Von Hannah Corvey
Der glatzköpfige Mann in dem elfenbeinfarbenen Jaguar Sovereign war bis zum Hals tätowiert. Über die Fingerknöchel seiner rechten Hand prangte „HATE“, eine schwere Goldkette schnitt in seinen fleischigen Nacken wie Grillgarn in einen Rollbraten. Herbert Grabowski, genannt die Zahnfee, erledigte seinen Job zuverlässig. Jeden Job. Seinen Klienten fehlten danach in der Regel zwei bis drei Zähne, was ihrer Zahlungsmoral erkennbar auf die Sprünge half.
Herbert parkte den Jaguar sportlich in einer knapp bemessenen Lücke, stieg aus und bewegte seinen massigen Körper auf dem Gehweg der vielbefahrenen Straße bis zur Hausnummer 37. Er klingelte bei einem Nachbarn des Klienten, gab sich als Paketbote aus und ließ sich öffnen.
Vor der Wohnungstür im zweiten Stock angekommen, griff er in die Tasche seiner Nappalederjacke und zog den Schlagring über seine rechte Hand. Dann presste sich sein schwieliger Daumen auf den Klingelschalter, unter dem Faber stand. Der Ton erinnerte an eine heisere Gummiente. Herbert wartete ein paar Sekunden, nichts tat sich, er klingelte nochmals. Ganz langsam wurde die Tür geöffnet. Herberts Blick ging ins Leere. Er stutzte. Dann wanderten seine Augen eine Etage tiefer und er sah ein etwa siebenjähriges braungelocktes Mädchen.
„Wer bist du?“, fragte sie.
„Wo ist dein … Vater?“, fragte er zurück.
„Weg.“
„Wann kommt er wieder?“
Das Mädchen zuckte mit den Achseln.
„Bist du allein?“, fragte Herbert.
Die Locken senkten und hoben sich in einem stummen Nicken.
„Gut, dann warte ich.“ Er drängte sich an der Kleinen vorbei, ging durch einen schmalen Flur hinüber in ein billig eingerichtetes Wohnzimmer und ließ sich auf die abgewetzte Couch fallen.
Das Mädchen folgte und setzte sich ihm gegenüber. Sie sah ihn an, ruhig und forschend, minutenlang. Herbert sah an ihr vorbei.
„Spielst du mit mir Halma?“
„Was?“, fragte Herbert.
„Halma. Du kannst auch blau sein.“
Haha, dachte Herbert. „Ich spiele nicht mit kleinen Gören.“
„Ich bin kein Gör. Mein Name ist Mariella. Und deiner?“
„Geht dich nix an.“
„Was willst du von meinem Papa?“
„Geht dich auch nix an.“
„Okay, jetzt bist du gelb.“
Zehn Minuten später rückte Herbert seine Figuren wie eine fußlahme gelbe Armee über das Spielfeld.
„Papa spielt auch gerne“, sagte Mariella.
„Wär‘ er mal beim Halma geblieben“, grummelte Herbert und sah ungeduldig auf seine Rolex. Sein Chef verstand keinen Spaß bei säumigen Zahlern und Herbert hatte nicht ewig Zeit. Wenn der Faber kommt, sperre ich diesen Lockenkopf am besten so lange im Klo ein, bis der Job erledigt ist, dachte er. Vielleicht kam er heute mit zwei Zähnen hin. Oder mit einem Veilchen.
Die blauen Figuren auf dem Brett vor ihm rückten unaufhaltsam dem gegenüberliegenden Feld entgegen. Herbert hatte plötzlich Lust auf Buletten mit Löwensenf.
„Wo ist eigentlich deine Mutter?“
„Weg.“
„Wie, weg?“
„Ganz weg.“ Ein kleiner Zeigefinger richtete sich senkrecht nach oben und Mariellas große braune Augen wurden traurig. „Da oben. Bei den Wolken.“
Auch das noch, dachte Herbert und zuckte im gleichen Moment zusammen. Das Geräusch der heiseren Ente quäkte durch die Wohnung. Fragend sah Herbert in das rundliche Mädchengesicht mit der Stupsnase und dem breiten Mund.
„Papa hat einen Schlüssel“, sagte Mariella.
„Wer ist es dann?“
„Weiß nicht.“
Wieder klingelte es, dieses Mal noch länger. Langsam stand Herbert auf. Während er zur Wohnungstür ging, zog er seine Walther Target aus der Innentasche der Lederjacke. Dann riss er mit der Waffe im Anschlag die Tür auf.
Er sah fettige Haarsträhnen quer über einen ovalen Schädel gekämmt, eine bläulich getönte Brille und einen fusseligen Backenbart. Sprang in der gleichen Sekunde auf den Mann zu, packte ihn mit dem linken Arm im Würgegriff, hielt ihm die Pistole an die Schläfe und zerrte ihn in die Wohnung.
Scheiße, dachte Herbert, Guido das Messer. Hat der Idiot von Faber auch noch Schulden bei dem. Aber es wurde schön der Reihe nach bedient, erst war Herberts Chef dran.
Guido zappelte und strampelte, „Zahnfee, du Mistkerl, lass mich sofort los, sonst …“
Herbert zog ihm eins mit dem Griff der Pistole über, er sackte in sich zusammen, eine Dunstwolke aus Frittenfett und kaltem Rauch stieg von ihm auf. Hinter sich hörte Herbert einen erstickten Laut, er drehte sich um und sah, wie das Mädchen eine Faust vor den Mund presste, die Augen in Angst geweitet.
Zentralkacke, dachte er und blies Luft aus seinen breiten Nüstern, jetzt muss ich das Gör auch noch mitnehmen.
