Von Manuel Fiammetta
„Kinder, geht nicht zu weit weg.“
„Ist gut“, rief Marie, während sie mit Paul und Thomas weiterrannte. Ihr Ziel war die große Eiche. Hier wollten es sich die drei unter der dichten Krone gemütlich machen und Süßigkeiten essen.
„Gib mir auch einen Keks“, forderte Paul, nachdem sich Thomas gleich zwei auf einmal in den Mund schob.
„Du siehst ja aus wie ein Hamster“, befand Marie und fing lauthals an zu lachen. Paul musste nun auch lachen und als Thomas die beiden so sah, konnte er nicht mehr innehalten – voller Inbrunst kam es auch aus ihm heraus.
„Komm Marie“, sagte Thomas als er sah, dass die Leckereien schon aufgegessen waren „wir holen noch mehr Kekse bei unseren Eltern.“
„Sie müssen verstehen, dass das keine alltägliche Geschichte ist. Ich bitte Sie deshalb, dem Hauptkommissar alles zu erzählen und dann …“
Paul fiel ihm mit zittriger Stimme ins Wort: „Hören Sie, wir haben keine Zeit. Sie müssen ihn suchen! Und das Mädchen!“
„Ich verstehe ja ihre Aufregung und ich möchte Sie auch ernst nehmen, aber zur Absicherung …“
Erneut unterbrach Paul Wachtmeister Schmitt. Diesmal war seine Stimme kraftvoller und sein Blick eindringlich.
„Sie. Müssen. Ihn. Suchen. JETZT!“
„Beruhigen Sie sich bitte. Ich werde schon mal einen Streifenwagen losschicken.“
Paul war besänftigt, aber noch nicht gänzlich beruhigt.
„Anstatt mich hier zum X-ten Mal anzuhören, könnten Sie schon längst nach dem Täter suchen.“
Ein lautes Klopfen beendete die zwischenzeitliche Ruhe. Ein großer, stämmiger Mann Mitte Fünfzig betrat den Raum.
„Guten Tag“, grummelte er. Seine Laune hätte schlechter nicht sein können.
„Danke, dass Sie gekommen sind“, antwortete ihm Schmitt.
Müller verschränkte seine Arme, nachdem er auf einem Stuhl Platz nahm.
„Machen Sie mir bitte einen Kaffee. Schwarz mit zwei Löffel Zucker. Und stark“, befahl er Schmitt, um dann fortzufahren: „Dann fangen Sie mal an, Herr…“
„Burger. Mein Name ist Paul Burger.“
„Von mir aus. Also los“, zischte Müller.
„Mein Freund Magnus hat heute Morgen beobachtet, wie ein Mann im Holzhausenpark ein kleines Mädchen entführte. Magnus konnte mir den Mann genau beschreiben …“
Müller fiel Paul ins Wort: „Wenn ihr Freund das gesehen hat, warum zum Henker sind SIE dann hier?“
Paul fuhr sich durchs lichte Haar und antwortete voller Stolz: „Er kann nicht hier sein. Magnus ist ein Baum. Eine Eiche. Er steht im Holzhausenpark.“
Paul lehnte nun alleine an dem mächtigen Baumstamm, als er plötzlich das Gefühl hatte, ein Blitz durchzöge seinen Körper. Geborgenheit und Verständnis schienen ihn zu umarmen.
Müller knallte seine Faust auf den Tisch. „Wollen Sie mich verarschen? Glauben Sie, ich sitze hier rum, um mir so ein Märchen anzuhören. Erzählen Sie das einem Botaniker, aber nicht mir.“
Er stand auf und lief zur Tür.
„Warten Sie bitte, Herr Müller“, eilte Schmitt zu ihm. „Hören Sie sich die ganze Geschichte an.“
„Meine Zeit ist mir zu kostbar“, entfuhr es Müller. Im selben Moment klingelte das Telefon. Am anderen Ende waren die Kollegen von der Streife.
„Sie haben einen rosafarbenen Hello-Kitty Rucksack im Park gefunden. Er ist leer“, sagte Schmitt.
Müller wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte, entschied sich dann dafür, Paul weitererzählen zu lassen.
