Von Siggi Hallensleben

Es war ein Freitag im April, und nichts deutete an diesem verregneten Nachmittag darauf hin, dass sich etwas Besonderes in Agathes Leben ereignen würde. Genauso wenig, wie sich in den letzten zehn Jahren ereignet hatte und in den kommenden fünf Jahren ereignen würde. Agathe Schmitt war dreiundvierzig Jahre alt, verantwortungsvoll und bescheiden, kurz gesagt, eine Stütze für jeden Betrieb.

 

Es hatte natürlich Zeiten gegeben, in denen sie anspruchsvoller gewesen war. Vor achtzehn Jahren etwa, als sie davon geräumt hatte, den Mann fürs Leben zu finden. Leider gibt es kaum noch Märchenprinzen, und als schließlich doch ein seltenes Exemplar auftauchte, heiratete es prompt ihre beste Freundin. Ein Jahr später wurde sie die Taufpatin des kleinen Hendriks und durfte so regelmäßig am Glück und Unglück der jungen Familie teilhaben.

 

In den kommenden Jahren presste sie oft die Lippen zusammen, um den Schmerz, der in ihr wühlte, nicht hinausschreien zu müssen. Glücklicherweise gewöhnte man sich mit der Zeit daran, übersehen zu werden. Wem fiel schon eine Frau mit dünnem Haar, sommersprossigem Teint und Konfektionsgröße 44 auf? Dazu kamen Zähne, an denen sich jeder Zahnarzt einen Porsche verdient hätte, wäre ihm die Erlaubnis erteilt worden, sie in ein attraktives Gebiss verwandeln zu dürfen. Agathe besaß genug Realismus, um sich keinen Illusionen hinzugeben. In ihrem Alter glaubte man nicht mehr an Märchen.

Was blieb? Sie begann, sich fortan für den Betrieb aufzuopfern, machte unbezahlte Überstunden, belegte einen Computerkurs, zog auf der Fensterbank neben ihrem Schreibtisch Grünlilien und kaufte ein paar Kostüme und die dazu passenden Schuhe. Wenn ihr schon privates Glück versagt blieb, wollte sie wenigstens im Beruf Erfolg haben.

Schließlich schaffte sie es bis ins Büro des stellvertretenden Abteilungsleiters, wo sie gern für die schwierigen Fälle herangezogen wurde, morgens den Kaffee für alle kochte und unermüdlich erkrankte Kolleginnen vertrat.

 

Dann kam die Chance ihres Lebens. Die Vorzimmerdame des Abteilungsleiters hatte sich im letzten Urlaub Hals über Kopf in einen feurigen Italiener verliebt und nach einem Sprachkurs an der Volkshochschule beschlossen, ihm in den sonnigen Süden zu folgen.

Agathes Bewerbung war eine der ersten, die beim Personalbüroleiter auf dem Schreibtisch lagen.

 

An diesem Freitagnachmittag im April beschloss sie, ausnahmsweise früher Schluss zu machen, weil sie noch zum Frisör gehen und anschließend ihrem Patenkind einen Geburtstagsbesuch abstatten wollte.

Sie schlüpfte gerade in ihren Mantel, als sie von der Sekretärin des Personalchefs in dessen Büro gebeten wurde. Auf dem schweren Mahagoni-Schreibtisch befanden sich ihre Bewerbungsunterlagen.

„Bitte setzen Sie sich doch, Frau Schmitt“, sagte der Mann, dem ihre Zukunft oblag.

Agathe ließ sich nieder und merkte, wie ihre Hände feucht und die Lippen dafür trocken wurden. Ihr komplettes Leben ruhte sorgfältig sortiert und chronologisch geordnet in diesem Stapel Papier. Sie stand am Scheideweg ihrer zwanzigjährigen Berufstätigkeit.

