Von Monika Heil

Ja, so werde ich meine Aufzeichnungen betiteln. Alles werde ich erzählen, nichts beschönigen.

Ich war längst noch nicht strafmündig, als ich meine erste Untat beging. Ich mag etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Mein Vater, Studienrat Friedrich W. Busch, legte Wert auf gute, humanistische Bildung. Meiner Mutter war eher der Umgang mit Fauna und Flora wichtig. Deshalb bestimmte sie: „Moritz muss in den Ferien zu Greta aufs Land.“ Meine Tante Greta war ihre früh verwitwete Schwester. Die Gute bewirtschaftete einige Ländereien gemeinsam mit einem Hausmädchen und zwei Knechten. Kühe, Schafe, der Hofhund Bodo gehörten dazu, ferner zehn namenlose Hühner, Hahn Felix und Mieze, die Katze. Letztere wurde mehrfach Mutter, doch durfte sie ihren Nachwuchs – sehr zum Leidwesen von mir tierliebendem kleinen Kerl – nie behalten. Das gehörte zum Alltag auf dem Hof, eine Lektion, die ich nicht akzeptieren wollte. Kein Betteln, kein Flehen half. Tante Greta gab nach jedem „Unglück“ einem Knecht den Auftrag, die „Brut“ schnell und diskret zu entsorgen. Ich war empört und beschloss, den bösen Erwachsenen auch eine Lektion zu erteilen. 

Die Gelegenheit ergab sich an einem sonnigen Maitag. Greta saß auf der weißen, handgeschnitzten Bank vor dem Haus, auf dem Tisch einen Korb mit diversen Wollknäuel in bunten Farben, deren Fäden flink durch ihre strickenden Hände liefen. Ich beobachtete interessiert die sich abwickelnden Knäuel statt in dem lustigen Bilderbuch meiner Cousine Elvira zu blättern, das vor mir lag. Nebenbei knabberte ich von den Brotkrumen in meinem Kindereimer, die eigentlich für die Enten im nahegelegenen Teich vorgesehen waren.  Als das Telefon klingelte, lief Greta flink ins Haus. »Trude, wie schön, dass du anrufst. Was gibt es Neues?«, hörte ich durch das offene Fester. Ich wusste, das dauerte jetzt mindestens eine Stunde. 

Meine Strategie schien gut durchdacht. Drei der Wollknäuel waren fast aufgebraucht. Ideal. Schnell wickelte ich die Reste ab, schnappte mir die Schere, die für mich tabu war, schnitt die Fäden kurz vor den Stricknadeln ab und stopfte sie zu den Brotkrumen in meinen Eimer. Ich schaute mich um. Die Luft war rein.

Es war mühsam. Meine Finger verhedderten sich immer wieder. Endlich war es geschafft. Mein Werk sah genau so aus wie in  Elviras Bilderbuch.

„Putt, putt, putt“, lockte ich und schon kamen sie angerannt. Wild gackernd stritten sich die dummen Hühner um die leckeren Brotkrumen. Drei dicke, braune Hennen waren die Erfolgreichsten. Neidisch gackerten die anderen und mussten mit ansehen, wie sich die Siegerinnen in den Fäden verhedderten, spuckten und würgten. Wütend sprangen sie aufeinander zu, flogen in die Höhe, flatterten aufgeregt eine kurze Strecke. Wie es weiter ging, habe ich nicht mehr beobachtet. Ich schlich in den Stall zu der kleinen Strohhöhle, in der ich gestern Mieze und ihren sechsfachen Nachwuchs entdeckt hatte. Leise beschrieb ich ihr meine Tat. 

»Das ist die Rache, dass sie dir immer deine Kinder wegnehmen«, erklärte ich ihr und kuschelte mit den Winzlingen, bis das Geschrei meiner Tante losging. Am Sonntag gab es Hühnchen zu Mittag. Für die Erwachsenen in Weißwein, für die Kinder mit Tomatensoße. 