„Seit vielen Jahren gehe ich jeden Tag zu Magnus. So auch heute Morgen. Als ich mich zu ihm setzte, spürte ich schon, dass etwas nicht stimmte. Ich erfuhr dann, dass ein Mann mit schwarzen lockigen Haaren, blauer Jeanshose und grauem Hemd ein Mädchen mitgenommen hatte. Sie wehrte sich und wollte nicht mitgehen. Er packte sie mit einer Hand an ihrem Rucksack und mit der anderen, hielt er ihr den Mund zu.“
Müller unterbrach Paul.
„Ich komme mir dabei zwar bescheuert vor, aber konnte ihr ‚Freund‘ Ihnen sagen, wie der Rucksack aussah?“
„Nein. Der Mann verdeckte ihn.“
„Natürlich konnte er das nicht. ER ist ja auch ein BAUM“, schrie Müller. „Machen Sie schnell weiter, damit wir den Spuk beenden können.“
Paul war sauer. Er hasste es, wenn sich jemand über seine Freundschaft zu Magnus lustig machte.
„Ich mache nur weiter, weil ich dem Mädchen helfen möchte“, sagte er schließlich.
„Wie alt war das Mädchen?“, wollte Müller wissen.
„Etwa acht oder neun.“
„Kleidung?“
„Sie trug eine rosa Hose und eine rote Strickjacke. Ihre Schuhe waren auch rot.“
„Schmitt, rufen Sie bitte sämtliche Grundschulen im Umkreis an und fragen, ob ein Mädchen unentschuldigt fehlt“, befahl Müller.
In den Folgejahren entwickelte sich eine immer tiefere Freundschaft zwischen Paul und seinem Baum. Sie sprachen dieselbe Sprache. Er hatte, als einer von ganz wenigen Menschen, diese Gabe. Die Folge war, dass sich seine Schulkameraden und Freunde über Paul lächerlich machten und ihn als Irren abstempelten. Auch seine besten Freunde Thomas und Marie ließen ihn im Stich.
„Es fehlt kein Mädchen unentschuldigt“, gab Schmitt die Ergebnisse seiner Anrufe bekannt, als
erneut das Telefon läutete.
Mit großen Augen stand Schmitt nun da. „Ein achtjähriges Mädchen wird vermisst.“
Ein paar Augenblicke später betrat Müller wieder den Raum.
„Die Eltern sind unterwegs“, klärte Schmitt ihn auf.
Paul rutschte derweil nervös auf seinem Stuhl hin und her.
„Stimmt was nicht“, wollte Müller wissen.
„Nun, nachdem ja jetzt bewiesen wäre, dass ich nicht gelogen habe, kann ich doch gehen. Ich werde zuhause erwartet.“
Müller war von der Idee nicht angetan. „Sie bleiben jetzt bitte noch, bis die Eltern des Mädchens hier sind.“
Paul wirkte sehr angespannt. Seine Augenlider zuckten.
Dann kamen die Eltern herein.
„Guten Abend. Mein Name ist Müller. Ich bin der Hauptkommissar. Das hier ist mein Kollege, Wachtmeister Schmitt, und dort sitzt der…“ Kurze Pause. „… ‚Zeuge‘, Herr Burger.“
Thomas, der Vater des Mädchens, starrte ungläubig.
„Paul?“
„Ja.“
„Sie kennen sich?“, fragte Müller erstaunt.
„Kann man wohl sagen“, antwortete Thomas.
„Gut, wir beschleunigen das Ganze jetzt mal. Herr Burger behauptet, sein Freund Magnus hätte gesehen, von wem ihre Tochter entführt wurde.“
„Magnus“, brüllte Thomas. „Wegen des Baumes, ist unsere Freundschaft kaputt gegangen. Paul, verschwinde endlich aus meinem Leben.“
„Was trug Ihre Tochter heute Morgen?“ Mit dieser Frage versuchte Schmitt, die Diskussion wieder auf das Wesentliche zu lenken.
„Anna liebt Rosa und Rot. Deswegen trägt sie zu Zeit fast nur Kleidung in solchen Farben. Ihre Schuhe sind auch rot und sie hat einen rosa Hello-Kitty Rucksack“, antwortete Thomas, während seine Frau mit den Tränen kämpfte.
Paul zappelte indes wieder hektisch auf seinem Stuhl.
