Von Anne Zeisig

 

„Scheiße!“

 

Tabea wirft ihren Schulrucksack in die Essdiele auf den Boden.

 

Hanne eilt hinzu, nimmt die Tasche auf und hängt sie an den Garderobenhaken:

„Was ist denn los mein Kind?“

 

‘Mein Kind sagt sie zu mir? Pah! ICH bin nicht ihr Kind! Ich bin das Kind meiner Mutter, die unter der Erde liegt.’

Sie steht auf, nimmt den Rucksack vom Haken und wirft ihn wieder auf den Boden:

„Genau DA bleibt der liegen! Kümmere dich um deine Angelegenheiten!“

 

„Ich will nur nicht, dass jemand darüber stolpert. Setz dich hin, das Essen ist fertig. “

 

„Wer soll denn über meine Tasche fallen? Ich sehe hier nur dich und mich.“

 

Hanne sagt nichts, schöpft mit der Kelle den Eintopf auf die beiden Teller und setzt sich an den Tisch.

 

„Papa isst wieder nicht mit?“

Sie zückt ihr Handy und wischt darauf herum.

 

„Er hat während der Mittagspause einen Kundentermin.“ Tabeas Stiefmutter beginnt zu essen.

 

Der Teenie legt das Smart-Phone zur Seite: „Als Mama noch lebte, hat er jede, JEDE Mittagspause genutzt, um mit uns zu essen!“

 

‘Seit der Heirat hat Papa keine Zeit mehr für mich!’

 

„Deiner Mutter ging es zuletzt ja auch sehr schlecht, da hat er jede Minute genutzt. Aber die Auftragseinbußen muss dein Vater nachholen.“

 

‘Pah! SIE war ihre Pflegerin, und SIE konnte es nicht erwarten, sich an Papa ranzuschmeißen. SIE und ihr Zwergenlieblingssohn.’

 

Nun isst auch Tabea. Und schmatzt recht laut.

„Mamas Essen war besser gewürzt.“

‘Wie gut, dass der Kleine heute Ergo hat. Den könnte ich nicht ertragen. Dieses Biest!’

 

Hanne geht nicht darauf ein. Obwohl ihr Tabeas provozierendes Verhalten sehr weh tut. Sie hatte sich das alles einfacher vorgestellt, als sie und Hans nach der Beerdigung festgestellt haben, dass es da mehr zwischen ihnen gibt als nur Sympathie. Und dennoch haben sie es nicht wahrhaben wollen, das Trauerjahr wurde eingehalten.

Bis zur Heirat verging ein weiteres Jahr.

 

„Ich kann deine Mutter nicht lebendig machen“, flüstert sie leise.

Hatte in den drei Jahren Pflege den Eindruck gewonnen, dass Tabea und sie sich gut verstanden haben.

 

‘Als Pflegerin von Mama mochte ich Hanne sehr. Aber als Stiefmutter? Neeee! Never.’

 

„Darf ich fragen, warum du so aufgebracht von der Schule heimgekommen bist?“, fragt Hanne, um auf Tabea einzugehen und lächelt sie an.

 

„Heute wurde ich in der Schulpause als Schneewittchen beschimpft“, schießt es aus der Dreizehnjährigen heraus.

 

„Was?“ Hanne lacht. „Du? Du mit den wunderschönen  kastanienbraunen Haaren und den leuchtenden khakifarbenen Augen?“ Sie legt den Löffel beiseite. „Entweder haben die keine Augen im Kopf oder sie kennen das Märchen nicht.“

 

‘Jetzt macht sie ‘Einen auf Fröhlich’ und verteilt Komplimente. Pah! Schleimerin!’

 

„Kann es sein, dass du auf meine Jugend eifersüchtig bist?“ Tabea wirft ihr langes Haar in den Nacken. „Du mit deinen raspelkurzen Spaghettihaaren?“ Sie macht eine kleine Pause. “Mama war jedenfalls hübscher als du und auch jünger.“

 

‘Mama!’ Tabeas Hand krallt sich um den Esslöffel.

 

Hanne lässt ihr Essbesteck sinken und blickt in den Garten, wo die ersten Krokusse ihre Köpfe weiß und lila hervorschieben. Die Blumenzwiebeln hatte sie seinerzeit noch mit Tabeas Mutter gepflanzt.

