Von Jutta Wein

Dort oben im Norden war es im Winter bitterkalt. In den endlosen Nächten herrschte Dunkelheit. Am Himmel zeigten sich gelegentlich Nordlichter, die alle Wesen des Waldes und der Berge zum Staunen brachten. Trolle, Elfen und Menschen lebten in Eintracht miteinander; selten gab es Unfrieden. Aber Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel.

Im Sommer schienen die Tage hingegen nie zu enden. In den kurzen Nächten trieben sich allerlei merkwürdige Gesellen im Zwielicht herum.

Auf einer kleinen Lichtung stand -etwas verloren- ein kleiner Bauernhof, umgeben von dichten Wäldern. Still war es und einsam. Hier lebten ein junger Bauer und seine Frau. Sie hielten einige Rinder, Ziegen und Schweine. Genügsam waren die beiden und an ein einfaches Leben gewöhnt. Sie liebten sich und waren sehr glücklich.

Die Bäuerin brachte schon bald einen Sohn zur Welt. Fridtjof nannten sie das blonde Kerlchen. Zwei Jahre später wurde ein wunderschönes Mädchen geboren. Es sollte den Namen Schneewittchen bekommen, weil sich die Bäuerin am Tag der Zeugung mit einer Nähnadel gestochen hatte. Drei Blutstropfen waren, genau wie im Märchen, in den Schnee gefallen. So schilderte sie es ihrem jungen Ehemann, als sie das Neugeborene in den Armen hielt. Der fixierte sie ungläubig, beließ es aber bei dem ungewöhnlichen Namen.

Das kleine Schneewittchen sah reizend aus und machte den Eltern viel Freude. Es hatte eine helle, fast durchsichtige Haut, rosige Wangen und kräftiges dunkles Haar.

Das Glück der kleinen Familie schien nun perfekt zu sein.

 

In einer Baumhöhle, im nahegelegenen Wald, hatte sich der kleine Troll Fenir mit seiner Frau Auda niedergelassen. Sie hatten sich gemütlich und komfortabel eingerichtet. Gemächlich auf „Trollart“ waren sie an die Sache herangegangen. Fenir suchte bewusst die Nähe zu den Menschen und wollte bei ihnen sein. Er wollte diese nicht ärgern oder stören wie seine Artverwandten, sondern ihnen zur Seite stehen.

Die zwei beiden hatten sieben tollpatschige Kinder, die sie liebevoll ihre „7 Zwerge“ nannten. Die Kleinen hatten wie ihre Eltern dicke Knubbelnasen und in alle Richtungen abstehende Haare. Sie waren, wie Trolle im Allgemeinen, eher ungeschickt und trugen Latzhosen in bunten Farben.

Gerne stand der kleine Troll vor seiner Behausung und beobachtete den Bauer, die Bäuerin und deren Kinder. Noch traute er sich nicht in ihre Nähe. Manchmal konnte er sich jedoch nicht beherrschen und schlich ums Haus und schaute in die Zimmer.

Fenir und Auda sowie ihre Menschen waren aber nicht allein. Die starken Riesentrolle mit den großen Mündern und den schiefen Zähnen, breiteten sich immer mehr aus. Sie kamen näher. Man sagte ihnen nach, dass sie grob seien und sich linkisch bewegen. Fenir hatte großen Respekt vor ihnen. Zu Recht. Die Riesen erwiesen sich immer wieder als gemein und hinterlistig. Niemand war vor ihnen sicher.  

Die kleinen Trolle versteckten sich gern in ihrer Behausung, um unentdeckt zu bleiben. Sie beherrschten die Zauberei, setzten diese aber nur im äußersten Notfall ein. Sie waren nun mal ungeschickt und wollten kein Unheil anrichten.  

Das Leben der jungen Bäuerin stand unter keinem guten Stern. Sie erkrankte schwer und verstarb unerwartet.

