Von Winfried Dittrich

Dass ich jemals einen polizeilichen Platzverweis von einer Kirmes erhalten würde, hätte ich zu Beginn nicht gedacht. „Um des lieben Friedens Willen …“

Alles fing mit Bierflaschen an, die mein Bruder und ich in den Pfandrückgabeautomaten steckten. 

Es begab sich so, dass wir von unserem Vater zum Getränkemarkt mitgenommen wurden und bei der Leergutrückgabe eine ziemliche Freude daran hatten, sämtliche Flaschen aus den Bierkisten herauszuholen und in den Einzelflascheneinzug zu stecken. An diesem Punkt war meinem Vater nicht klar, das sie den Nerv einer Verkäuferin treffen würden, die am hinteren Ende des Fließbandes eingesetzt war, auf dem sich die vom Automaten entgegengenommenen Mehrwegflaschen ansammelten. Dort musste, trotz aller Automatisierung, nämlich ein Mensch stehen und die einzeln eingehenden Gebinde in passende Getränkekisten einsortieren, meist die unvollständigen Kisten, die über das untere Band aus dem Pfandautomaten ankamen. 

Ich glaube, als die zweite, komplett leere Bierkiste auf dem unteren Band eintraf und mit zwanzig Einzelflaschen vom oberen Band aufgefüllt werden musste, hörten wir zum ersten Mal ein Fluchen. Dabei dachten wir uns aber nichts. Bei der dritten Kiste wurde es lauter, bei der vierten noch ein bisschen mehr. Als wir gerade die letzte Flasche aus der fünften Kiste in den Einzelflascheneinzug legen und die leere Kunststoffkiste unten in den Automaten stellen wollten, flog die Tür auf, die die kleine, vom Parkplatz aus zugängliche Gebäudenische mit dem Raum hinter dem Automaten verband. 

Es folgte ein hitziger Schlagabtausch zwischen meinem Vater und der Verkäuferin, die ihn zwischenzeitlich als „Idioten“ bezeichnete, woraufhin sich mein Vater bei ihrem Vorgesetzten beschwerte.

Mein Bruder und ich, wir verzogen uns erschrocken nach draußen und beobachteten das Schauspiel. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich fasziniert war davon, streitenden Menschen zuzusehen und zuzuhören, Menschen, die außer sich waren, die einseitig oder gegenseitig einen Nerv trafen. Rückblickend kann ich sagen, dass dies das erste Mal gewesen sein muss.

Bewusst wurde mir dies erst viel später, glaube ich. Jahrzehnte später. Ich war noch verheiratet, wir verstanden uns schon seit einer längeren Zeit nicht mehr so richtig, und mir setzten regelmäßige Streitigkeiten ziemlich zu. Trotzdem versuchte ich, am Ball zu bleiben, den Kontakt aufrechtzuerhalten, ein einigermaßen geordnetes Leben zu führen. Dazu gehörte es, weil ich tagsüber meine Zeit freier einteilen konnte als sie, viele Erledigungen des täglichen Lebens zu übernehmen, insbesondere Retourenpakete bei den entsprechenden Annahmestellen zurückzugeben. Ich glaube, meine Frau kompensierte einen Teil unserer frustrierenden Beziehung damit, sich immer wieder Neues anzuschaffen. So kamen in manchen Wochen sechs oder sieben Retouren zusammen, die ich am Vormittag abgeben musste. Wir wohnten direkt neben einem Supermarkt, der am Tabak- und Lottoschalter auch Pakete entgegennahm.

Dort arbeitete eine Verkäuferin, die von Woche zu Woche sichtlich genervter davon war, wenn ich mit einem Stapel Retouren zu ihr kam, denn der Raum für diese Pakete in der Tabakabteilung war begrenzt, und sie musste nach meinen Besuchen oft die Kartons in das hintere Lager bringen, was ihr anscheinend unangenehm war. Sie murmelte immer wieder Bemerkungen oder kleine Flüche vor sich hin, und es kam vor, dass sie ihren Ärger an den Kunden hinter mir ausließ, was ich von der Warteschlange beim Bäcker aus, das ist gegenüber, beobachten und manchmal auch mit anhören konnte.

An irgendeinem Tag ritt mich dann eine Laune, bei ihr ohne Pakete vorbeizugehen und zu sagen: „Hallo, leider habe ich heute keine Retouren für Sie. Tut mir leid …“ Sie fand das nicht lustig. Und, wer weiß, vielleicht auch wegen dieser Bemerkung, zog sie nach ein paar weiteren Wochen ihre Konsequenzen. Sie ließ sich an die Frischetheke versetzen. Fisch, Fleisch, Käse, Wurst. Und am Lottoschalter wehte ein frischer Wind. Die Nachfolgerin hatte einen ziemlich ausgeprägten Humor, so dass meine weiteren Besuche dort sehr harmonisch, lustig, aber eigentlich uninteressant wurden. 

Dass ich es dann einmal wagte, mit einem Schuhkarton, der zurückgehen sollte, an die Fleischtheke zu gehen, weil dort ja meine bevorzugte Ansprechpartnerin arbeitete, brachte den Filialleiter auf den Plan, der mir Hausverbot androhte, wenn ich seine Mitarbeitenden noch einmal belästigen würde. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen, aber in Zeiten des Fachkräftemangels muss sich so ein Chef wohl mit breiter Schulter vor sein Personal stellen. Jedenfalls verlor dieser Supermarkt schlagartig seine Anziehungskraft auf mich und verkam zu einer reinen Zweckörtlichkeit zur Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfes.

Es verging einiges an Zeit, bis ich mich von diesem Einschnitt erholt hatte. 