„Der Abteilungsleiter und ich haben uns eingehend mit ihrer Bewerbung befasst“, begann ihr Gegenüber und lächelte betont aufmunternd. „Wir sind beide sehr angetan von Ihren Unterlagen. Auch wurden Sie uns von Ihrem Vorgesetzten als zuverlässige und äußerst kompetente Fachkraft geschildert. Deshalb bedauern wir zutiefst, dass wir Sie bei dieser Stellenausschreibung nicht berücksichtigen können, da eine Ihrer Mitbewerberinnen noch bessere Referenzen…“ Den Rest hörte Agathe nicht mehr, weil es in ihren Ohren zu dröhnen begann. Sie brachte ein schales Lächeln zustande, nickte höflich, schüttelte dem Personalchef die Hand und stand fünf Minuten später mit ihrer Bewerbungsmappe unter dem Arm auf der Straße. Sie vergaß ihren Schirm, den Frisörtermin und Hendriks Geburtstag, wobei Letzteres vermutlich eine gute Tat darstellte, da Hendrik inzwischen siebzehn Jahre alt war und eher auf Partys mit Gleichaltrigen stand.

Sie wachte erst wieder aus ihrer Betäubung auf, als sie die Wohnungstür ihres kleinen Zwei-Zimmer-Appartements hinter sich schloss.

Dies war das Ende ihrer Karriere! Sie würde Zeit ihres Lebens als einfache Sekretärin ihr Dasein fristen, das wusste sie jetzt. Sie kannte die Mitbewerberin, der man den Vorzug gegeben hatte. Sie war fünfundzwanzig, seit drei Jahren im Betrieb, besaß langes blondes Haar und trug Miniröcke mit Reißverschluss.

 

Normalerweise leistete sich Agathe Schmitt kein Selbstmitleid, aber in dieser Nacht wurde sie von einer heftigen Woge überschwemmt, der sie nicht im Geringsten auszuweichen vermochte. Vierzig weitere Jahre tristes Leben lagen vor ihr, wenn sie nichts dagegen unternahm. Jeder neue Tag würde ein Abbild des vorangegangen werden und irgendwann würde sie frustriert aufwachen und sich fragen, ob das alles gewesen war. Gab es denn keine Möglichkeit, ihrem Leben eine Wende zu geben? Sie wollte so gern bleibende Spuren hinterlassen.

 

Nach mehreren schlaflosen Stunden, literweise Kräutertee inklusive einer Packung Diätkräckern begann sich eine Idee in ihrem Kopf festzusetzen. Samstag früh um neun hatte sie so weit Gestalt angenommen, dass sie in ein Computergeschäft ging, dort einen gebrauchten Drucker samt fünfhundert Blatt Papier erstand und das neueste Textverarbeitungsprogramm auf ihrem etwas altersschwachen Laptop installieren ließ. Als nächstes kaufte sie sich ein paar rote Highheels, mit denen jeder Schritt zum halsbrecherischen Risiko wurde. Doch das war kein Problem, denn sie würde diese ohnehin nur im Sitzen tragen.

Den Rest des Wochenendes verlebte sie wie in Trance.

Ihre Hauptfigur nannte sie Valerie. Sie fuhr einen BMW Cabriolet, arbeitete in einer Anwaltskanzlei und besserte ihren Lohn mit Werbung für Bodylotions auf. Selbstverständlich verstrickte sie sich bei ihrem Job in allerlei kriminalistische Aufklärungsarbeiten und entrann jeweils nur mit knapper Not Umweltkatastrophen, Vergewaltigungen, Feuersbrünsten und Verkehrsunfällen. Die Männer lagen ihr scharenweise zu Füßen, bessergesagt zu ihren hochhackigen Riemen-Schühchen, aber sie genoss ihre Freiheit zu sehr, als dass sie eine feste Bindung angestrebt hätte.

Um die amourösen Abenteuer, in die Valerie gegen ihren Willen immer wieder verstrickt wurde, glaubwürdig zu Papier bringen zu können, genügte das Spätprogramm eines Samstagabends im Fernsehen. Außerdem dachte Agathe an all die Liebesromane, die sie bereits verschlungen hatte.

