Von Ursula Riedinger

Die letzte Spur von Johanna verlief irgendwo südlich von Tamanrasset im Sand.

Johannas Eltern hatten alles in ihrer Macht stehende versucht, um etwas über den Verbleib ihrer Tochter herauszufinden: Die Botschaft kontaktiert, Spezialisten eingeschaltet, Suchaufrufe lanciert. Solange sie etwas tun konnten, blieb der Hauch einer Hoffnung. Nun sahen sie keinen anderen Ausweg mehr als selbst hinzufliegen. Sie zögerten. Alle rieten davon ab. Algerien war kein sicheres Reiseland mehr.

Aber Johanna war nach Algerien gereist, stur an ihrem Ziel festhaltend. Seit sie lesen konnte, hatte sie alles verschlungen, was es über die Sahara zu lesen gab, Geschichten, Beschreibungen, Berichte. Als Kind war es Federica de Cesco, später René Caillié und Heinrich Barth, Alberto Vázquez-Figueroa und Ibrahim al-Koni. Der kleine Prinz war ihr Lieblingsbuch gewesen. Sie hatte andere Länder bereist, war in Lappland und Israel gewesen. Aber ihr grosser Traum blieb die Sahara und das stolze Volk der Tuareg.

Mit 19 lernte sie Julian kennen, einen abenteuerlustigen jungen Mann mit schwarzen Strubbelhaaren und funkelnden dunklen Augen. Johanna verfiel ihm mit Haut und Haar. Julian war 11 Jahre älter als sie. Sie hing an seinen Lippen, wenn er seine Weltanschauung mit einfachen Worten darlegte: Nur die Angst kann dem Menschen Grenzen setzen, darum muss man seine Angst überwinden. Nur wer seine Angst überwindet, kann seine Freiheit finden. Diese Botschaften fielen in Johannas Herz auf fruchtbaren Boden.

Johanna hatte die Reise mit Julian offenbar schon lange geplant. Ihre Eltern setzte sie erst kurz vor dem Abflug nach Alger davon in Kenntnis. Sie konnten nichts dagegen tun, schliesslich war ihre Tochter volljährig.

Die erste Nachricht von Johanna erhielten sie aus der Wüstenstadt Ghardaïa. Sie beschrieb die Wüste in den herrlichsten Farben, lobte die Freundlichkeit der Menschen. Sie schauten im Internet nach: In der Region von Ghardaïa praktizierten die Mozabiten eine sehr strenge Form des Islam. Trug ihre blondgelockte Tochter einen Schleier? Gaben sie sich als verheiratetes Paar aus? Markus und Monika waren unruhig. Nach weiteren Wochen erreichte sie die Nachricht, dass die beiden endlich in Tamanrasset angekommen waren. Sie hatten die ganze Strecke mit einem Jeep und einem einheimischen Fahrer zurückgelegt.

Johanna träumte davon, eine Zeit lang im Hoggar bei den Tuareg zu leben, das wusste ihre Mutter. Dann hörten sie nichts mehr von Johanna und Julian. Zuerst machten sie sich noch keine Sorgen. Es war völlig klar, dass sie keine Nachricht erhalten würden; in einem Tuareglager gab es keinen Handyempfang. Je mehr Zeit verging, desto besorgter wurden Monika und Markus. Irgendwann begannen sie Nachforschungen anzustellen. Sie fanden heraus, dass das Paar in keinem der wenigen Hotels abgestiegen war, sondern wahrscheinlich privat wohnte. Die blonde junge Frau und der schwarzhaarige Mann waren einigen Leuten in der Stadt aufgefallen. Irgendwann hatten sie die Stadt verlassen, um zu einer Stammesgruppe der Kel Ahaggar zu fahren, davon hatten sie oft gesprochen. Danach verlor sich ihre Spur.

Im Oktober erhielten Sie einen Anruf von der algerischen Botschaft. Julian war in einem trockenen Wadi tot aufgefunden worden. In seiner Tasche fand man Markus und Monikas Adresse. Die Botschaft suchte nach Julians Eltern, aber sie konnten nicht weiterhelfen. Julian hatte nie über seine Eltern gesprochen.

Nach langen, zermürbenden Diskussionen beschlossen Johannas Eltern, im Winter selbst nach Tamanrasset zu reisen. Das Letzte, das sie tun konnten, um eine Spur von Johanna zu finden. Die quälende Ungewissheit war kaum auszuhalten. Sie mussten wissen, was mit ihrer Tochter passiert war.

In Alger trafen sie sich mit Lounis Aït-Mansour, der sie nach Tamanrasset begleiten würde. Er war ein engagierter Anwalt, der sich auf Entführungen in Algerien spezialisiert hatte. Von unschätzbarem Vorteil war, dass er Berber war und mehrere berberische Sprachen beherrschte. Mit einer uralten kleinen Maschine flogen sie nach Tamanrasset. Die Hitze war immer noch erdrückend. Sie stiegen in einem Hotel ab, das ziemlich heruntergekommen wirkte, aber eines der besten sein sollte. Auch die Schäbigkeit der Stadt fiel ins Auge. Warum hatte es Johanna magisch hierhin gezogen?

In den folgenden Tagen besuchten sie mit Lounis verschiedene Orte, wo Johanna und Julian gesehen worden waren. Die Vermieterin des privaten kleinen Gasthauses, das sie schliesslich fanden, beantwortete Lounis Fragen nur widerwillig. Sie erzählte, dass sie kaum mit den beiden gesprochen hatte, aber liess durchblicken, dass sie es missbilligte, dass das Paar zusammenwohnte. Allerdings brauchte sie das Geld dringend. Mehr Glück hatten sie auf der Polizeistation. Der diensthabende Beamte war sehr höflich, sprach ein ausgezeichnetes Französisch und konnte zu ihrer Überraschung genau darüber Auskunft geben, wohin Julian und Johanna gehen wollten. Sie hatten bei ihm vorgesprochen, da sie für einen längeren Aufenthalt bei den Kel Ahaggar im Hoggar eine Sonderbewilligung benötigten. Ihr Ziel war eine Gruppe der Kel Rela. Die Bewilligung hatten sie am 1. März erhalten, sie war drei Monate gültig. Danach hatte er von dem Paar nichts mehr gehört.

