – wussten nicht, wo es sich aufhielt.

 

Der angebliche Mörder machte einen verwirrten Eindruck und die Vernehmung durch zwei Beamte gestaltete sich schwierig. Sie beschlossen, eine Polizeipsychologin hinzuzuziehen.

 

Das Interview der Psychologin (P) mit Herrn B. wurde routinemäßig auf Band aufgenommen.

 

P: Herr B., erzählen Sie bitte nun auch mir nochmals, was sich ereignet hat.

 

B: Es gab Krach, weil mich mein Vermieter leider bei einem kleinen Diebstahl erwischt hat. Ich habe auch schon früher gelegentlich den einen oder anderen Wertgegenstand oder ein bisschen Geld aus ihrem Haus mitgehen lassen. Es ist nie aufgefallen; die schwimmen ja in Geld. Bei denen kommt es nicht auf jede Kleinigkeit oder jede Banknote an, und bisher hatten sie nie bemerkt, wenn etwas fehlte. Ich war leider auch mit der Miete im Rückstand; also wollte mich der Vermieter nun rausschmeißen und Anzeige gegen mich erstatten.

 

P: Wie sind Sie für Ihre Raubzüge denn ins Haus gekommen?

 

B: Ich hatte früher mal kurzfristig einen Schlüssel mitgehen lassen, um mir einen nachmachen zu lassen…

 

P: Hatten Sie kein schlechtes Gewissen?

 

B: Wozu? Wie gesagt, denen ging es finanziell prächtig – im Gegensatz zu mir.

 

P: Was machen Sie denn so, Herr B.? Ich meine, um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?

 

B: …

 

P: Verstehe. Sie sagen also, Sie hätten Streit mit Ihrem Vermieter gehabt. Und wie ging es weiter?

 

B: Ich bekam Panik, als er sagte, dass er mich aus der Wohnung werfen und mich anzeigen wolle. Zunächst ging ich aber in meine Wohnung zurück, um mich zu beruhigen und mir einen hinter die Binde zu kippen.

 

P: Tun Sie das öfter? Regelmäßig?

 

B: Muss ich darauf antworten?

 

P: Na ja. Was passierte weiter?

 

B: Wie gesagt: Ich war in Panik, also beschloss ich, meine Vermieter, das Ehepaar R., aus dem Weg zu schaffen. Ich habe ihnen aufgelauert, als sie abends mit ihrem fetten Auto zum Recyclinghof am Neckar gefahren sind. Ihn habe ich erwischt, als er zu einem der Container gegangen war, seine Ehefrau etwas weiter weg. Sie wollte in der Nähe wohl nach Waldmeister suchen. Danach habe ich beide in den Neckar geworfen.

 

P: Das wollen Sie alles ganz allein bewerkstelligt haben? Ohne Komplizen? Sehr kräftig wirken Sie eigentlich nicht. Nun ja, warten wir die Ergebnisse der Spurensicherung ab. Im Moment glaube ich Ihnen kein Wort. Ich werde mich mit den Kollegen beraten, dann sehen wir weiter.

 

Herr B. blieb vorerst auf freiem Fuß. Allerdings machten sich nun die Tochter und ihr Ehemann Sorgen, weil sie nicht wussten, wo die Eltern abgeblieben waren. Mobiltelefone hatten sie nicht.

 

B. selbst wandte sich am folgenden Tag an die Redaktion der Tageszeitung und berichtete dort über die laxe Vorgehensweise der Polizei, wenn man sich – wie er – wegen eines Verbrechens stellen wollte. Einer der Stadtredakteure witterte eine spannende Story und machte einen ziemlich reißerischen Artikel aus der Sache:

 

Mutmaßlicher Doppelmörder stellt sich der Polizei und wird wieder nachhause geschickt! Von den Opfern fehlt jede Spur. Die Angehörigen sind entsetzt und besorgt.

Und so weiter.

 

Der Polizei passte das überhaupt nicht. Natürlich war die Spurensicherung in Ehepaar R’s. Haus und in der Wohnung von B. gewesen. Diese fand aber nichts Verdächtiges bis auf ein paar Gegenstände, die B. vermutlich bei seinen Vermietern oder anderswo gestohlen hatte. Eine Suchaktion am Neckar war ebenfalls erfolglos. B. blieb bei einer weiteren Vernehmung bei seiner früheren Aussage, ließ sich jedoch diesmal ausführlich über sein Mordmotiv aus. Wie sehr er das Ehepaar und ihren angeblich zur Schau gestellten Wohlstand gehasst habe. Mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihr komfortables Leben genossen, während er selbst so ärmlich leben müsse. Wie oft er früher schon daran gedacht hätte, sich bei ihnen oder irgendjemandem anderen für diese Ungerechtigkeit zu rächen. Er sang ein unendliches, langweiliges und ermüdendes Klagelied.

 

Weder die Kriminalbeamten noch die Psychologin wussten, wie sie mit Herrn B. verfahren sollten. Seine Aussagen schienen weit hergeholt. Trotz seines Hasses wirkte er harmlos und zu einem Verbrechen gar nicht fähig – ein Möchtegern-Bösewicht. Neid ist nicht strafbar und Mordphantasien sind kein Verbrechen, stellten sie fest. Er blieb weiter auf freiem Fuß.

 

Kurz darauf meldete sich die Tochter der „Vermissten“ bei der Polizei und teilte den Beamten mit, dass ihre Eltern wohlbehalten nachhause gekommen waren. Sie hatten heimlich an einer längeren „Seniorenkaffeefahrt“ teilgenommen, und weil ihnen das ein bisschen peinlich war, niemandem etwas darüber gesagt. Es ging ihnen prima, sie hatten Bettdecken, Geschirr und dergleichen mehr erworben und verstanden die Welt nicht mehr, als sie erfuhren, was in der Zwischenzeit geschehen war. Herrn B. schmissen sie nun tatsächlich aus der Wohnung. Er allein hatte über ihre Reise Bescheid gewusst und sollte als netter Mieter ihren Briefkasten regelmäßig leeren. Das vermeintliche Verbrechen hatte er inszeniert, um endlich einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Bestohlen hatte er sie übrigens wirklich, und dies nicht zu knapp. Armer Kerl, der Herr B: Er gab einen ziemlich kläglichen Bösewicht ab. Da er jedoch die Polizei für nichts und wieder nichts auf Trab gehalten und damit die Staatskasse über Gebühr belastet hatte, wurde er nun tatsächlich angeklagt: Wegen Irreführung der Behörden und Vortäuschung einer schweren Straftat. Die Geldstrafe, zu der er verurteilt wurde, konnte er nicht zahlen, also musste er für eine Weile in den Knast. Für die Medien, in die er so gerne gekommen wäre, war das alles aber leider völlig uninteressant.

 

B. fand das gemein, und da er im Gefängnis reichlich Zeit hatte, beschloss er, sich alles Erlebte und Erlittene von der Seele zu schreiben. Weil er das zu seiner eigenen Überraschung ziemlich gut konnte und nach einer Weile endlich aufhörte, sich selbst zu bemitleiden, schrieb er ein ausgesprochen spannendes und lesenswertes Buch, mit dem er schon während seiner Haft in ein neues Leben startete. Es erreichte unglaubliche

Auflagenhöhen und verhalf ihm nun endlich zu der ersehnten Aufmerksamkeit. Das Buch wurde in der Zeitung und im Hörfunk besprochen, er selbst in Talkshows eingeladen. Der Titel lautete: Aus der Sicht eines Bösewichts.

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