Von Eva Fischer

Regentropfen prasseln gegen die Fensterscheiben, laufen in Schlieren abwärts, die Sophie mit dem Zeigerfinger nachzeichnet.

Im Buchladen gibt es keine Kunden und auch Max zeigt keine Lust, Gassi geführt zu werden, ein Wetter eben, wo man keinen Hund vor die Tür jagt, auch keinen Menschen.

Marlene hat sich eine Tasse Tee gemacht.

„Willst du auch etwas trinken?“, fragt sie Sophie. Doch diese schüttelt den Kopf.

„Du hast bald Geburtstag“, versucht Marlene ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Was wünschst du dir denn?“

„Nichts, was man mit Geld kaufen kann.“

Sophie trommelt wütend gegen die Scheibe.

„Auch nicht mit einer Million?“, feixt Marlene.

„Auch nicht mit einer Million“,  seufzt Sophie.

„Nun mach es nicht so spannend! Was wünschst du dir?“

„Einen Papa!“

Marlene schluckt. Sie weiß, dass Sophie bei ihren Großeltern lebt und dass ihre Mutter als Flugbegleiterin ständig unterwegs ist. Von einem Vater ist nie die Rede gewesen.

„Ich bin in einem One-night-stand gezeugt worden, sagt Mama“, fährt die bald 11- Jährige  fort.

„Nachts gezeugt zu werden, finde ich ja cool, aber wieso stehend? Es ist wohl irgendwo zwischen New York und Los Angeles passiert, sagt Mama.“

„Dann haben wir schon eine erste Spur. Dein Papa spricht Englisch. Das erklärt, warum Englisch dein Lieblingsfach ist.“

Marlene beißt sich auf die Lippen. Sie weiß nicht, ob sie falsche Hoffnungen weckt. In der Tat wendet sich Sophie von der Fensterscheibe ab und fragt: „Meinst du, wir können meinen Papa finden?“

„Dazu müssten wir seinen Namen wissen. Das Internet hilft, Leute ausfindig zu machen. Aber mal ehrlich, bist du wirklich an einem Papa interessiert? Die können nämlich auch ganz schön nerven, sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Und außerdem hast du doch einen netten Opa.“

Sophie wendet sich wieder der Scheibe zu und verscheucht imaginäre Fliegen.

„Und wenn ich den Namen rauskriege, hilfst du mir dann?“, fragt sie Marlene.

 

*

 

Eine Woche nach ihrem Geburtstag stürmt Sophie in Marlenes Buchladen. Sie kann es kaum abwarten, bis die Kunden gegangen sind.

„Ich weiß jetzt, wie mein Papa heißt. Jürgen Janitschek!“

„Doch kein Amerikaner!“, meint Marlene lächelnd.

„Nein, er ist Deutscher und Flugkapitän. Ich habe den Namen schon gegoogelt. Es gibt drei. Einen in Frankfurt, einen in Münster und einen in Korbach. Aber ich denke, ein Flugkapitän wohnt am ehesten in Frankfurt. Schließlich gibt es da den größten Flughafen. Ich schlage vor, wir fangen damit an.“

„Wow! Du bist ja ganz schön pfiffig, Miss Marple. Und wie stellst du dir vor, dass du von Düsseldorf nach Frankfurt kommst? Hast du da auch schon einen Plan?“

„Du hast doch versprochen, mir zu helfen.“

„Ach, wir fahren gemeinsam hin?“

„Genau!“

„Und was ist mit meinem Laden und deiner Schule?“

„Wir können doch am Wochenende fahren. Dann machst du halt deinen Laden mal am Samstag zu. Bitte, Marlene, bitte!“

Marlene gehen zig Fragen durch den Kopf. Was, wenn Sophies Vater tatsächlich in Frankfurt wohnt, dort eine Familie hat, von Sophies Existenz nichts ahnt? Was würde Sophies Mutter zu ihrem Ausflug sagen oder ihre Großeltern? Vielleicht oder ganz bestimmt entspricht der reale Vater nicht Sophies Wunschvorstellungen. Ist Sophie dann enttäuscht?