Nachdem sie sich beraten hatten, war klar: Sie mussten ebenfalls zu den Kel Rela fahren. Lounis organisierte Führer, bewaffnete Begleiter zu ihrem Schutz, einen Wagen und Kamele, die sie je nach Aufenthaltsort des Stamms benutzen würden. Geld spielte jetzt überhaupt keine Rolle.

Monika war es mulmig zu Mute als sie aufbrachen, Markus zeigte sich beherrscht. Der Guide war selbst ein Amghar, ein lokaler Stammesführer, und er wusste genau, welche Gruppe sie suchten. Überall, wo sie hinkamen, wurden sie dank ihm freundlich empfangen. Obwohl es schon November war, brannte die Sonne während des Tages immer noch unbarmherzig, nachts wurde es sehr kalt. Wenn Monika in der Nacht zu den Sternen hinaufschaute, ahnte sie etwas davon, was Johanna hierher gezogen hatte. Diese Sterne in der Wüste waren unbeschreiblich. Den letzten Teil der Strecke mussten sie auf dem Kamel zurücklegen.

Am fünften Tag erreichten sie endlich den Stamm. Es wurde gerade ein grosses Fest vorbereitet und sie wurden freundlich eingeladen teilzuhaben. Sie erhielten ein separates Zelt und wurden ununterbrochen mit Tee und Süssem bewirtet. Erst mal ausruhen, das war angenehm, auch wenn die Anspannung blieb. Lounis meinte, dass man erst nach dem Fest mit dem Amghar oder sogar mit dem höchsten Führer der Kel Ahaggar, dem Amenokal, über ihre Tochter sprechen konnte. Ein solches Gespräch jetzt anzustreben wäre unhöflich.

Am übernächsten Tag begann das Fest. Die Mädchen schminkten sich unter viel Gekicher und Gesang, die jungen Männer polierten ihre Waffen, schmückten ihre Pferde und zogen neue Gewänder an. Fleisch brutzelte. Am Nachmittag begannen die Gesänge, Tänze und Reitvorführungen. Dann trat der Amenokal vor und hielt eine Ansprache. Lounis Gesicht erstarrte.

„Was ist?“ flüsterte Monika. Lounis winkte ab.

Die Trommeln schwiegen. Aus einem Zelt wurde eine reich geschmückte Braut getragen. Ihr Gesicht war mit einem blauen Schleier bedeckt. Der Amenokal deutete auf die Braut. Die Frauen begannen zu trillern und klatschen. Der Amenokal, offenbar der Bräutigam, näherte sich der Braut und hob ihren Schleier hoch.

„Johanna!“ stiess Monika aus und wollte aufspringen, aber wurde von mehreren Frauen festgehalten. Lounis schüttelte müde den Kopf.

Monika versuchte, einen Blick von Johanna einzufangen. Johanna vermied es jedoch, in ihre Richtung zu schauen. Sie sah verändert aus, etwas Wehmütiges lag auf ihrem Gesicht. Ihre lebhafte, wilde Tochter war nicht mehr die Gleiche.

Jetzt wurde Monika erst richtig bewusst, was das bedeutete. „Wir müssen sie hier zurücklassen“, flüsterte Monika Markus zu. Markus nickte. Als sie zu ihm hinüberschaute, sah sie Tränen über seine Wangen rinnen.

Sie hatten Johanna gefunden, aber gleich wieder verloren.

Ein paar Monate nach ihrer Rückkehr erhielten sie einen Brief von Johanna.

Liebe Eltern

Es tut mir leid, dass ich euch Kummer bereitet habe. Leider konnte ich euch nichts erklären, als ihr hier wart.

Ich bin jetzt die Frau des Amenokal und führe ein einfaches Lebens, wie ich es mir immer gewünscht habe. Es ist nicht leicht, wie eine Targia zu leben, aber ich schicke mich in die Dinge wie sie sind. Auch die Sprache ist schwierig zu erlernen, aber ich mache langsam Fortschritte. Ich darf euch auch mitteilen, dass ich im nächsten Herbst ein Kind erwarte.

Sicher habt ihr euch oft gefragt, was mit mir passiert ist. Als Julian bei einer Sturzflut im Wadi ums Leben kam, war ich untröstlich. Ich konnte es nicht fassen, wollte nur noch weinen. Der Amenokal nahm mich in seine Familiengruppe auf und die Frauen trösteten und bemutterten mich. Eines Tages, als es mir etwas besser ging, bat der Amenokal mich zu sich und fragte, ob ich seine Frau werden möchte, seine Frau sei im letzten Jahr gestorben. Dass er mich fragte, war für mich eine sehr grosse Ehre. Ich überlegte lange und er liess mir Zeit. Die Frau des Amenokals zu sein ist mit sehr viel Verantwortung verbunden. Schliesslich sagte ich ja. Ich konnte nicht anders. Eine befreundete Stammesgruppe hat mich adoptiert und ich erhielt einen neuen Namen, da bei den Tuareg die Frau den Namen weitergibt.

Ich wünsche euch, liebe Eltern, viel Glück und Gottes Segen und bitte euch, ab und zu an eure ferne Tochter zu denken.

Eure Johanna

(Version 2)