Schmitt fasste den bisherigen Tag nochmal zusammen.
„… und schließlich haben wir die Aktion mit dem Pony durchgeführt.“
„Mit dem Pony?“ Thomas war neugierig.
„Wir wollten testen, inwieweit Herr Burger die Wahrheit sagt und wie wir das beweisen können. So haben wir uns von dem Zirkus, welcher gerade in der Stadt ist, ein Pony geholt und sind mit ihm durch den Park gelaufen. Herr Burger wusste von nichts. Er sollte dann zu seinem Baum gehen und herausfinden, ob es heute noch etwas Besonderes gab.“
„Und?“
„Nun, Herr Burger konnte uns nicht sagen, dass ein Pony durch den Park lief…“
„Da sehen Sie es doch – der Typ ist verrückt und jetzt zieht er auch noch meine Tochter da rein.“
„Darf ich mal auf die Toilette?“, fragte Paul.
„Schmitt, Sie gehen mit ihm“, murrte Müller. Paul war so nervös, dass er seinen Stoffbeutel, der mit einer Schlaufe am Stuhlbein festgebunden war, vergaß. Durch das Aufschnellen verschob sich der Stuhl und die Schlaufe löste sich.
„Was ist das“, wollte Müller wissen und deutete auf den Stoffbeutel. Aus ihm kullerten zwei Papierbälle. Es waren zusammengeknüllte Bäckertüten.
In dem Moment meldeten sich erneut die Kollegen von der Streife. Schmitt hörte ihnen gespannt zu und berichtete dann den Anderen.
„Die Kollegen haben mehrere Passanten und Mitarbeiter der umliegenden Geschäfte befragt. Auch zu Herrn Burger.
Am interessantesten, gerade auch in Bezug auf die Tüten hier, war die Aussage der Bäckereiverkäuferin. Sie sagte, dass Paul seit über zehn Jahren jeden Morgen in den Laden käme und immer das Gleiche kaufe – ein mit Salami belegtes Brötchen und einen Kaffee. Heute Morgen hat er aber zusätzlich noch ein Schokocroissant gekauft.“
„Schokocroissant möchte meine Kleine immer…“, flüsterte die Mutter.
Müller zog sich Gummihandschuhe an und sah in beide Tüten. In einer waren Brötchenkrümel und in der anderen die Krümel eines Croissants sowie Schokoladenspuren.
Schmitt kam mit Paul wieder zurück. Paul sah, was Müller in den Händen hielt. Seine Nervosität war ihm sichtlich anzumerken.
„Haben Sie das Mädchen entführt?“, fragte Müller mit lauter Stimme.
Paul fing an zu weinen und nickte. Er wusste, dass er aus dieser Nummer nicht mehr raus kam. Das war für Thomas das Zeichen, seine Faust in Pauls Gesicht zu schlagen.
Schmitt packte Thomas von hinten und hielt ihn zurück, weiter auf Paul einzuschlagen.
„Wo ist sie?“, schrie Müller Paul an.
„Bei mir zu Hause. Es geht ihr gut. Glauben Sie mir.“
Müller und Schmitt fuhren mit Paul in dessen Wohnung. Das Mädchen lebte, das war das Wichtigste.
„Ich wollte doch nur, dass mir endlich jemand glaubt: Ich kann mit Magnus sprechen und er auf seine Art mit mir.“
Müller war angewidert von Paul. „Das können Sie dem Gericht erklären. Oder ihren Kollegen im Irrenhaus.“
Als Anna ihre Eltern sah, rannte sie in ihre Arme. „Es tut mir leid, dass ich nicht den direkten Weg zu Oma gegangen bin. Das mache ich nie wieder. Versprochen.“
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Jahre später.
Schmitt saß an einem warmen Sommertag mit seiner Familie im Park. Die Picknickdecke war unter der Krone eines großen Eichenbaumes ausgelegt. Während seine Frau mit der Kleinen spielte, lehnte er sich mit dem Rücken an den Baum und erinnerte sich an den Fall ‚Paul Burger‘. Das Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden, schoss durch seinen Körper. Danach fühlte es sich an, als ob der Baum mit ihm sprechen würde. Er gehörte zu den Wenigen, die diese Gabe auch hatten. Doch er verschwieg sie lieber.
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