Von Monika Heil
Sie waren eine fröhliche Tischrunde, Frau Holl, eine gepflegte Achtzigjährige, die stets größten Wert auf ihr Äußeres legte, Lilo Sander, klein, rundlich, quirlig, eine Person, die schnell einen Scherz parat hatte und auch an düsteren Tagen Sonnenschein verbreiten konnte. Und dann waren da noch die beiden Herren.
Franz Söhnker, ein ehemaliger Finanzbeamter, war froh, an diesem Tisch zu sitzen und nicht nebenan bei den „senilen Alten“, wie er sich auszudrücken pflegte. Er liebte die täglichen Gespräche über das Wetter und den gelegentlichen Klatsch über das Personal. Auch interessierte ihn alles, was das Haus kulturell bot. Leider legten sich ab und zu ein paar Nebelschwaden über sein Gedächtnis. Hin und wieder verlegte er Gegenstände, in letzter Zeit allerdings auch zunehmend seine Gedanken. Dann saß er einfach nur da, regungslos und in sich gekehrt. Manchmal merkte er das irgendwann selbst. Im allgemeinen aber blieben ihm seine Stimmungsschwankungen und die Aussetzer seines Erinnerungsvermögens verborgen.
Und schließlich war da noch Günter Küster, ein ehemaliger Handwerksmeister, pragmatisch, nüchtern, wortkarg. Nur Frau Sander konnte ihn aus der Reserve locken. Ihre spöttischen Bemerkungen brachten ihn immer wieder zum Lachen. Frau Holl schmunzelte dann wortlos und Franz Söhnker schaute irritiert.
»Mhmm, lecker – Bohnensuppe und Quarkspeise.« Die Runde war sich einig. »Das dürfte es öfter geben. Da muss man nicht so viel kauen.«
Andererseits kommt, wenn es Suppe gibt, Schwester Sabine zu selten vorbei, überlegte Franz Söhnker.
»Die ist die Netteste von allen. Ich sollte sie mal wieder zum Tanzen einladen«, murmelte er so leise, dass niemand es hörte. Drüben bei den senilen Alten bleibt sie auch bei Eintopf stehen, stellte er missmutig fest. Soll ich ebenfalls so tun, als ob ich den Löffel nicht mehr richtig halten kann?, fragte er in Gedanken und gab sich gleich wortlos die Antwort: Lieber nicht. Dann kommt sie bestimmt nicht mit zum Tanzen.
»Verflucht, habe ich heute wieder Schmerzen im Knie«, unterbrach Günter Küster seine Überlegungen.
»Das ist doch nichts Neues«, raunzte er. Frau Holl lächelte mitfühlend, während sie mit der linken Hand ihre Frisur richtete. Gerade ging Major von Stetten grüßend durch den Raum.
»Quarkwickel! Meine Großmutter hat immer Quarkwickel gemacht«, trompetete Lilo Sander.
»Ihre Großmutter? Wann war das denn? Im 17. oder im 18. Jahrhundert? Hat die den alten Bismarck noch gekannt?« Franz Söhnker, sauer, dass er aus seinen Träumen gerissen worden war, lachte sarkastisch.
»Das nicht, aber …«, setzte Frau Sander an.
»Quarkwickel sind gut!«, dröhnte Herrn Küsters Bass in die Runde. Wie auf Kommando starrten alle auf die Schälchen mit dem Dessert.
»Mhmm, wo bekommen wir jetzt ein Leinentuch her?«
Frau Sander blickte sich im Speisesaal um. Flink stand sie auf und lief zum Sideboard auf dem eine Obstschale und eine Vase mit künstlichen Blumen standen. Mit einem Ruck zog sie den schmalen Tischläufer weg, der dort zur Zierde lag und kehrte zu ihrem Tisch zurück. Die Runde sah sie erwartungsvoll an. Doch die alte Dame schwieg beharrlich, während sie geschäftig in ihrer Handtasche kramte. Schließlich förderte sie ein blütenweißes Taschentuch mit lachsfarbener Häkelspitze zutage. (Sie wusste, dass in einem Schubfach in ihrem Zimmer noch circa dreißig weitere lagen – Geschenke diverser Nichten, wie sie vor fünfzig Jahren so Mode waren. Spitzenkanten in allen Farben, himmelblau, sonnengelb, schlüpferrosa.)
Eines kann ich für den guten Zweck opfern, beschloss sie.
