Von Maria Lehner

„Geocache Kastell Elmerstorff, hohe Terrainwertung. Privatgrundstück, betreten gestattet“, so hatte ich getextet und die Botschaft temporär in Netz gestellt. 

 

Aha, drei junge Leute kommen. Ich winke ihnen freundlich entgegen, als sie an mir vorbeifahren. Ich belade grade meinen Kleinlastwagen. Er trägt die Aufschrift „Elmerstorffer Honig. Nervennahrung aus der Natur“. 

 

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Die Fremden machen Halt beim Dorfwirt, auch ein Kunde von mir. Während ich mein Bier trinke, höre ich den Oberlehrer im Ruhestand: 

 

„Das Kastell hat unser Imker gepachtet“, er zeigt auf mich, ich grüße freundlich hinüber. „Er holt in der Pension alles nach, was er versäumt hat. Er ist auch Weinsammler und baut einen Erdkeller. Nicht wahr, Sascha?“ 

 

Ich nicke ihm freundlich zu. 

 

„Man spürt die Erschütterungen bis zur alten Marienkapelle“. 

 

Die drei, Philipp, Teresa und Miri heißen sie, ziehen sich nach einiger Zeit höflich zurück und gehen zu Bett. Schließlich soll es früh losgehen morgen, denn sie wollen danach zum Baden.

 

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Der in den Koordinaten angegebene Geo-Cache ist punktgenau und führt die Schatzsucher am nächsten Morgen an die Rückseite der festlich geschmückten kleinen Kapelle „Maria Himmelfahrt“. In den Cache habe ich nur einen Bleistift und einen kleinen Block gelegt. Sie tragen ein: „15. 8. 2021, 7:30“. Auf dem Boden davor sind Steine so aufgelegt, dass sie den Weg zu einem Schlupfloch im Gestrüpp weisen. Dort ist der Eingang zum Kastell.

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Ich bin schon in meinem „Forschungszentrum“; der Rechner ist so eingestellt, dass ich mehrere Bilder auf einmal sehen kann. Der letzte Versuch meiner Reihe beginnt. Zwar werden die Bilder graustichig und die übertragenen Signale undeutlich sein, aber ich kann mir das Restliche zusammenreimen. Kamera 1: Philipp geht mit Miri und Teresa die Ausrüstungsgegenstände durch: „Fotoapparat, Miris GPS-Gerät, Universalwerkzeug, Wasserflaschen, Mobiltelefone, Schokolade …“. Für den kurzen Aufenthalt von etwas mehr als zwei Stunden reicht die sparsame Ausstattung, denken sie.

Sie gelangen – ich verfolge ihren Weg auf verschiedenen Kameras – in mein System von verwinkelten Gängen mit etlichen Abzweigungen nach rechts oder links. Signalverstärker ermöglichen mir passablen Empfang. Zeitweilig zumindest.

Philipp, sagt: „Es riecht nicht so modrig wie man es in einer solchen Ruine erwarten würde und die Wände wirken geglättet.“ 

Ein der Frauen mutmaßt: „Sind wir nicht grade an einer völlig neuen Stahltür vorbeigegangen?“, aber niemand reagiert auf den Satz. 

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Ich gieße mir Kaffee ein. Es ist neun Uhr vormittags. Ich höre: Meine Besucher machen eine Pause. Sie werden jetzt fotografieren, was sie hier so vorfinden und werden es – wie alle – für interessant halten. Ein Stockwerk tiefer werden sie über unentschlüsselbare Zeichen und Botschaften an der Wand staunen. Werden sie auch den Plan finden, an die Wand gekritzelt, unprofessionell und daher unbrauchbar? 

Aha: Sie machen sich auf den Rückweg. Es ist zehn Minuten vor zehn. Sie sind später dran als andere. Es wird Zeit, die Stahltüren zu schließen, das geht von hier oben automatisch. Zeitverzögert höre ich es sogar im Computer. „Was war das?“, sagt eine der beiden Frauen. Notiz: „09:51 – Rückweg abgeschnitten“. 

Eine Stimme höre ich, ich denke, es ist Teresa: „Ich sag´s ja: Eine neue Stahltür. Vorher war die offen“. Sie gehen links, rechts, rechts, links, rechts und ihnen wird klar, dass sie zwischen zwei Türen in einem neu ausgebauten Keller gefangen sind.  

Kurz nach zehn am fünfzehnten August, dem Marienfeiertag, zieht die Prozession vorbei. Sie nehmen den Singsang von Marienliedern wahr, schreien, hämmern an die Stahltür und vermuten, dass, wenn sie hier unten das Singen hören können, man oben auch ihre Rufe wahrnehmen und sie finden wird. 

