Von Sabine Esser

Schnee, überall Schnee. Schnee und flacher Wind, der alles zuweht.

 

„Mami!“, schreie ich, weiß aber, dass meine Stimme zu schwach ist.

Wo sind die alle? Es müssen doch Spuren da sein vom Treck? Ich sehe schwarze, kahle Bäume in regelmäßigen Abständen vor dem unendlichen Weiß und Grau. Dazwischen muss eine Straße sein. Was hat ein Pimpf zu tun? Mindestens Winnetou! Ja, hier müssen Gespanne gefahren sein. Aber in welche Richtung? Warum bin ich allein? Nur, weil ich den toten Kradfahrer so lange angestarrt habe? Weil ich meinte, mit meinem Fahrrad schneller zu sein?

„Maaaami!“, brülle ich wieder und wieder. Keine Antwort. Nur das Sausen des Windes über dem Schnee.

Mir ist eisig kalt. Trotzdem harre ich aus. Sie muss doch kommen. Sie ist immer gekommen, wenn ich sie rief. Und stets hat sie mir eingeschärft: „Schrei‘, so laut du kannst und bleib da, wo du bist. Ich hole dich.“

 

Ohne Bozena (die, die Gott gehört, weiß ich heute) hätte ich nicht überlebt. Sie brabbelte ständig vor sich hin, während sie mir warme Ziegelsteine unter die dünnen Decken schob. Wenn ich weinte, bettete sie mich an ihren leeren Busen und schaukelte mich wie ein kleines Kind hin und her. Sang und betete dazu Unverständliches. Einen feinen Spuckenebel bekam ich dann ab, weil ihr so viele Zähne fehlten.

Als ich sie das erste Mal ansah, leuchteten ihre Augen so hell.

 

Dass sie mir die Haare ganz kurz geschnitten hatte, bemerkte ich nicht. Es gab keinen Spiegel. Außerdem musste ich ständig eine Mütze tragen, damit der Kopf sich nicht erkältet.

 

Sie lehrte mich, ein Kreuz zu schlagen, bevor es heiße Kartoffeln, in Ziegenmilch gequetscht, mit darein gerührten getrockneten Pilzen, eingelegten Gurken oder Zwiebeln oder roter Beete gab. Das sollte wohl „Danke“ heißen, dass wir etwas zu essen hatten. Für Sauerkraut mit Speck machte ich sogar zwei Kreuze, dann lachte sie und haute mir zärtlich auf die Ohren.

Wenn sie Teig knetete und Brot buk, sang sie leise vor sich hin.

 

Oft verschwand sie, ich musste dann auf „Kotze“ und das Feuer im Ofen aufpassen. Dass die Ziege „Koza“ hieß, verstand ich erst später.

Meist kam sie mit einem gut gefüllten Sack zurück. Speck war darin, Mehl, Eingewecktes, deutsch beschriftet. Manchmal schleppte sie auch einen Ballen Heu für Koza hinter sich her oder ein Bündel Feuerholz.

 

Wie ein Küken hütete sie mich den ganzen Winter lang. Damit mir nicht langweilig wurde, schenkte sie mir ein graues Kätzchen. Ich nannte es Miezi, aber weil Bozena es immer Sari rief, nannte auch ich es nach kurzer Zeit nur noch Sari.

 

Ganz besonders war der Tag, als sie mit lauter alter Kleidung zurückkam. Sie tanzte tatsächlich mit ihren krummen Beinen um mich herum, neckte mich am Kinn und summte etwas, das wohl heißen sollte: „Söhnchen, Söhnchen, schönes Söhnchen.“

Sie nahm Maß und nähte und nähte. Ich saß am Ofen zu ihren Füßen, kraulte Sari, sagte deutsche Gedichte auf und sang deutsche Volkslieder.

 

Mitten in ihrer Fröhlichkeit hielt sie inne, sah mich an und Tränen rannen aus ihren Augen. Was sie sagte, verstand ich nicht. Aber sie nahm mich ganz besonders fest in den Arm und betete leise.