„Bitte, Marlene! Ich will ihn nur einmal treffen. Mama hat mir schon gesagt, dass er  verheiratet ist und dass er ihr nicht mehr wichtig ist.“

„Aber dir ist er sehr wichtig? Stimmt’s?“

Sophie nickt und Tränen schießen ihr in die Augen.

„Also gut, wir können den Ausflug mit der Frankfurter Buchmesse verbinden.“

„Hier, ich habe dir die Telefonnummer mitgebracht. Du musst ihn anrufen, damit wir auch wissen, ob er zu Hause ist.“

Marlene schluckt und nimmt die Nummer mit der Frankfurter Vorwahl entgegen.

„Wie stellst du dir das denn vor? Soll ich ihn auch noch fragen, ob er eine Flugbegleiterin namens Carmen Kaiser kennt?“

„Das wäre nicht schlecht, denn sonst können wir uns die Reise sparen“, erwidert Sophie.

 

*

 

Marlene wünscht, sie hätte Sophie nicht versprochen, ihr zu helfen. Aber nun ist es zu spät und sie grübelt, unter welchem Vorwand sie ein Gespräch mit Jürgen Janitschek führen könnte. Ihre eigenen Internetrecherchen haben wie bei Sophie auch nur eine Telefonnummer ergeben, die sie immer wieder böse anstarrt und die sie mittlerweile auswendig kann.

Als wen soll sie sich am Telefon ausgeben, denn sie muss damit rechnen, dass die Frau von Jürgen Janitschek am Hörer ist?

Als ehemalige Klassenkameradin, die ein Klassentreffen plant?

Als Kollegin, die ihrem Mann etwas Wichtiges mitzuteilen hat?

Und wie soll sie Herrn Janitschek schonend beibringen, dass er eine Tochter hat?

Wie hätten ihre Romanheldinnen das Problem gelöst?

Schließlich verfällt sie auf die Idee, sich als Redakteurin einer Zeitschrift auszugeben, die für einen Artikel Recherchen über Flugkapitäne anstellt.

Mit Herzklopfen wählt sie die Frankfurter Nummer. Eine Frau meldet sich. Nein, mit ihrem Mann könne sie nicht sprechen. Der sei seit einem Jahr verstorben und Flugkapitän sei er auch nie gewesen.

Marlene schluckt. Nur nicht aufgeben, denkt sie, und sucht die Münsteraner Nummer heraus. Es meldete sich ein Mann, der ihr mit Interesse zuhört. Was für ein Artikel das genau sei, will er wissen und für welche Zeitung sie schreibe. „Für die Rheinische Post“, stottert sie mit einem Blick auf die Tageszeitung vor ihr. „Wissen Sie, ich bin selbst Autor und solche Dinge finde ich spannend. Wir könnten uns doch mal treffen“, schlägt er vor.

Eigentlich findet Marlene, dass Jürgen Janitschek durchaus sympathisch klingt und Autoren interessieren sie von Berufs wegen auch, aber sie will sich jetzt nicht von der Fährte abbringen lassen. „Wissen Sie, im Augenblick habe ich viel zu tun, aber ich habe Ihre Telefonnummer und kann Sie beizeiten zurückrufen“, sagt sie und hängt ein.

Bleibt noch die Korbacher Nummer. Kaum hat sie ihr Sprüchlein aufgesagt, keift sie eine männliche Stimme an. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich auf so einen Scheiß hereinfalle“, brüllt jemand in den Hörer. „Ist das der neuste Enkeltrick? Nur weil ich 70 bin, bin ich noch lange nicht senil. Mein Geld kriegen Sie nicht, das versprechen ich Ihnen, aber ich hetze Ihnen die Polizei auf den Hals wegen Belästigung friedlicher Mitbürger. Ihre Nummer sehe ich ja auf dem Display.“

Marlene legt auf. Vorerst sitzt sie in einer Sackgasse.

 

„Alle drei Jürgen Janitschek sind nicht deine Väter“, teilt sie Sophie am nächsten Tag mit und erzählt ihr von den Telefonaten.

„Ich gehe mal eine Runde mit Max“, sagt Sophie, ohne Marlenes Bericht zu kommentieren.