 

‘Jetzt ist sie endlich sprachlos’, triumphiert Tabea innerlich und löffelt gierig das Essen in sich hinein, weil sie Hunger hat.

 

Hanne beobachtet das mit Wohlwollen und will das Thema beibehalten: „Ich meine, mit Schneewittchen tituliert zu werden, ist doch keine Beleidigung.

Das ist doch ein nettes Mädel und sie macht sich im Haushalt der Zwerge nützlich. Führt also ein redliches Leben.“

 

Tabea wirft ihren Löffel über den Tisch und schiebt den Teller von sich: „Was willst du mir damit sagen? Dass ich mich hier nicht genug nützlich mache?“, keift sie. 

 

Hanne schüttelt den Kopf. „So habe ich das nicht gemeint.“

 

‘Jetzt heuchelt sie die Unschuldige, die nicht rafft, was hier eigentlich abgeht!’

 

Hannes Gedanken überschlagen sich. Was ist wirklich los? Klar! Tabea trauert. Sie ist wütend.

„Ich will dir nur sagen, dass du ein hübscher Teenie bist.“

Die Stiefmutter atmet tief ein und aus.

 

Tabea steht derart aprubt auf, dass der Stuhl nach hinten fällt und auf die Fliesen kracht.

 

„Ich wusste es! Du bist eifersüchtig darauf, dass ich gesund bin! Eine hochgewachsene, quicklebendige Jugendliche!“

Sie stellt den Stuhl wieder auf und setzt sich: „So ein gesundes Kind hättest du nämlich auch gerne!“

 

Hanne nickt und sagt matt: „Ja. Jede Mutter wünscht sich das. Aber ich liebe meinen Sohn so wie er ist!“

Sie stützt ihre Arme auf dem Tisch ab, hält sich die abgewinkelten Handoberflächen unters Kinn und schaut dem Mädel genau in die Augen.

 

Tabea erzürnt sich weiter, hält keinen Blickkontakt: „Genau! Es ist DEIN Sohn. Dein Zwerglein! Aber wenn du arbeitest, dann muss ICH ihm helfen, an die obersten Regale oder Schränke zu kommen! In der Küche! In seinem Zimmer! Im Bad! Egal, wo!“

 

„Dein Vater hatte leider noch nicht die Zeit für Umbaumaßnahmen.“

Hanne schluckte den Kloß im Hals schwer hinunter.

 

‘Ach! Jetzt schiebt sie das auf Papa! Typisch!’

 

„Es tut mir leid, wenn du dich überfordert fühlst, Tabea, aber…“

 

„Sie nennen mich wegen deinem Kleinwüchsigen Schneewittchen“, unterbricht Tabea süßlich und nimmt wieder ihr Smart-Phone zur Hand.

 

Hanne ist, als schwanke der Boden unter ihr. „Aber eure Schule ist doch eine mit Inklusion“, sagt sie erstickt, „das kann doch nicht sein.“

 

‘Ganz ehrlich. Schneewittchen nennen die mich, weil ich beim Vorlesewettbewerb mit diesem Märchen den Ersten Preis gemacht habe. Trotzdem ist der Zwerg nervig. Und hinterlistig!’

 

„Die Schaukel im Garten hättest du längst selber für deinen Zwerg niedriger anbringen können, wenn du ihn doch sooooo sehr liebst wie er ist!“

 

„Sag nicht Zwerg!“, schreit Hanne die Stieftochter an. „Er hat einen Namen!“

 

Tabea steht auf und geht hinauf in ihr Zimmer.

 

‘Ihr Zwerg hat doch tatsächlich in der Pause meinen Freundinnen erzählt, dass ich seine Mutter wie eine böse Stiefmutter behandeln würde!’

Sie wirft das Handy aufs Bett. ‘Dieses hinterlistige Zwerglein!’

 

Das Mädel nimmt das Foto ihrer Mutter von der Wand und streichelt sanft darüber: ‘Der Zwerg hat keine Ahnung davon wie es ist, die eigene Mama zu verlieren.’

 

Der Teenie öffnet das Fenster und schreit hinaus: „Und nun hat seine Mutter mir auch noch meinen Papa weggenommen!“

 

 

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