Hubertus Heidloff

Eines Tages, auf dem Nachhauseweg, sah Timo, wie ein Auto sich selbstständig machte und den leicht abschüssigen Weg herunterrollte. Erst langsam, dann immer schneller werdend. Ein Mann mit seinem Rollator war dabei, die Straße zu queren. Er sah das Auto nicht und hätte auch nicht reagieren können. Timo, der die Situation beobachtet hatte, reagierte blitzschnell, lief dem Auto hinterher, riss die Wagentür auf, hechtete hinein und zog die Handbremse hoch. Noch einige Meter rollte das Fahrzeug , dann blieb es abrupt stehen, haarscharf vor dem Mann mit dem Rollator.

Timo grinste wie immer, wenn ihm eine  Sache gut gelungen war.

 

„Wetten, dass Du Dich nicht traust?“  Piet hegte große Zweifel, ob sein Freund und langjähriger Klassenkamerad Timo es wagen würde, durch die Scheibe einer geschlossenen Tür zu springen. Timo lief an, sprang ab und machte sich im gleichen Augenblick ganz klein, kompakt. Lediglich der linke Fuß war ausgestreckt und traf zuerst die Scheibe, die natürlich klirrend, in hunderte Teile zerborsten, zu Boden fiel.

„Na, was sagst Du nun?“ fragte er seinen Freund, wobei er über das ganze Gesicht  grinste. Keine Schramme hatte Timo abbekommen. Piet  stand da, als habe er gerade die Inkarnation eines Geistes gesehen. „Was wäre passiert, wenn die Scheibe dicker gewesen wäre und Du sie nicht hättest durchbrechen können?“ „Dann hätte ich wohl eine Ganzkörpertätowierung davon getragen. Aber bei allem „hätte“, „wäre“: ich hatte natürlich vorher an die Scheibe geklopft und an der Schwingung festgestellt, dass es sich nur um ein dünnes Glas handelte.“ „Nun lass uns schnell aufräumen, bevor meine Mutter nach Hause kommt. Ich werde ihr wegen der Türscheibe schon eine passende Erklärung abgeben.“

Piet und Timo hatten sich beide bei einer Agentur beworben, die junge Akteure an verschiedene Institutionen vermittelte. Piet hatte eine Hundeshow mit seinen beiden Pudeln vorbereitet, Timo wollte als Stuntman eingesetzt werden. Leider fiel Piet durch, doch Timo gelang es, den Agenten zu überzeugen, indem er ihm ein Video mit seinen Fähigkeiten vorspielte. Noch nie war ihm etwas passiert, noch keine Schramme hatte er abbekommen.

 

So ging es weiter und nun war Timo bei  einer Stuntagentur angenommen worden.

 

„Was wir jetzt planen“, meinte der Manager, „ist äußerst gefährlich. Wir brauchen im Freizeitpark jemanden, der den Teich überquert.“ „Na und?“

„Im Teich ist nicht nur Wasser, er ist auch gefüllt mit lebenden Krokodilen.“

Vor einer Antwort wollte Timo ein paar Tage Zeit haben.

Er war nun stundenlang am Teich zu finden und beobachtete die Monster beim Fressen und in den Ruhephasen. Jede noch so kleine Reaktion der Tiere nahm er wahr.

Er hatte gesehen, welch scharfe Waffen sie in ihrem Maul trugen, hatte gesehen, dass sie ihre Beute nicht zerkauten, sondern in großen Stücken verschlangen. Selbst wenn sie genug zu fressen bekamen, gab es noch Futterneid.

 

Timo hatte alle Regungen registriert. Wann sie mit geöffnetem Maul im Wasser lagen und wann sie gesättigt ihr Maul geschlossen hatten. Mit einem längeren Stab durfte er bei geöffnetem Rachen ihr Gebiss stimulieren, indem er gegen die Zähne schlug oder sie im hinteren Rachenraum „kitzelte“.