„Hör zu, Sophie! Ohne deine Mutter können wir deinen Vater nicht finden. Was hältst du davon, wenn ich sie mal treffe? Kannst du das arrangieren?“

 

*

 

Drei Wochen später treffen sich die beiden Frauen in einem Bistro. Marlene hat den Buchladen eine Stunde früher geschlossen.

Sie ist beeindruckt von der großen, gut aussehenden, jugendlichen Frau, deren lange Beine in Röhrenjeans stecken und deren blonde Haare samtig wippen wie bei einer l’Oréal-Werbung.

„Sie müssen Frau Müller sein“, begrüßt sie Marlene herzlich. „Sophie hat schon so viel von Ihnen erzählt und natürlich von Max.“

„Ja, ja, ich weiß. Sophie ist jetzt in dem Alter, wo sie ihren Vater vermisst“, seufzt Carmen Kaiser, nachdem beide sich angeregt über den Beruf der jeweils anderen ausgetauscht haben.

„Ich dachte, ein Name würde Sophie genügen.“

„Der aber nicht stimmte“, wirft Marlene ein.

„Natürlich nicht!“ Frau Kaiser lächelt versonnen.

„Jürgen Janitschek ist ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Der Name kam mir gerade in den Sinn, als Sophie mich so bedrängte“, fährt sie fort.

„Und er wohnt in Münster und ist Autor“, ergänzt Marlene.

„Na ja, Autor ist zu viel gesagt. Er ist Fotograph und möchte gerne Kinderbücher schreiben.“

„Er wäre also der ideale Vater für Sophie“, seufzt Marlene.

„Aber eben nicht der Richtige!“ Frau Kaiser nippt an ihrem Cappuccino und schaut durch das Fenster, wo Wolken durch den abendroten Himmel jagen.

Nach einer Weile fährt sie fort.

„Dann soll Sophie eben zu Simon nach New York fliegen.“

„Sophie soll alleine fliegen?“, staunt Marlene.

„Warum nicht? Ist doch ganz easy. Was soll schon passieren, wenn sie einmal in der richtigen Maschine sitzt? Außerdem kümmern sich die Flugbegleiter ganz rührend um Kinder. Es wird Zeit, dass Sophie endlich etwas von der Welt sieht.“

Marlene findet, dass eine Elfjährige nicht gleich um den halben Globus fliegen muss und dazu ohne eine vertraute Person, aber Sophies Mutter denkt offensichtlich anders darüber und so setzt Marlene zu einer neuen Frage an.

„Ist denn dieser Simon verheiratet?“

„Never ever! Er liebt seine Freiheit so wie ich”, lacht Frau Kaiser.

„Und was macht er beruflich?“

„Na, was vermuten Sie?“

„Flugkapitän?“

„Nein! Immobilienmakler. Ich habe ihn in einer Bar in Brooklyn kennengelernt. Ein wahnsinnig interessanter Mann und Knete hat er auch. Sophie wird begeistert sein.“

Marlene runzelt die Stirn.

„Möchte Sophies Vater denn auch seine Tochter kennen lernen?“

„Ach, Simon ist open-minded! Er findet Sophie sicher reizend, solange er sie mir nach einer Woche wieder zurückschicken kann”, zwinkert Frau Kaiser Marlene zu.

 

*

 

„Da ist ja die Weltenbummlerin“, freut sich Marlene, als Sophie nach den Osterferien wieder in den Buchladen kommt.

„Wie war New York?“

“Mega cool!!!“

„Und dein Papa? Ist der auch cool?“

„Simon is a wicked guy.“

“Wicked?”

“Ja, super cool eben. But he isn’t my dad. He’s my best friend.”

„Nicht?“, wundert sich Marlene.

„Nein, er hat meine Mama im April getroffen und ein Jahr später im März wurde ich geboren. Schließlich bin ich kein Elefant, der 11 Monate braucht.“

Sophie prustet los.“Törö!“, trompetet sie wie Benjamin Blümchen.

Marlene lässt sich von ihrem Lachen anstecken.

Fürs Erste scheint die Vater-Recherche ad acta gelegt zu sein, denkt sie und hört Sophies Abenteuern mit Simon zu.