Von Jochen Ruscheweyh
Arnies Zungenspitze strich über ihren Gaumen, der sich im Gegensatz zu seinem glatt wie Seide anfühlte. Oder zumindest so, wie er annahm, dass Seide sich anfühlen musste, er war schließlich kein Stoffexperte. Nelly ließ ihn gewähren, stupste seinen Mundmuskel höchstens von Zeit zu Zeit ein wenig an, bewegte sich aber mehr um ihn herum, als dass sie ihrerseits in seinen Mund eindrang.
An der Innenseite ihrer linken Wangentasche gab es eine kleine raue Stelle, das hatte er schon beim letzten Mal bemerkt. Aber irgendwie verhielt es sich damit wie mit dieser Apfel im Paradies-Sache. Alles war okay, bis Adam nach dem Granny Smith langte. Und dass Nelly überhaupt mit ihm hier lag, kam dem Garden Eden Vergleich schon recht nahe. Also, warum etwas riskieren?
Nach einer Weile löste sie sich von ihm und griff nach dem Smoothie, der auf der Anrichte neben seinem Bett stand. Die grünliche Masse quälte sich durch den transparenten Halm, als Nelly daran sog.
Sie wischte sich über die Lippen und sagte: „Wir müssen darüber reden.“
Er nickte, denn er wusste, sie hatte recht. Im Prinzip war ja auch nichts dabei. Ein kleiner Eingriff. Und überflüssig waren sie ohnehin. Niemand nahm noch feste Speisen zu sich. Es gab genügend Studien, die sich mit der effizienten Verwertung von Nahrungsmitteln beschäftigten. Und alle kamen zu dem Ergebnis, dass man aus gesundheitlichen Gründen Gepresstem, Entsaftetem und Passiertem den Vorrang geben sollte.
Nelly hakte mit dem Zeigefinger hinter seine Unterlippe, bog sie herunter und ließ sie wieder flutschen. „Die Dinger sind überflüssig. Und außerdem total unhygienisch.“
Ja, auch damit hatte sie recht. Egal, was man tat, Zahnzwischenräume blieben ein Problem, selbst wenn man einen Profi ranließ. Eine Komplett-Extraktion und eine anschließende Versiegelung der leeren Zahntaschen hingegen schaffte da Sicherheit. Eigentlich hatte er sich auch schon lange und intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, aber ein paar Restzweifel waren dennoch geblieben. Wie würde es sich anfühlen und was war, wenn Komplikationen auftraten? Zumindest – und das konnte er mit Bestimmtheit sagen – handelte es sich um eine Maßnahme, die relativ irreversibel war. Es sei denn, man verfügte über entsprechende finanzielle Mittel. Andererseits kannte er niemanden, der es hatte machen lassen und sich seine Zähne zurückwünschte.
Und wenn er Nelly so ansah … sie war wirklich verdammt heiß. Ihre eingefallenen Wangen, die sich ihrer neuen Mundstruktur angepasst hatten, konnten mehr als konkurrieren mit den professionellen Animateurinnen im Netz. Ihre streng zurückgebundenen Haare und die sehr dunkel geschminkten Augen verliehen ihr diesen Heroin-Look, der kurz nach der Jahrtausendwende angesagt gewesen war. Ihm war dieser Trend kein Begriff gewesen, bis er neulich einen Beitrag auf einer Retro-Infotainment-Plattform zusammen mit einer alten Dokumentation über Massenselbstmorde bei Arktiswühlmäusen gesehen hatte, Egerlinge oder wie sie genannt wurden. Nelly ähnelte diesen Frauen vielleicht schon recht stark, aber im Gegensatz zu ihnen war sie … einfach perfekt.
Ohne weiter darüber nachzudenken traf er eine Entscheidung: „Okay, ich mach es.“
Sie stellte ihren Smoothie zur Seite, kroch zu ihm hinüber und küsste ihn auf eine Weise, wie sie es noch nie getan hatte.
Ein Zahnarztbesuch um die Jahrtausendwende musste der blanke Horror gewesen sein. Mit der Rente hatte sein Vater wie jeder andere Fünfundvierzigjährige einen gesetzlichen Anspruch auf Rizobinolcarbonat, und wenn er genug davon intus hatte, erzählte er manchmal von früher. Erzählungen, die sich oft um veraltete Praktiken von Urologen oder eben Dentisten rankten und so unglaublich klangen, dass Arnie ab und an vermutete, sein Vater hatte sich das meiste davon ausgedacht. Wenn dieser dann aber wie zum Beweis seinen Mund öffnete und die Anwesenden einen Blick auf die Narben und Nähte werfen ließ, war klar, was der Mann erlebt haben musste.
Von der Wand Arnie gegenüber strahlten ihn Dr.Lindner, Dr.Asmahni und Dr.Wessmann an. Unter ihren Portraits befand sich jeweils eine Kurzbeschreibung ihrer Fachgebiete. Merkwürdigerweise ließ ihr Lächeln perfekt weiße, gepflegte Zahnreihen erkennen.
