Von Christa Blenk

 

Ich heiße Charlotte und bin 25 Jahre alt. Meine Familie ist adelig. Wir sind verarmt. Einer meiner Vorfahren war Pierre Corneille. Ich bin stolz darauf. Wir sind Girondisten. Im Hause meiner Tante in Caen finden konspirative Treffen statt. Ich begreife, dass Er, der Jakobiner, die Schuld trägt, an allem! Er wird nicht ruhen, bevor wir nicht alles verloren haben. Wie ich ihn verachte. Mein Mund weigert sich, seinen Namen auszusprechen.

 

Ich habe einen Plan. Vielleicht ist es gar nicht mein Plan. Bin ich nur ein Instrument? Egal, sie haben recht. Ich bin glücklich darüber, ihr Werkzeug zu sein, um ihn, den Teufel, zu vernichten. Ich werde zur modernen Jeanne d’Arc. Auch wenn meine Tat mich zu einem bösen Menschen macht, zu einer Mörderin. Ich werde ihn am Jahrestag des Sturms auf die Bastille töten. Das ganze Land wird davon erfahren. Die einen werden mich verehren, die anderen verachten.

 

  1. Juli: Der Girondist Barbaroux stellt mir ein Empfehlungsschreiben aus, um mir Zugang zum Nationalkonvent zu verschaffen. Ich sage meiner Tante Adieu, umarme sie und besteige die Postkutsche nach Paris. Den dafür nötigen Reisepass haben sie für mich besorgt. Ein Mitreisender macht mir einen Heiratsantrag. Ich lehne ab, denn ich habe eine höhere Aufgabe.

 

  1. Juli: Ich komme in Paris an und beziehe mein Quartier. Die Reise hat mich ermüdet, aber ich bin hoffnungsvoll und guter Dinge, couragiert.

 

  1. Juli: Ich fahre ohne Umwege zum Nationalkonvent. Nach langem Hin und Her erfahre ich es: Er sei krank, seit längerer Zeit schon und Er würde nur noch von zuhause aus arbeiten. Mein Plan geht nicht auf. Ich muss umdenken. Das hat man mir nicht gesagt. Ich bin jetzt ganz alleine auf mich gestellt. Ich weiß, ich werde es schaffen. Aber darf ich wirklich einen Invaliden töten? Natürlich! Er wird auch als Kranker noch versuchen, mein Land zu zerstören. Sein Siechtum darf mich nicht tangieren. Nach ermüdenden Diskussionen bringe ich seine private Adresse in Erfahrung. 100 Franc hat mich diese Information gekostet. Er soll den ganzen Tag Kräuterbäder nehmen, aber aktiv am Revolutionsgeschehen nicht mehr teilnehmen. Dann verfasst dieser Schuft also in der Badewanne seine abscheulichen Pamphlete und erteilt die grausamsten Befehle. Soweit sind wir schon gekommen, dass ein kranker Mann aus der Badewanne heraus Frankreich in den Untergang schickt.

 

  1. Juli: In den Arkaden des Pariser Palais Royal erstehe ich für 40 Sous ein Küchenmesser. Es ist 20 cm lang. Damit begebe ich mich zu seiner Wohnung. Seine Lebensgefährtin macht mir die Türe auf. Sie will mich nicht hineinlassen. Sie ist misstrauisch. Sie gefällt mir nicht mit ihrem gehetzten Blick, radikal und ungepflegt. Ich fahre zurück in mein Hotel, bin unruhig, schreibe ihm einen Brief und begebe mich – ohne seine Antwort abzuwarten – erneut zu seiner Wohnung. Ich trage ein weißes Kleid und eine schwarze Haube. Das Messer habe ich unter meinem Gewand versteckt. Nur mit Mühen schaffe ich es, an der Pförtnerin vorbei zu kommen. Wir streiten. Sie ist so laut, diese primitive, dumme Person. Vor seiner Wohnungstür muss ich schon wieder mit seiner Freundin disputieren. Er hört uns, die Tür steht halb offen. Ich sehe durch den Türschlitz seine Badekammer am Ende des Flurs. Er will wissen, was das Geschrei soll. Sie erzählt es ihm und er bittet mich, sich ihm zu nähern. Ich trete ein und sehe einen halb in der Badewanne hängenden Mann. Er trägt einen gelben Turban. Das Wasser scheint nicht heiß zu sein, jedenfalls dampft es nicht. Farbige Blumen und Kräuter schwimmen an der Oberfläche. Das sieht schön aus. Nur diese Bäder würden den Schmerz seines Hautleidens mildern, sagt er mit milder Stimme. Er hätte sich diese Hautkrankheit in der Pariser Kanalisation zugezogen. Wie erbärmlich er aussieht. Aber kraftlos keinesfalls. Seine Augen funkeln und lassen einen Moment seine gelbe, kränkliche Haut erstrahlen.