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Vierzehn Uhr: Philipp lässt wissen: „Der Wasservorrat ist aufgebraucht“. Und ebenso scheinen die Telefonakkus (vom Gebrauch der Taschenlampe und den vergeblichen Telefonierversuchen) schwächer zu werden. Dass sie Rast machen, ist kein Plan, sondern ein Zeitvertreib. Sie gehen hin und her. „Mir ist so kalt“, sagt Philipp. Eine der Frauen seufzt.

„Blinkt da was?“, sagt er dann. Seine Stimme klingt rau und abgehackt.

„Ja, natürlich“, könnte ich ihnen jetzt antworten, „die Impulse der Verbindung, die mir die Übertragung der Signale garantiert“.

Meine Uhr am Monitor läuft. Wie immer, wenn ich einen Versuch laufen habe, bin ich sehr konzentriert. Sechzehn Uhr. Ich interpretiere die Signale und mache Notizen, auch indem ich Fragmente der Bilder und Geräusche deute. Es gibt keine Dialoge mehr. Ab und zu sagt jemand etwas. Zusammenhanglos. Ein dünnes Weinen. Hektisches Umhergehen. Ich sehe, dass sich eine Person in Embryonalstellung auf dem Boden einrollt, kurz darauf aufsteht und wütend gegen die Wand tritt. Die Phase des irrationalen Handelns ist eingetreten. Greinende Geräusche.

Ich erschrecke. Das Buch ist umgefallen: „Alexander Sikora: Langzeituntersuchung zu Ruhe- und Aktivitätsperioden bei Rodentiae“. Achthundertachtundneunzig Seiten über Nagetiere – mein Lebenswerk. Das muss Lärm machen.

Jetzt werde ich das beenden, ich will ins Gasthaus. Den Geocache-Eintrag habe ich gelöscht. Wer ihn jetzt anklickt, findet nur mehr „Fehler 404: DNF“. So habe ich das immer gehalten. 

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Nun strecke ich mich, stehe auf und gehe zum Eingang. Lautstark öffne ich die Stahltür. Eine schrille Frauenstimme höre ich: „Hallo, ist da jemand?“ 

Überrascht und gespielt vorwurfsvoll antworte ich: „Um Himmels Willen – was finden Sie so interessant, dass Sie sich in diese Gefahr begeben?! Stellen Sie sich bloß vor, ich wäre nicht da gewesen!“ Dann gebe ich ihnen Wasser, hülle sie in warme Decken, koche für sie Tee und helfe ihnen, die Sachen zum Auto zu tragen. 

Ich lasse sie erzählen und sage kopfschüttelnd: „Also, ich werde mich jetzt mehr um das Grundstück kümmern. Da hätte allerhand passieren können!“ Dann schenke ich jedem ein Gläschen „Elmerstorffer Honig. Nervennahrung aus der Natur“ und vergewissere mich, dass sie auch wirklich wegfahren. 

So, hoffentlich gibt´s noch eine Portion Wildgulasch.

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Die einzelnen Bilder und Szenen der unterschiedlichen Kameras habe ich zu einer Videosequenz zusammengebaut. Die speichere ich mit der Nummer 210815 im Ordner „Verzweiflungsprotokolle _Menschen in Bedrängnis“. Systematisch führe ich Buch: Wie viele Personen sind unterwegs? Geschätztes Alter? Gewicht, Fitness?  Was passiert nach dem Wahrnehmen der Bedrohung? Wann gibt es Phasen der Aktivität? Wann setzt das Verdrängen, wann das Resignieren ein? Wie reagieren die Menschen nach der Befreiung? Meine Beobachtungsaufgaben nehme ich sehr ernst: Niemals ist jemand in eine gesundheitsgefährdende Situation geraten, immer habe ich vorher abgebrochen. 

Meine Arbeit hier geht zu Ende. Die Bienenvölker verkaufe ich nächste Woche und bis Ende September räume ich das Kastell; den Pachtvertrag habe ich zeitgerecht gekündigt.

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Mittlerweile ist es Oktober geworden. Nach einem Jahr „Ruhestandsidylle in der Provinz“, wie ich es nenne, bin ich wieder in die Stadt zurückgekehrt. 

Beim Schwabl-Wirt treffe ich die ehemaligen Kollegen. Jeder freut sich über ein Gläschen Elmerstorffer Honig. Ihre Schilderungen aus dem Berufsalltag öden mich an: Neue Ergebnisse hinsichtlich der Aktivitätspause von Probanden im Dauerdunkel gibt es. Einer redet vom Dunkel-Kälte-Paradoxon, weil das Muskelzittern doch zu einer Aktivitätserhöhung führt. Im zugangsbeschränkten Mauszuchtlabor des Zentrums für Biomedizinische Forschung sehen sie Mäusen beim verzweifelten Lauf durch Labyrinthe zu und werten deren Strategien systematisch aus. Tag für Tag. 

Wie ich jahrzehntelang. Und immer dachte ich: „Aber irgendwann …!“ Meine Aufzeichnungen trösten mich über die damalige Gleichförmigkeit meiner Arbeit hinweg. 

 

Version 3