Wenn sie sich genervt fühlten, schlugen sie blitzschnell ihre Kiefer zu, so dass der Stab durch die Luft flog oder durchgebissen wurde. Dann lagen sie wieder da, als ob nichts gewesen wäre. Gefährlich wurde es nur einmal, als er am Ende einer solchen Übung im Wasser ausrutschte und das Wasser aufspritzte. Das sahen die Krokodile als Möglichkeit, sich ein wehrloses Opfer zu schnappen. Gleich mehrere waren knapp hinter Timo, bevor er sich so gerade vor dem Zuschnappen der Gebisse in Sicherheit bringen konnte. Krokodile hatten ihn schon immer  genervt und gleichzeitig gereizt. Wie würde ein Krokodil reagieren, wenn etwas Fressbares, plötzlich, vielleicht bei einem Ausrutscher, seinem Maul zu nahe kommen würde?

 

Timo hatte jetzt nach einiger Überlegung zugesagt. Bei seiner Zusage hatte er wieder sein Grinsen im Gesicht.

 Für ihn war es klar, dass er diese Aufgabe würde meistern können, obwohl er höllischen Respekt vor den messerscharfen Beißerchen hatte.

Der Tag der ersten Aufführung war gekommen. Die Stuntvorführung war in vielen Pressehinweisen erwähnt worden. Eine große Menge Zuschauer hatte sich eingefunden. 

„Was wäre, wenn ich in das aufgerissene Maul eines dieser Urtiere trete?“

wollte er vom Manager wissen.

„Das wäre nicht ganz so gut“, meinte er. „Sieh zu, dass Du so schnell wie möglich läufst, so dass das Kroko keine Reaktion zeigen kann.“

Alles war geregelt und Timo stand am Beginn der Teichüberquerung.  Gesichert hatte er sich mit rutschfesten Schuhen.

Einige Male atmete er tief durch und rannte los. Er traf Rücken und Mäuler und schaffte es, auf der anderen Seite des Teiches an zu kommen

Einen solchen Stunt hatte man nur selten gesehen und so war auch die Presse voll des Lobes.

Viele Male wiederholte Timo die Übung. Ausgerechnet die allerletzte Show geriet unerwartet zu einem Problem. Ein Zuschauer wollte seinem Kind etwas Tolles bieten und hob es ganz oben auf die Brüstung über dem Drahtzaun. Dort bildete eine Planke den oberen Abschluss und dort wollte er sein Kind platzieren. Unter Zaun und Absperrung begann mit einem Abstand von etwas zwei Metern das Reich der Krokos. Diese „Uferzone“ war als Ruheplatz gedacht, obwohl es zu dieser Zeit in der prallen Mittagssonne nur von zwei Krokodilen bewohnt wurde.

Ein Aufschrei! Das Kind war den Händen des Mannes entglitten und fiel auf den Sandstreifen. Schon sah man einige Köpfe der Krokodile sich in die Richtung des Kindes drehen. Auch Timo war die Situation nicht verborgen geblieben, zumal er sich gerade auf seinen Auftritt vorbereitete. Ohne weitere Überlegung sprang er, nein er flog, über die Tiere hinweg zum Kind hin. Das erste Monster war schon aus dem Wasser gekommen und kroch langsam und fast behäbig los.

Timo hatte das Kind erreicht, packte es unter der Achsel und hob es gerade so hoch, dass ein Zuschauer die Arme des Kindes greifen und es emporziehen konnte. Timo hatte keine Chance über den „Strand“ das sichere Festland zu erreichen. Ihm blieb nur die Flucht über die Leiber der Tiere. Aus einem Stunt war Realität geworden.

Er schaffte es, verspürte zum ersten Mal so etwas wie Herzklopfen. Die scharfen Zähne bekam er jedoch nie zu spüren. Sein Grinsen zeigte er sogar jetzt, als er nur knapp dem Unheil  entkommen war.

 

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