»Krempeln Sie Ihr Hosenbein hoch«, verlangte Lilo von dem verdutzten Herrn Küster. Stöhnend bückte der sich und tat, wie ihm geheißen. Nur gut, dass er heute Morgen seine labberige Jogginghose angezogen hatte. Franz Söhnker wollte behilflich sein und bot sein Knie als Stütze an. Herr Küster nahm das Angebot dankend an und hob das Bein. Die Damen starrten auf seine Romikahausschuhe. Unmöglich! Mittags im Restaurant in Hausschuhen! Missbilligend schüttelte Frau Holl den Kopf. Eine steile Falte schob sich zwischen ihre Brauen, während sie sich mit den Glasschälchen beschäftigte. Lilo Sander hielt das Tuch, Frau Holl schüttete. Merkwürdig flüssig war der Quark. Das Tuch fasste den Inhalt zweier Schalen. Platsch, landete alles auf Günter Küsters schmerzendem Knie. Frau Holl hatte ihre lila Seidenstola von der Schulter genommen – auch sie wollte ihren Beitrag leisten – und schlang sie um das erkrankte Knie. Frau Sander vervollständigte den Verband mit dem Tischläufer. Wo hatte sie nur heute morgen die Sicherheitsnadeln hingesteckt? Ach ja, unter das Blusenrevers. Als hätte sie es geahnt!
»Aua!«
»Entschuldigung!«
»Nicht so laut!«
Franz Söhnker fiel nichts ein, womit er zur Unterhaltung hätte beitragen können. Seine Gedanken blieben wie schlafende Fledermäuse in den Dachsparren seines Gehirns hängen.
»Hausschuhe«, flüsterte er schließlich. »Ach, Schwester Sabine!«, rief er kurz darauf, als die Tür aufging.
»Hose runter!«, zischte Frau Sander.
»Das hat auch lange keiner mehr zu mir gesagt«, grinste Herr Küster und rollte gehorsam das schnittlauchgrüne Hosenbein über den Verband. Franz Söhnker zog ein gefülltes Dessertschälchen zu sich und aß den Inhalt genüsslich.
»Erdbeerjoghurt, lecker«, strahlte er die junge Pflegekraft an, die am Tisch vorbei eilte. Die Blicke der anderen nahm er nicht wahr. Nur das Funkeln in Sabines blauen Augen registrierte er. Irgend etwas hatte er ihr sagen wollen. Nur was? Weg.
»Mahlzeit!«
Wie auf Kommando standen die anderen drei auf.
»Wer hat seinen Nachtisch nicht gegessen?«
Keiner hörte auf Franz Söhnker. Nun gut, dann würde er heute zwei essen. Oder sollte er Schwester Sabine …? Die war schon wieder bei den senilen Alten nebenan.
Kurz darauf rieb er zufrieden sein nicht vorhandenes Bäuchlein, gab ein kaum hörbares „Bäuerchen“ von sich und stand vorsichtig auf. Das ging auch nicht mehr so flott wie früher. Wo war nur der alte Küster abgeblieben? Der wartete doch sonst auf ihn. Der wusste doch, dass er manchmal vergaß, wo das Zimmer lag, das sie gemeinsam bewohnten. Schwester Sabine war auch nicht mehr im Raum, sonst hätte er sie in sein Zimmer begleiten können.
Nervös schaute er sich um. Sein Blick fiel auf den gefliesten Boden. Was ist das denn? Wie im Märchen! Lauter kleine weiße Flecken. Wie war das noch bei Hänsel und Gretel? Richtig, Brotkrumen. Und das hier? Eine weiße, leicht rosa gefärbte Fährte. Hatte Günter Küster diese Spur gelegt? Und wer war jetzt Hänsel und wer Gretel? Egal. Freundlich lächelnd folgte er der Spur und fand problemlos sein Zimmer.
Die Tür stand offen. Günter Küster saß mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck auf seinem Bett. Wie ein kleines Kind, das gescholten worden ist, ging es Franz Söhnker durch den Kopf. Schwester Sabine hatte sich so über das Bein gebeugt, dass er nicht sehen konnte, was sie tat. Frau Holls schöne Seidenstola lag nass, verschmutzt und völlig unansehnlich auf dem Boden, Frau Sanders Spitzentaschentuch flog gerade durch die Luft. Jetzt erhob sich Schwester Sabine, streckte ihren schönen Rücken und trat einen Schritt beiseite. Nun entdeckte Söhnker die schmalen Rinnsale, die am Schienbein seines Zimmergenossen herabliefen. Er schrie leise auf und hielt sich erschreckt eine Hand vor den Mund.
»Meine Güte, Herr Küster, was haben Sie denn gemacht? Nur noch weiße Blutkörperchen, kaum noch rote! Wie ist das denn passiert?«
Der Angesprochene zuckte, noch immer wortlos, die Schultern.
»Quarkwickel«, sagte er endlich und sah Schwester Sabine ängstlich an.
»Erdbeerjoghurt, meine Herren, Erdbeerjoghurt!«
Sie verbiss sich mühsam ein Lachen.
»Wie schön«, meinte Herr Söhnker. »Dann können wir heute Abend ja doch tanzen gehen, Gretel, oder?«
»Was hat sie denn?«, fragte er Franz Küster, der noch immer bewegungslos auf dem Bett saß, nachdem Schwester Sabine in das Bad gestürzt war, um ein Handtuch zu holen. Keiner der beiden bekam ihren Lachkrampf mit.