 

Als sich meine Eltern scheiden ließen – Papa hatte sich in eine minderjährige Schülerin verliebt, Mama in einen zehn Jahre jüngeren Modemacher – schoben sie mich in ein Internat ab. Dort lernte ich Max Sträuchle kennen. Da ich Moritz Busch heiße, fanden wir das beide ganz witzig. Gemeinsam mischten wir fortan die Schule auf bis wir rausflogen.

 

Es war Max´ 14. Geburtstag. Er hatte ein Picknick auf der Waldlichtung versprochen und zehn seiner besten Freunde kamen. Sie staunten nicht schlecht – Lachs, Kaviar, Hühnchenbrust, diverse Käse, Champagner, Baguette – es fehlte an nichts. Wir tafelten wie die Erwachsenen. 

Zur selben Zeit untersuchte die örtliche Polizei einen Einbruch im Feinkostgeschäft Rütterli. Die Täter hatten den Laden offenbar durch ein nicht verschlossenes Kellerfenster betreten und verlassen. Zu dumm, dass mir unbemerkt mein Schülerausweis aus der Hosentasche gerutscht war. Die Anzeige lautete auf Diebstahl und Sachbeschädigung. Max und ich mussten je zehn Stunden Sozialarbeit ableisten. Tante Greta nahm mich wieder einmal auf. Wieso auch Max fortan dort wohnte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht, weil er Waise war.  

 

Marie, eine weitläufige Verwandte, verbrachte ihre Ferien auf Gretas Hof. Sie machte uns beiden schöne Augen. Und plötzlich wurden aus Freunden Konkurrenten. Eifersüchtig belauerten wir einander. Jeder Blick von Marie wurde registriert, gespeichert und mit Rachegedanken gewürzt.

 

Hinter Gretas Wald lag ein kleiner, kalter und sehr tiefer See. Eine winzige Insel war durch einen schmalen Steg zu erreichen. Den weißen Pavillon schätzten junge, verliebte Menschen seit Jahrzehnten. Ich hörte zufällig, wie sich Max und Marie dorthin verabredeten. »Heute Abend um zehn.« Da hatte ich wieder mal eine Idee. Werkzeug gab es auf dem Hof genug. Während Marie mit dem abendlichen Abwasch beschäftigt war und Max in seinem Zimmer wahrscheinlich wartete, dass die Zeit verging, schlich ich hinaus. Eine kleine Kettensäge und weiteres Werkzeug hielt ich in einem Sack verborgen. Es war Schwerstarbeit. Doch es gelang. Nachdem ich die Schnittstellen ausgefüllt und alle Reste von Sägespäne und überschüssigem Sand entfernt hatte, schlich ich an die jenseitige Böschung und wartete. Wie erhofft, kam Max früher als Marie. Er trug einen kleinen Weidenkorb mit sich und pfiff ein fröhliches Lied. Als er die Mitte der Brücke erreichte, knackte es vernehmlich. Dann ein Schrei. Der Korb flog durch die Luft, Max ruderte vergeblich mit den Armen und versank laut: »Hilfe!« rufend von der gebrochenen Brücke ins kalte Wasser. Dass mein ehemaliger Freund nicht schwimmen konnte, wusste ich, nicht jedoch, dass der Knecht Mirko unser Treiben argwöhnisch beobachtete, weil auch er in Marie verliebt war. Hatte auch er die Verabredung belauscht?

Später beschrieb er als Zeuge vor Gericht, wie „der junge Herr Moritz“ den Mordanschlag ausgeführt hatte. Die Anklage lautete schließlich auf versuchten Totschlag. Ich erhielt eine Jugendstrafe von zehn Monaten, die allerdings wegen mildernder Umstände zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dass mich meine Tante Greta endgültig verstieß und ich fortan bei meiner Mutter und deren jungen Liebhaber wohnen musste, war für mich die härtere Strafe.

