Von Johannes Woestemeyer

Du elender Bösewicht, hatte Mutter gesagt. Und: So etwas will ich nie wieder über dich hören. Das darfst du nicht machen, niemals, unter keinen Umständen! Ich bin völlig fertig. Der Besuch bei deinem Chemielehrer war eine einzige Katastrophe. Nicht genug damit, dass ich deinetwegen regelrecht einbestellt wurde, hat der Mann sich auch noch ungeheuer aufgeregt. Am schlimmsten: Er hatte mehr als recht mit seinem Urteil! Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?

Er hörte zu, war jedoch wie immer bei ähnlichen Anlässen innerlich so erstarrt, dass er keiner Regung fähig war und schon gar nicht antworten konnte. 

Bösewicht hatte sie gesagt. Das war neu. Bedrohlich klang das. Sonst nannte sie ihn Schlingel oder Schlawiner. War ein Bösewicht so etwas wie ein Verbrecher? War es wirklich so schlimm, was er getan hatte? Was würde nun passieren? Die Angst ließ ihn noch mehr erstarren. Trotz der heißen Ohren kam er sich wie eingefroren vor. Ich bin doch nicht böse, dachte er, überhaupt nicht. Vielleicht ein Wicht? Das Wort gefiel ihm und wirkte gar nicht so schrecklich wir Verbrecher oder Schurke, eher wie Strolch oder Bengel. Egal, entscheidend war, wie Mutter es meinte, nicht wie es sich für ihn anfühlte. 

Manchmal hatte er in der Schule Mist gebaut. Mehr als zwei Dutzend Klassenbucheintragungen von immer demselben Lehrer wegen nicht gemachter Hausaufgaben und verschlammter Klassenarbeitshefte galten als legendär und rissen sogar den eher beherrschten Schuldirektor zu lauten Tiraden hin. Dem ungeliebten Sportlehrer den kleinen Kasten zu verschieben, auf den er sich Sekunden zu setzen versuchte,  war der Lacher des Schuljahres, hätte allerdings nicht unbedingt sein müssen. Mutter war daran gewöhnt, wegen solcher Vorfälle in die Schule gebeten zu werden. Trotzdem. Mehr als Schlingel oder Schlawiner genannt zu werden kam dabei nicht heraus. Auch die bisweilen resultierenden Erziehungsmaßnahmen hielten sich in Grenzen. Schlimmstenfalls probierte sie die pädagogischen Errungenschaften an ihm aus, die sie ihren monatlichen Besuchen im Verein ‚Eltern und Erzieher‘ verdankte. Er litt dann zeitweise etwas an Hausarrest oder anderen lästigen Übungen. Beliebt waren abendliche Hausaufgabenkontrollen und der Rapport über Vorkommnisse des Tages. Nach spätestens einer Woche hörte das zum Glück zuverlässig wieder auf. Schließlich waren solche Maßnahmen für Mutter mindestens ebenso lästig.

Doch diesmal hieß es „Du Bösewicht!“ Und: Ich weiß nicht, was ich mit dir anstellen soll. Wenn du so weitermachst, nehme ich dich von der Schule! Das traf ihn hart. 

Was hatte er denn verbrochen? Seltsam, dass der Lehrer und seine Mutter sich derart aufregten. Er selbst ahnte nicht einmal, worum es ging. Sicher, er hatte sich im Unterricht ausgiebig und hartnäckig mit dem Chemielehrer auseinandergesetzt. Es ging um ein paar simple Details aus banaler Elektrochemie, Säuregrad von Lösungen und so etwas, auch Wasserstoff- und Energiegewinnung aus allerlei Salzbrühen. Aber er hatte doch recht gehabt und hatte die wissenschaftlichen Debatten mit Bravour gewonnen. Im Grunde hätte er eine besonders gute Note für fundiertes Wissen und engagierte mündliche Mitarbeit verdient. So dachte er. War Mutter deshalb in die Schule bestellt worden?

Genauso war es. Der Chemielehrer hatte Mutter erklärt, dass er sich keinesfalls vor versammelter Klasse seine Kompetenz absprechen ließe und sich von einem ungezogenen Bengel belehren lassen müsse. Außerdem gingen die Einlassungen ihres Sohnes weit über alles hinaus, was in dieser Jahrgangsstufe vorgesehen und geboten sei. Sie könne froh sein, dass er wegen solcher Unverschämtheiten nicht unverzüglich eine Klassenkonferenz einberufen habe. Er erwarte allerdings verbindlich und zwingend, dass sie, als Erziehungsberechtigte und Erziehungsverpflichtete, dafür sorgen werde, dass dergleichen nie mehr vorkomme. 

Da half kein Einwand. Mutter war genauso wütend wie der Lehrer. Ein geradezu überragender Lehrer, dachte er. Gerne hätte er erklärt, dass dieser Mensch sein Fach nicht beherrsche, fundamentale Umstände nicht verstanden habe und im Übrigen nicht einmal gemerkt habe, dass banales Rechnen ihm gezeigt haben müsste, wie sehr er daneben lag. Er hatte das in aller Ruhe mit einem Stück Kreide an der Tafel dargestellt und nicht mitbekommen, dass der Lehrer vor Wut offenbar beinahe verging. 

Er verstand endlich, was man ihm vorwarf. Zum Glück versuchte er gar nicht, seiner Mutter die Lage zu erklären. Es hätte nichts genützt. Von Respektspersonen hatte sie gesprochen, denen keinesfalls zu widersprechen sei. Er solle, fuhr sie ihn nachdrücklich an, hoch und heilig versprechen, nie wieder einen Lehrer zu korrigieren. 

Gerne hätte er ihr ihr diesen Gefallen erwiesen, fühlte sich dazu jedoch überhaupt nicht in der Lage. Also murmelte er nur etwas Unverständliches und verzog sich verunsichert und traurig in seine Ecke. 

Am Abend hatte er viel nachzudenken. Er warf froh, keine Versprechungen gegeben zu haben, die er keinesfalls einzuhalten gedachte. Lieber wollte er Bösewicht genannt werden, als offensichtlich Falsches unkommentiert stehen zu lassen. 

Am folgenden Nachmittag ging er wie an jedem Freitag in die Stadtbücherei und vertiefte sich im Lesesaal in die dort ausliegenden Chemiebücher.