„Arnie? Du kannst den Schlauch jetzt vorsichtig zwischen deine Lippen nehmen, aber nicht drauf beißen, in Ordnung?“
Er nickte und stöhnte gleichzeitig innerlich auf. Jedes Kind wusste, dass man nicht auf den Schlauch beißen durfte, weil sich dann der Durchmesser veränderte und damit der Zu- und Abfluss der Dental-Cyborgs gestört würde, die kleinen programmierten Roboter, die gleichzeitig anästhesierten, operierten und extrahierten und zusätzlich noch den Wundheilungsprozess so forcierten, dass binnen weniger Sekunden eine unversehrte Oberfläche zurückblieb. Auch darüber hatte er eine Menge gelesen.
Trotzdem ließ ihn die Überlegung nicht los, warum Zahnärzte, die einen zahnfreien Mund propagierten, nicht selbst zahnfrei waren. Arnie sah, wie Dr.Lindner kurz zur Wand hinüber blickte, dann wieder zu Arnie.
„Du weißt gar nicht, wie ich dich beneide“, begann der Doktor dann. „Aus medizinrechtlichen Gründen ist es mir untersagt, die Behandlung an mir selbst vorzunehmen. Solange ich Arzt bin, muss ich diese Dinger behalten.“ Und er fügte hinzu: „Und ich bin Arzt aus Leidenschaft, da ich den Menschen helfen möchte. Ich denke, du erkennst mein Dilemma. So, nicht erschrecken, die Borgs kommen jetzt. Es kribbelt ein wenig.“
Arnie nickte ein weiteres Mal.
Es begann tatsächlich zu kribbeln. Einen Moment später fühlte es sich an, als wenn seine Kiefer zerfließen würden. Nicht unangenehm, nur irgendwie neu. Ungewohnt.
Die Erklärung, die ihm Dr.Lindner gegeben hatte, klang logisch. Schließlich musste jeder für sich selbst entscheiden, ob er seine Zähne behalten oder entfernen lassen wollte. Und ein Zahnarzt ohne Zähne würde da sicher manipulativ auf einige wirken. Sicher, es gab solche Leute, denen es schwer fiel, eigene Entscheidungen zu treffen, die beeinflussbar waren und die musste man schützen.
Dann musste er an Nelly denken und wie sie ihn geküsst hatte, als er ihr seine Entscheidung mitgeteilt hatte und dass dies erst der Anfang war. Aber er machte das mit den Zähnen nicht für sie, gut, ein bisschen vielleicht, aber der gesundheitliche Aspekt war ihm wesentlich wichtiger. Und wenn der Eingriff nicht in direktem Zusammenhang mit Mundgesundheit im Allgemeinen stand, dann würde die Regierung, der Gesundheitsminister oder irgendjemand anders es ohnehin verbieten.
Ihm war ein wenig übel. Er musste sich an der Hauswand festhalten, als er aus der Praxis trat. Trotzdem fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr. Voller Tatendrang und positiver Energie. Neben der Adresse von Dr.Lindner hatte Nelly ihm auch die eines Logopäden gegeben. Arnie war sich zwar sicher, dass er sich schnell an das Sprechen ohne Zähne gewöhnen würde, andererseits machten alle die Sprachtherapie. Also würde er auch hingehen.
Von der gegenüberliegenden Seite der Straße kam ein Mann auf ihn zu. Arnie blickte sich um. Wo blieb Nelly bloß? Sie verspätete sich offenbar. Der Mann näherte sich, und Arnie erkannte den glasigen Blick eines Rentners auf Rizobinolcarbonat.
Ungefragt legte der Mann den Arm um Arnies Schultern: „Die Chinesen. Junge, ich sag dir, die Chinesen sind an allem Schuld. Erst klauen sie unsere Technologie, dann unsere Milch und jetzt unsere Zähne. Naja, früher haben sie Nashörner und Elfenbein für ihre Potenz pulverisiert, jetzt die Zähne von hirnlosen Lemmingen …“
Arnie wandte sich aus der Umarmung und stieß den Mann weg, der verwirrt lachend auf dem Boden landete. Wo Nelly nur blieb? Sie würden es sich bei ihm bequem machen und spätestens in ein zwei Stunden wäre er wieder einsatzfähig und zu allem bereit. Und dann …
„Dich haben sie auch geködert, was?“, ächzte der Mann, während er sich an der Hauswand aufrichtete. „Wartest auf dein Mädchen, was? Die wird nicht kommen, die hat es nur auf deine Beißerchen abgesehen gehabt.“
Arnie wandte sich um und schlug zu. Der Mann krümmte sich. Unter Husten presste er hervor: „Zeig mir deine Zähne, Lemming …“