 

Ich wohnte also von da an in Berlin. Die alte Gründerzeitvilla war aufgeteilt zwischen Ladengeschäft im Erdgeschoß, Atelier im ersten und Wohnung im zweiten Stockwerk. Ich bekam ein Zimmer mit winzigem Bad unterm Dach. Mein ganz persönliches Reich. Ich „studierte“ Politik, hasste meine Mutter und deren russischen Liebhaber, auch wenn ich zugeben musste, dass dieser ein genialer Künstler seines Faches war und mit seinen modischen Kreationen das Leben der kleinen, zusammengewürftelten Familie finanzierte. Ich kam meist nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen nach Hause. Nicht immer allein. Und ich traf Max Sträuchle wieder. Nach intensiven Gesprächen erneuerten wir unsere Freundschaft.

 

Der Brandanschlag auf das Atelier Smirnoff stand in allen Zeitungen. Das Motiv lag – scheinbar – auf der Hand. Fremdenhass. Der Täter wurde gefasst. Diesmal bekam ich zwei Jahre ohne Bewährung.

 

Als Tante Greta starb, vererbte sie mir ihren gesamten Besitz. Offenbar hatte sie nach meinem Rauswurf vergessen, ihr Testament zu ändern. Ich setzte während meiner Haft Max als Verwalter ein und beauftragte ihn, den Hof auf Maisanbau und Viehzucht umzustellen.

 

Marie – inzwischen Frau Sträuchle  – holte mich am Tag meiner Haftentlassung ab. Max war unabkömmlich. Er musste sich um das Vieh kümmern. Wir blieben noch eine Nacht in Berlin. Dann kehrten wir zurück auf den Hof. Neun Monate später gebar Marie Zwillinge. Max und Moritz. Diese beiden konnte jeder gut leiden und alle lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. 

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So hat der liebe Moritz sich das vorgestellt.

Übrigens, meine Name ist Marie Sträuchle und ich will erzählen, wie es wirklich weiterging.

 

Es begann an einem sonnigen Maitag. Ich saß auf der weißen, handgeschnitzten Bank vor dem Haus, auf dem Tisch ein Korb mit bunten Wollknäuel, deren Fäden flink durch meine strickenden Hände liefen. Neben mir knieten die Zwillinge und betrachteten ein altes, vergilbtes Bilderbuch. Plötzlich hörte ich durch das geöffnete Fenster heftigen Streit. Zumindest Bruchstücke. 

»M e i n e  Frau …«, »Hurenbock …« Ach, ich erspare mir Einzelheiten. 

Plötzlich erscholl der akustische Fehlalarm des Maissilos. Die beiden Männer rannten aus dem Haus zur Anzeigetafel. Sie stellten den Alarmknopf ab und bedienten einen weiteren. Kreischend öffnete sich das schwere Metalldach des Silos. In wilder Hast kletterten die zwei die eiserne Stiege hinauf und erreichten den Rand fast gleichzeitig. Während Max sich vorbeugte, wohl um tief in das Innere des Silos zu schauen, legte ihm Moritz seine schwere Hand in den Rücken und krallte seine Finger in dessen Pullover. Ein zweifacher Schrei zerriss kurz darauf die Mittagsstille. Bodo der Zweite, jaulte verstört. Die Zwillinge rutschen erschrocken von der Bank, hielten sich die Ohren zu und weinten jämmerlich. Mit schnellen Schritten lief ich zur Schalttafel. Erst schloss ich mit einem Knopfdruck das schwere Silodach, dann setzte ich die Hydraulik des Mahlwerkes in Gang. Schließlich löschte ich den rot leuchtenden Hinweis »Fehleranzeige«. Ich hob meine Söhne auf, setzte mich mit ihnen auf die Bank, wo der Wind inzwischen die letzte Seite des Bilderbuches aufgeschlagen hatte. Während sich die Kinder schnell wieder beruhigten, las ich mit leiser Stimme vor:  

»Hier kann man sie noch erblicken, 

fein geschrotet und in Stücken.

Doch sogleich verzehret sie

Meister Müllers Federvieh.« 

 

Ja so war es und ich hoffe, wir leben nun alle drei glücklich bis ans Ende unserer Tage.                 

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