 

Ich bekam eine neue Hose, eine neue Jacke, ein neues Hemd. Mein alter Pullover ging noch.

 

Manchmal durfte ich sie auf ihren Streifzügen begleiten. Leere Dörfer, leere Höfe, keine frischen Gräber. Tote Soldaten, tote Menschen, krepiertes Vieh. Die lagen einfach rum, niemand kümmerte sich. So hatte sie auch mich gefunden. Es gab viel Brauchbares, intakte Fenster, Ofenknie, Töpfe und Pfannen, sogar gute Matratzen und dicke, feuchte Federbetten, die wir mühsam trockneten. Die vier halbtoten Hühner päppelten wir wieder auf. Und Koza bekam eine Freundin. Es ging uns richtig gut.

 

Ein leises „Niech Pan was zachowa“ begleitete jeden Abend den Gutenachtkuss. Langsam lernte ich Polnisch und wusste, dass sie mir Gottes Segen wünschte.

 

Auch allein zog ich nun los, wurde immer mutiger. Bis ich erwischt wurde. Russische Soldaten. Eigentlich hätten sie mich wegen Plünderei erschießen müssen. Ich kreischte und schrie auf Polnisch, das mag ihnen vertraut vorgekommen sein. Einer nahm mich jedenfalls in den Arm, beruhigte mich und ließ mich tatsächlich laufen. Schenkte mir sogar Zigaretten!

 

Dann kam der Beschluss, dass alle Deutschen aus Polen zu entfernen seien. Bozena hat bestimmt nicht gepetzt, aber oft gesagt: „Wenn deine Mama noch lebt, dann sucht sie dich.“ Nur deswegen hat sie mich gemeldet. Als ich abgeholt wurde, weinten wir beide.

 

Mit dem Bahntransport kam ich in Deutschland an. Niemand erwartete mich. Ich wurde fotografiert, eine Akte für den Suchdienst angelegt. Im Kinderheim nannte man mich „Polacke“. Ich hatte niemanden, wollte zu Bozena zurück. Keine Chance, ich war ja „deutsch“, und die Welt war geteilt.

 

Im Wirtschaftswunderland konnte auch ich es zu geringem Wohlstand bringen. Seit kurzem bin ich in Rente. Bozena ist schon lange tot. Ich habe sie finanziell unterstützt, so gut es eben ging, die Beerdigung und den Grabstein bezahlt. Familie hatte sie ja seit dem Einmarsch in Polen nicht mehr. Nur mich.

Das DRK fand heraus, dass mein Vater am ersten Tage des Russlandfeldzuges bei Tauroggen gefallen ist. Es gibt dort sogar eine Gedenkstätte. Und Totentourismus.

 

Was mir keine Ruhe lässt – wo ist meine Mutter? Lebt sie noch? Oder liegt sie niedergemäht von Tieffliegern in einem Graben? Unbeerdigt? Wurde sie verschleppt? Ist sie einfach erfroren? Warum ist sie nicht gekommen?

 

Ich suche noch immer nach ihr. Jetzt sind die Grenzen offen.

 

Sie sagte: „Bleib, wo du bist.“ Ich muss zurück zu dieser Landstraße, will wissen, wohin sie gegangen ist. Wenn sie überhaupt irgendwohin gegangen ist.

 

Ich erkenne die Gegend kaum. Alles hat sich verändert. Jeden Weg von und zu Bozenas verschwundener Kate laufe ich, schließe meine Augen. Meine Füße müssen sich erinnern. Und plötzlich halten sie inne.

 

Nichts ist zu sehen. Kein Grab. Kein Kreuz. Gar nichts. Nur eine simple Allee. Trotzdem spüre ich, dass sich genau hier unsere gemeinsame Spur verliert.

 

Der Bürgermeister gibt mir die Genehmigung, auf meine Kosten ein Steinkreuz aufzustellen. Darauf steht:

 

„1945. Für unsere Mütter. Dla naszych matek.“

 

 

Version 3