Bei anderen Menschen einen Nerv zu finden, ihn zu reizen, und sich dann an der Reaktion zu ergötzen, hatte mir fast ein Hausverbot eingebracht. Dabei war es stets notwendig gewesen, direkt mit meinen Opfern in Kontakt zu treten.

Bei einem Kirmesbesuch mit Freunden kam mir dann die Idee zu meiner neusten Masche. An einem Kinderkarussell beobachtete ich, wie der Mitarbeiter, der vor Beginn der Fahrt die Fahrchips von den Kindern einzusammeln hatte, mit einem größeren Kind diskutierte, weil der Chip, den das Kind abgegeben hatte, nicht dem Karussellbetreiber gehörte. Es mischte sich der Vater des Jungen ein, der mit mehreren Kindern vor Ort war und lediglich die Plastikplättchen unterschiedlicher Stände verwechselt hatte. Zwar klärte sich die Situation relativ schnell auf, doch bei beiden Männern konnte ich spontane, unwillkürliche Haltungen, deutliche Körpersprache und plötzliche Aggressionen erkennen.

Da war meine Idee geboren. Ein Weg, nicht direkt an der Auseinandersetzung beteiligt zu sein.

An einem freien Wochenende probierte ich es zum ersten Mal aus. Ich fuhr zu einer Kirmes in einer fremden Stadt, kaufte bei vier verschiedenen Fahrgeschäften Chips ein und ging erstmal einen halben Tag lang woanders spazieren. Am späteren Nachmittag, als großer Andrang auf der Kirmes herrschte, konnte ich mich dort unauffällig bewegen. Vor einem der Fahrgeschäfte ließ ich dezent einen Chip fallen, ging ein Stück weiter, drehte mich um und begann zu beobachten.

Nach kurzer Zeit wurde der Chip gefunden, ein für das Karussell passender Chip. Es war ein kleiner Probelauf. Und das Mädchen, das dann auf dem weißen Schwan sitzen und schaukeln durfte, freute sich über die Freifahrt. 

Der nächste Chip war noch einmal ein passender, und die Dame die ihn aufhob, lief vor dem Fahrgeschäft kreuz und quer herum, um denjenigen Menschen zu finden, der den Chip verloren hatte. Irgendwann fand sie einen Familienvater, der sich freudig über so viel Ehrlichkeit seiner Mitmenschen freute. Mit meinem Chip fuhr sein Sohn dann eine Gratisrunde in einem Polizeiauto.

Und ich hatte eine Zielperson gefunden. Der Familie folgte ich diskret, und als sie an einem weiteren Fahrgeschäft Halt machte, überholte ich. Diesmal ließ ich einen falschen Chip fallen und ging weiter. Von einem Stand mit Süßwaren aus beobachtete ich das weitere Geschehen, blickte dabei zwischen herabhängenden Lebkuchenherzen hindurch und hatte mein erstes Erfolgserlebnis. 

Dieser Mann fand meinen Köder, hob ihn auf, gab ihn an sein Kind weiter, das dann auf dem Feuerwehrauto, das es sich diesmal ausgesucht hatte, jäh gestoppt wurde. Der Chipeinsammler begutachtete das falsche Teil zunächst kurz, fing mit dem Kind und dann mit dem Vater Diskussionen an. Hitzige Diskussionen, an deren Ende der Vater einlenken musste, seinem Kind drei Chips kaufte, und sich sichtlich verwirrt zeigte.

Derartige Aktionen wiederholte ich ab da regelmäßig, fuhr in umliegende Orte zu Kirmesveranstaltungen und Jahrmärkten, und stiftete auf meine Weise Unfrieden. Wenn es hier ein- oder zweimal pro Tag zu einer „Szene“ kam, dann war ich zufrieden, fühlte mich befriedigt, und hatte das Gefühl, gewinnbringend investiert zu haben. Man glaubt ja gar nicht, wie schnell und wie extrem ein so kleines Missverständnis eskalieren kann.

Was mir nun den polizeilichen Platzverweis von einer Kirmes eingebracht hat, war allerdings die Änderung meines Schemas. Bei meinem letzten, vorhergehenden Kirmesbesuch war die Situation nämlich in der Weise eskaliert, dass nicht etwa wieder Schubsereien passierten oder eine Faust flog, nein, der Karussellbetreiber schloss die gesamte Familie von der Benutzung seines Fahrgeschäftes aus. Und er verbannte sie auch gleich noch von anderen Attraktionen auf dieser Kirmes, deren Eigentümer er ebenfalls war.

Die bitterlich weinenden Kinder jener Familie taten mir leid – die hatte ich nicht treffen wollen.

Also versuchte ich es an meinem nächsten Tatort bei einem Fahrgeschäft, das generell eher von Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt wird. Schnell, drehend, laut.

An dem betreffenden Tag fand ich schnell ein paar dankbare Opfer, die die Chips auflasen und sich damit eine Fahrt erschleichen wollten. Nur, als es am Nachmittag zum dritten Mal zu Handgreiflichkeiten zwischen dem Personal und einer Gruppe Jugendlicher gekommen war, wurde die Polizei gerufen. Zur Aufklärung des Sachverhaltes steuerte der Schausteller wohl die Bilder seiner Überwachungskameras bei, auf denen immer wieder ich zu sehen war, kurz bevor jemand so einen Chip am Boden fand.

Nichtsahnend lungerte ich an der Ecke eines gegenüberliegenden Bratwurststandes herum und wartete darauf, dass erneut jemand an einem Köder anbeißt, als mich ein Polizist ansprach, den der Schausteller nach dem Absetzen meines letzten Chips gerufen hatte.

Im Kassierhäuschen zeigten sie mir die Videoaufnahmen, die dann irgendwie bei mir einen Nerv trafen.

Scheiße!

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