 

Dann stehe ich vor ihm. Ich zittere innerlich. Seine Freundin schickt er weg, der Narr. Ich bleibe alleine mit ihm zurück. Er verharrt halb sitzend, halb liegend im Wasser und blickt hoch zu mir. Er ist mir ausgeliefert in dieser lächerlichen Wanne.

 

Wir diskutieren. Er will mich von seiner Sache überzeugen. Wohlwollend, von oben herab, obwohl ich auf ihn hinabblicke. So redet man mit einem Kind. Der Dummkopf, er weiß noch nicht, dass er in den nächsten Minuten sterben wird. Allerdings muss ich gestehen, dass er Energie und Entschlossenheit ausstrahlt, sogar nackt vor mir in dieser grauenhaften Zinkwanne. Aber er überzeugt mich nicht. Im Gegenteil, ich werde wütend, auch wenn kurz ein milder Gedanke in mir aufkeimen will. Nach zehn Minuten hole ich ohne Ankündigung mein Messer unter dem Kleid hervor und steche zu. Ich weiß genau, wohin ich zielen muss, damit der erste Stich tödlich ist. Kräftig und entschlossen ramme ich ihm das Messer in die Brust, direkt unter das Schlüsselbein. Ich blicke auf ihn. Er lebt noch und sieht mich überrascht an, ja bewundernd. Im selben Moment ruft er um Hilfe. Muss ich nochmals zustechen? Ich fühle gar nichts, weder Mitleid noch Reue und kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Bin gebannt. Erst jetzt betrachte ich die Umgebung und nehme die unfreundliche Badekammer und die fürchterliche Stimmung darin wahr. Viel zu wenig Licht, keine bunten Tücher zum Abtrocknen, keine Seifen oder Flakons, nichts, nur eine kleine Funzel, um schreiben und lesen zu können. Sein Körper sowie sein rechter Arm hängen so weit aus der Wanne heraus, dass der Federkiel, den seine Hand noch fest umklammert und mit dem er gerade am Schreiben war, den Boden berührt. Es vergehen nur ein paar Sekunden. Sein erstaunter Blick trifft mich erneut. Er will es nicht glauben, dass eine Frau ihn erledigt hat. Als nächstes nehme ich sein Schreibwerkzeug samt Tintenfass auf einer Kiste vor der Badewanne wahr. Auf der Kiste liegt ein Brief. Diesen dürfte er selber gerade geschrieben haben, denn die Tinte ist noch feucht. Ich lese ihn. Er weist an, einer Kriegerwitwe mit fünf Kindern finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Hatte er etwa doch ein Herz? Meine Augen erfassen nun die blauen Adern seines kraftlosen, weißen, linken Arms und die offene Hand auf der Schreibunterlage aus Holz, die quer über der Wanne liegt. In der Hand hält er ein Stück blutbeschmiertes Papier. Ich erkenne meine Handschrift. Es  ist der Brief, den ich ihm vor ein paar Stunden geschrieben habe. Ironie des Schicksals. Ich nehme ihm den Brief aus der Hand, vorsichtig, damit er nicht zerreißt und lese ihn ein zweites Mal.