Am Tag der Beerdigung saß der kleine Troll Fenir betrübt vor seiner Höhle, den Blick auf den Hof gerichtet. Gerne wäre er zu den Trauernden gegangen, hätte ihnen geholfen und sie getröstet, aber er durfte sich den Menschen nicht zeigen.  Auda gesellte sich nach einer Weile zu ihm. Beide schwiegen.

Der junge Bauer stand nun allein da mit seinen zwei kleinen Kindern. Er hatte viel zu tun mit Haus und Hof und mit seinem Vieh. Er war zwar ein großer und starker Mann, konnte den Kindern aber natürlich die Mutter nicht ersetzen. Fenir und Auda sorgten sich sehr um ihn und um die kleinen Geschwister.

Der zweijährige Fridtjof wich seinem Vater nicht mehr von der Seite und begleitete ihn bei den anstrengenden Aufgaben des Tages. Er versuchte schon ein wenig mitzuhelfen und war sehr verständig. Das kleine Mädchen schlief noch sehr viel in seiner Wiege und der Bauer beeilte sich, um es nicht lange allein zu lassen.

Für die kleinen Trolle begann insofern eine glückliche Zeit, als es viel zu helfen gab. So passten Fenir und Auda gemeinsam auf das kleine Schneewittchen auf. Sie sangen ihm Lieder vor und schaukelten mit vereinten Kräften die Wiege, wenn es unruhig wurde. Auch übernahmen sie zahlreiche Aufgaben im Haus, wie putzen und aufräumen, und allerlei andere Kleinigkeiten, was dem erschöpften Bauern zugutekam und ansonsten gar nicht auffiel.

Die Trolle durften sich keinesfalls Erwachsenen zeigen, denn dann wäre es mit dem ganzen Zauber vorbei gewesen. Kinder hingegen, besonders die Kleinen, durften sie sehen und sich gemeinsam mit ihnen des Lebens erfreuen.

Wenn ihre „7 Zwerge“ brav waren, durften sie mitkommen und mit den Kindern des Bauern spielen. Dann ging es manchmal hoch her in der Bauernstube. Sie sollten aber auch die Wohnung in der Baumhöhle in Ordnung halten, ihre sieben Tellerchen spülen, ihre sieben Bettchen machen und so manches mehr.

Es war eine glückliche Zeit für alle. Nur Auda war manchmal betrübt, dass Fidtjof und Schneewittchen keine Mutter mehr hatten.

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Während die Kinder beider Familien behütet größer wurden, regte sich Ungutes unter den Riesentrollen. Sie hatten sich zahlreich in der Nachbarschaft niedergelassen und beanspruchten noch mehr Platz für sich. Sie mochten die Menschen von Natur aus nicht. Ihnen gehörten die Wälder und die Berge allein. So dachten sie wirklich. Schon eine geraume Zeit beobachteten sie den kleinen Hof und seine Bewohner. Auch die aus der Art geschlagene Trollfamilie war ihnen ein Dorn im Auge.

Ihr Anführer Brage hatte in einer lauen Sommernacht eine Versammlung einberufen. Er war ein hässlicher Kerl mit einer platten Nase und langen Armen.

„Die Menschen müssen weg“, brüllte er in die Menge. Die anderen Trolle jubelten.

„Wir müssen sie vertreiben und schnappen uns auch den merkwürdigen kleinen Troll“

Erneuter Beifall.

„Wir werden Angst und Schrecken verbreiten“. Brage zeigte seine schiefen Zähne. Lustvolles Trampeln unter den Trollen, war die Antwort.

Lange würden sie nicht mehr warten.

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Der sommernächtliche Überfall war erschreckend. Auch die Riesen durften sich nicht zeigen. Sie verbarrikadierten die Schlafstube von Fridtjof und vom Vater, um unbehelligt ihr Unwesen treiben zu können. Sie machten furchtbaren Lärm, brüllten und schlugen gegen die Wände. Das alles trieben sie, um den Bauern zu erschrecken. Doch nur die Tiere brüllten im Stall.