Nach acht Monaten war sie so weit. Mit übernächtigten Augen brachte sie ihr Manuskript zur Post.

 

Ein viertel Jahr später saß sie im Büro der Verlagsleiterin, einer grauhaarigen Frau Anfang Fünfzig, die vom Aussehen her ihre große Schwester hätte sein können.

Diese kam ohne Umschweife zum Thema: „Wir haben sehr großes Interesse an Ihrem Manuskript und ich bin mir sicher, dass es Millionen von Leserinnen und Lesern ähnlich ergehen wird. Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihre Geschichte unter einem Pseudonym zu veröffentlichen? Das gibt dem ganzen etwas Geheimnisvolles, Romantisches. Außerdem könnte man im Vorwort so zwischen den Zeilen erwähnen, dass es sich um eine Art Autobiographie handelt. Ich sehe die Verkaufszahlen dadurch förmlich in die Höhe schnellen.“

 

Sie nannte sich Dolores Felding und der Roman wurde innerhalb eines halben Jahres zum Bestseller.

Mehrere Fortsetzungen folgten, denn Agathe hatte einen beinahe unerschöpflichen Vorrat an unerfüllten Phantasien, denen sie nun freien Lauf lassen konnte. Sie führte das perfekte Doppelleben. Tagsüber war sie die brave, farblose Agathe Schmitt und nachts und an den Wochenenden wurde sie zur atemberaubenden Valerie… Niemand in ihrem Büro ahnte auch nur das Geringste davon.

Ihre kleinen Triumphe feierte sie, wenn sie eines ihrer Bücher bei einer Arbeitskollegin oder Bekannten entdeckte und jemand von der berühmten Autorin schwärmte. Dann lächelte sie stets still vor sich hin und sagte, solche Bücher wären nichts für sie.

 

Alles hätte so weiterlaufen können, wenn es nicht die Frankfurter Buchmesse gäbe, und man eine Bestsellerautorin wie Dolores Felding auf keinen Fall unter den Tisch kehren durfte, Pseudonym hin oder her. Das Mindeste, was man von ihr erwartete, war eine Autorenlesung mit anschließender Signierstunde.

Agathe schlief zwei Nächte lang so gut wie gar nicht und stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber die Verlagsleiterin, die mittlerweile zu ihrer Freundin geworden war, wusste einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage: Mit viel Geld und einigem guten Zureden wurde ein verarmtes, jobloses Unterwäsche-Model für ihre Sache gewonnen. Dieses musste innerhalb von zwei Wochen sämtliche Romane, die Agathe sich in den letzten vier Jahren von der Seele geschrieben hatte, in- und auswendig lernen, einen Rhetorikkurs absolvieren und mehrere Verträge unterschreiben, die ihr absolutes Stillschweigen auferlegten. Anschließend durfte man dem großen Tag gelassen entgegensehen.

 

Agathe stand mitten in der Schar der Bewunderinnen, die mit verzücktem Antlitz lauschten, wie „Dolores Felding“ aus ihrem neuesten Werk vorlas.

„Wenn man so aussieht wie die, hat man gut reden und schreiben“, seufzte die Zuhörerin direkt neben ihr. „Die bekommt wenigstens was vom echten Leben ab.“

Während die anderen nach vorne stürmten, um sich ein Autogramm in ihr frisch erstandenes Buch zu ergattern, blieb Agathe im Hintergrund. Sie überlegte kurz, ob sie sich als die wahre Autorin der „Valerie- Reihe“ outen sollte, nur, um diesen Frauen klarzumachen, dass nichts, was in diesen Büchern stand, auch nur im Entferntesten mit dem wahren Leben zu tun hatte. Dass alles eine einzige Lüge war. Aber als sie in die Gesichter der begeisterten, weiblichen Fans blickte, wusste sie, dass es dafür zu spät war. Niemand würde ihr glauben.

Schweigend drehte sie sich um und ging. Sie hatte es zwar endlich geschafft, Spuren zu hinterlassen, allerdings in den falschen Schuhen.

Version 2