 

13. Juli 1793. Die Adelige Marianne Charlotte Corday an den Bürger Marat. Dass ich sehr unglücklich bin, reicht aus, ein Recht auf ihr Wohlwollen zu haben.“

 

Ich kann mich gar nicht erinnern, dies geschrieben zu haben. Was stand denn bloß in meinem Billet von heute Mittag? Ich hatte ihn um ein unaufschiebbares Treffen gebeten. Er wollte wohl gerade die Antwort schreiben. Aber das ist nun alles hinfällig. Er ist tot. Mittlerweile hat sich das über dem Badewannenrand hängende helle Badelaken mit Blut vollgesaugt, die Blüten im Badewasser färben sich rot und werden zu Blutblumen. Das Wort gefällt mir. Ich sage es laut vor mich hin und lächle. Ich kann es noch nicht glauben und blicke fasziniert auf ihn und auf die Kräuter in der Wanne, die die rote, zähe Flüssigkeit aufsaugen. Ich sollte gehen, aber ich kann nicht. Ich höre nichts und scheine hier festgewachsen zu sein, auf diesen Mann blickend, der so gar nichts Böses mehr an sich hat und sein Blut an die bunten Blüten im Badewasser abgibt. Er hat nach ihr, seiner Freundin, gerufen. Wo sie wohl stecken mag? Mein Messer, das mit dem hellen Griff, lasse ich achtlos auf den Boden fallen. Man würde es sofort entdecken und mich dann identifizieren. Ich habe es vollbracht.

 

Ich denke an die Kreuzabnahme von Rogier Van der Weyden. Gleich wird sich seine Freundin neben ihn werfen und er würde Maria und Maria Magdalena neben sich haben. Dann reißen mich schnelle Schritte aus meinen Gedanken und ich will flüchten. Aber schon steht sie vor mir, sie lamentiert und beugt sich zu ihm herab, genau wie ich es vorher gesehen habe, wie Maria unter dem Kreuze. Sie bereut es sicher, dass sie sich hat wegschicken lassen Dann richtet sie sich auf, drückt mich zurück und rennt weg. Ich betrachte mein Werk und bin zufrieden. Ich laufe weg, werde aber angehalten und spüre einen Schlag auf meinem Kopf. Ein Stuhl! Wie unwürdig, mit einem Stuhl erschlagen zu werden. Aber ich lebe noch. Dann kommen auch schon die Soldaten und vernehmen mich noch in der Wohnung, direkt am Ort des Geschehens, neben ihm und den blutigen Trauerblumen. Anschließend nehmen sie mich mit. Ich gestehe alles, leugne nichts. Auch das gehört dazu. Sie wollen wissen, warum ich es getan habe. Ich sage nichts und habe keine Angst.

 

Die Bürger auf der Straße, diese Idioten, wollen mich lynchen, aber die Polizei beschützt mich. Ich bin ihr dankbar dafür. Sie wollen mich ja schließlich lebendig auf die Guillotine schicken. Die Guillotine ist nobel und sauber, gelyncht zu werden ist es nicht.

 

  1. Juli: Sie holen mich aus meinem verlausten, stinkenden Kerker und bringen mich zur Verhandlung. Ich werde von einem Jakobiner verteidigt. Das ist lächerlich, aber ich werde mein Los tragen. Ich klage nicht und verteidige mich nicht. Marat ist tot, nur darauf kommt es an. Ich bin ganz ruhig. Ich bin eine Patriotin. Jemand portraitiert mich, aber mein Kleid ist schmutzig. Dann schneiden sie mir die Haare ab und bringen mich auf einem offenen Wagen zur Place de la Révolution. Ich werde wieder beschimpft. Die Meute, die Schaulustigen, sind gegen mich, aber ich lächle. Sie haben nichts verstanden. Die armen Proleten, sie wissen nicht, dass ich es für Frankreich getan habe. Um 7 Uhr abends legen sie mich auf die Guillotine. Ich richte meinen Kopf, dass es passt und schnell und sauber zu Ende geht.

 

Ich habe ihnen einen Märtyrer beschert ist mein letzter Gedanke. Dann höre ich das ratternde Geräusch der schnellen, scharfen Guillotine.

 

V2 9982 Z

 

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Die Adelige aus Caen, Charlotte de Corday (1768-1793), hat am 13. Juli 1793 den Revolutionär Jean-Paul Marat (1743-1793) in seiner Badewanne in Paris in einer spektakulären Aktion erstochen.

 

Jacques-Louis David (1748-1825), Maler, Journalist und Jakobiner, hat diese Ermordung ein paar Tage später als Krimi gemalt.