Fenir stand erschrocken und hilflos vor seiner Behausung. Die Kinder würden sich sicher ängstigen. Er konnte jedoch nichts ausrichten. Es sollte noch schlimmer kommen. Einige der ungeschickten Riesen stolperten in den nahegelegenen Wald und entdeckten seine Baumhöhle. Was für ein Unglück. Sie wollten sich den kleinen Troll gerade vorknöpfen, als diesem ein Lichtzauber gelang, der die Riesen blendete. So konnte er mitsamt seiner Familie im letzten Augenblick fliehen.

Das mittlerweile 7-jährige Schneewittchen war vom Lärm aufgeschreckt worden. Nachdem es weder Vater noch Bruder gefunden hatte, flüchtete es in den Wald. Die wütenden Riesentrolle hatten es glücklicherweise nicht bemerkt.

Fenir, Auda und ihre sieben Kinder liefen in die gleiche Richtung wie das aufgeschreckte Kind, tief in den Wald hinein, weg von der Gefahr. Die Trolle kamen nur langsam voran, da sie von Natur aus gemütlich waren. Ihre Beine waren kurz und ihr kleiner Körper stämmig.

Das hübsche Mädchen lief rasch in seinem weißen Nachthemd mit wehenden Haaren durch das Dämmerlicht der kurzen Sommernacht und stolperte schließlich über eine Baumwurzel, als ihm die Kräfte schwanden. Es verlor das Bewusstsein.

Es war bereits ein Tag vergangen, als sie es fanden. Fenir bemerkte das besinnungslos auf dem Boden liegende Mädchen als Erster.

Die Trolle hatten zwischenzeitlich eine neue Baumhöhle gefunden und begonnen, sich notdürftig einzurichten. Er rief Auda und seine „7 Zwerge“ herbei. Mit vereinten Kräften brachten sie das Kind in ihre neue Unterkunft. Sie legten es auf eines der Schlafplätze.

Auda sah das Schneewittchen zärtlich und besorgt an.

„Ist sie nicht wunderschön?“, entfuhr es ihr.

Ihre Tochter Ella, die Älteste, hatte sie genau beobachtet.

„Bin ich auch so schön wie sie?“, fragte sie unvermittelt und schaute ihre Mutter erwartungsvoll an.

„Du bist sehr niedlich, aber Schneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist viel schöner als du“. Frieda, die Zweitälteste, hatte sich eingeschaltet. Sie lachte schelmisch.

„Ihr seid alle wunderschöne Mädchen“. Auda knuffte ihre Töchter in die Seite. Alle drei lächelten für einen Moment.

Nachdem ein weiterer Tag vergangen war und sich das Mädchen noch immer nicht gerührt hatte, hielten die kleinen Trolle das Schneewittchen für tot. Sie wurden sehr traurig. Viele Tränen flossen.  

Fenir überfiel eine große Unruhe. Der Bauer würde sich sehr sorgen, meinte er. Die Trolleltern entschieden, dass sie sofort aufbrechen müssten, um ihm seine Tochter zurückzubringen. Mit vereinten Kräften bauten sie eine Bahre und legten das Kind darauf. Alle packten mit an, auch die „7 Zwerge“. Sie schleppten das Schneewittchen mit vereinten Kräften nach Hause.

Das Kind legten sie vor die Hoftür und „liefen“ zu ihrer Baumhöhle zurück. Der Bauer öffnete schon bald die Tür und fand das Kind vor seinem Haus, tot oder schlafend. Bestürzt hob er das Mädchen auf und schloss es in seine Arme und wie durch ein Wunder schlug das Schneewittchen seine Augen auf.

Fenir und Auda fielen sich erleichtert um den Hals. Auch ihre „7 Zwerge“ juchzten und sprangen vor Freude umher. Alle setzten ihr gemeinsames Leben fort. Sie taten ihr Bestes wie zuvor. Hier oben im Norden mussten sie zusammenhalten. Fenir, Auda und ihre „7 Zwerge“ halfen wie zuvor im Verborgenem, soweit es den Bauern betraf.

Ungehalten beobachteten die Riesentrolle das emsige Treiben auf dem Bauernhof. Sie hatten ihr Ziel noch nicht erreicht.

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