„Wo spielt dein Papa denn immer?“
„Weiß ich nicht, er spielt gern was mit Essen“, antwortete Mariella mit zitternder Stimme.
„Hä?“
„Roulade oder so.“
Blitzschnell zerrte Herbert das Mädchen mit sich aus der Wohnung und verfrachtete sie kurz darauf in den Sovereign. „Und wehe, du schmierst mir Popel an die Polster.“ Dann gab er Gas und raste quer durch die Stadt zum Casino.
„Du wartest hier“, brummte er, stieg aus und schlug die Autotür zu. Gerade war er fünf Schritte gegangen, als ihm einfiel, dass er Faber nicht erkennen würde. Also lief er zurück zu seinem Wagen, zog die Kurze vom Rücksitz und ging mit ihr hinüber zum Casino.
„Kinder dürfen hier nicht rein.“ Der pomadige Schnösel am Eingang setzte ein strenges Gesicht auf. „Eintritt erst ab achtzehn.“
Herbert war mit dem Kind im Schlepptau bereits an ihm vorbei. „Püppi will zu ihrem Papi“, plärrte er durch die marmorvertäfelte Eingangshalle und lief weiter. In seiner Jackentasche vibrierte es, mit der Linken zog er sein Handy hervor, während er mit der Rechten das Kind hinter sich her schleifte. „Ah nee“, murmelte er, strich mit seinem Daumen über das Display und hielt sich das Telefon ans Ohr. „Mama, et is gerade ganz schlecht … Ich ruf dich später zurück.“
„Jung‘, wann kommsde denn mal wieder Sauerbraten essen?“, schallte es aus dem Handy, Herberts Mutter hatte immer noch das Organ eines Feldwebels. „Man hört ja gar nix mehr von dir. Ich hab‘ welchen eingelegt und die Klöße sind auch schon gerollt.“
„Ja Mama, bald. Ich meld‘ mich. Tschüssken.“ Herbert fühlte Schweiß seinen Nacken herunterrinnen und eilte weiter. Während er das Telefon zurück in die Jackentasche schob, passierte er mit dem Kind den Eingang des Spielsaals.
Das Erste, was er sah, war die Menschentraube an einem der Tische. Langsam näherte er sich und erblickte in deren Mitte einen schmalen Mann mit schütterem Haar und einem tränenüberströmten Gesicht.
„Papa“, rief Mariella und lief auf ihn zu. Herbert sah Erstaunen in das Heulsusengesicht treten und dann ein abgehobenes Strahlen. „Mariella, ich habe gewonnen“, rief der Mann und wirbelte das Mädchen herum.
„Hoffentlich reicht’s“, murmelte Herbert und hörte im gleichen Moment wieder Fabers Stimme: „Was machen Sie hier mit meiner Tochter? Wie kommen Sie dazu, sie herzubringen?“
„Kredit Direkt. Sagt dir das was? Los, raus vor die Tür.“
Ein paar Minuten später stand Herbert mit Faber und dem Mädchen neben seinem Jaguar.
„So, dann mal her mit den Scheinchen!“ Eben winkte er auffordernd mit seiner HATE-Pranke den Geldsegen heran, als ein roter Porsche Targa auf den Parkplatz einfuhr. Herberts Blick zuckte über das Kennzeichen.
„Verflucht! Schnell, einsteigen, macht schon. Weg hier“, rief er.
Faber starrte ihn mit offenem Mund an. Energisch riss Herbert die hintere Autotür auf, schubste ihn und den Lockenkopf auf die Rückbank, knallte die Tür wieder zu, klemmte sich hinters Lenkrad und raste los. Das Messer hatte sich tatsächlich schon wieder berappelt.
„Was, um Himmels Willen …“, stammelte Faber von der Rückbank.
„Guido Schneider, Finanzdienstleistungen?“, knurrte Herbert, und Faber war still. Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte Herbert, dass das Messer die Verfolgung aufgenommen hatte. Er beschleunigte den Sovereign, überfuhr eine kirschgelbe Ampel und gelangte auf eine zweispurige Ausfahrtstraße. Der Targa blieb hinter ihm an der Kreuzung zurück, Herbert gab Gas. In seiner Jackentasche vibrierte es. Wahrscheinlich der Chef. Eilig zog Herbert das Handy hervor.
Seine Mutter.
„Ah nä“, stöhnte er und nahm das Gespräch an. „Mama, wirklich, jetzt is et noch schlechter …“
„Jung‘, du musst sofort kommen“, keuchte es am anderen Ende der Leitung, „mir is der Bräter aufn Fuß gefallen, ich muss ind Krankenhaus.“
„Wat?“
„Schnell, et is schon ganz dick.“
„Mama, ruf die Rettung an, ich kann jetzt nicht …“
„Herbert!“
„Is gut, ich komm‘.“
*
„Kann ich bitte noch einen Kloß haben?“ Mariella hatte ganz rote Wangen und ihre Locken standen wild ab.
„Aber sicher, Schätzelchen. Herbert, tu dem Kind noch wat auf.“ Die altersfleckige Hand dirigierte in Richtung Schüssel, um den hochgelegten Fuß war ein dickes Kühlpack gebunden.
„Und wissen Sie was? Das System ist wirklich todsicher“, gluckste Faber an Herbert gewandt und trank einen großen Schluck Bier. „Damit sprengen Sie jeden Roulette-Tisch.“
„Ah“, schmatzte Herbert hervor und steckte sich noch ein Stück Braten in den Mund, „dann lass mal hören …“
Version 2