Von Manuela Bacalja

Chris stand am Fenster und obwohl es draussen bereits dämmerte, hatte er keine Lampe eingeschaltet. Er starrte vor sich hin, dachte an das Mädchen, das er vor einigen Tagen kennen gelernt hatte. Paula, diese zierliche Person, mit den kurzen braunen Haaren, die zu einer frechen Frisur gekämmt waren, die fast schwarzen Augen. Ihr Lachen klang ihm immer noch im Ohr. Er mochte es, seit er es das erste Mal gehört hatte. 

Chris war verliebt und er wusste, Paula mochte ihn auch. Vor ein paar Stunden erst hatte sie ihn angerufen, um sich mit ihm zu verabreden. Am liebsten hätte er sie sofort wieder getroffen, doch vor einem Wiedersehen hatte er Angst. Chris strich sich die blonden Haare aus der Stirn und stöhnte leise vor sich hin.

„Ich darf Paula nicht wieder sehen“, dachte er. 

Erschöpft stand er auf, knipste die Deckenbeleuchtung an, ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. 

„Ich darf Paula nicht wiedersehen“, sagte er laut vor sich hin, als könne er damit sein Bedürfnis nach ihrer Nähe unterdrücken. 

In seinem spärlich eingerichteten Wohnzimmer liess er sich in den Sessel fallen, den er so gestellt hatte, dass er aus dem Fenster schauen konnte. Es beruhigte ihn, die Baumwipfel zu beobachten, wie sie sich im Wind leise hin- und herbewegten, so, als wollten sie ihn grüssen. Nachdem das mit Nora passiert war, meldete er sich in seiner Firma krank, sass die meisten Stunden am Tag in diesem Sessel und liess sich vom Schaukeln der Baumkronen beruhigen. 

Nora lernte er in einer Bar kennen. Sie stand neben ihm am Tresen und sie gefiel ihm sofort. Er sprach sie an, fragte irgendetwas Belangloses. Danach redeten sie den ganzen Abend über Gott und die Welt und verstanden sich gut. Nachdem die Bar schloss, kam es ihm selbstverständlich vor, dass sie ihn zu sich nach Hause einlud. Schon während sie zusammen die paar Strassen zu ihrer Wohnung gingen, hakte sich Nora bei ihm vertrauensvoll ein. Einmal blieb sie stehen, schaute ihm mitten in die Augen und küsste ihn und er liess es sich gerne gefallen.

Als er kurze Zeit später ihr Wohnzimmer betrat, sah er es sofort. Das rote Sofa stand unter dem Fenster, das sich direkt gegenüber der Eingangstür befand. Nora zog ihn weiter in das Zimmer hinein, direkt auf das Sofa zu. Sie wollte ihn verführen, das war ihm jetzt klar. Chris war starr vor Schreck.

„Nein“, stiess er hervor. Nora lachte ihn an, merkte sein Entsetzen nicht. Sie legte sich auf das Sofa, zog an seiner Krawatte, bis er auf sie fiel. Dann umklammerte sie seinen Körper mit ihren Armen und Beinen. Er kam sich vor, wie die Fliege im Spinnennetz.

„Nein“, stammelte er nochmals. 

Die Erinnerung zeigte ihm ein längst vergessen geglaubtes Bild. Er sah seine Eltern, wie sie miteinander rangen, auf dem roten Sofa, das im elterlichen Wohnzimmer stand. Der Vater stiess dumpfe Schreie aus, Mutters Atem keuchte und er stand abseits, fühlte sich verloren, ausgestossen. Sie merkten nicht, dass er das Zimmer betreten hatte, nahmen ihn erst wahr, als er zu weinen begann, als sein Weinen in ein Schluchzen überging. Seine Mutter schaute ihm entgegen. Er sah ihr Gesicht, es wirkte auf ihn unwirklich, irgendwie verzerrt und völlig fremd. Dann befreite sie sich unter Vaters Körper, lief auf ihn zu, schlug auf ihn ein, bis er in seinem Zimmer verschwand. Niemals fühlte er sich seinem eigenen Leben so fern wie in diesem Moment und niemals mehr in den Jahren nach diesem Erlebnis konnte er das Kind seiner Eltern sein. 

Und nun lag er selbst auf einem roten Sofa und unter ihm lag Nora. Ekel stieg in ihm auf. Er wollte sich befreien, aber Nora hielt ihn umklammert. Ihr keuchender Atem dröhnte in seinen Ohren. Er spürte seine Hände, wie sie sich um den schmalen Hals Noras legten und zudrückten und er sah den entsetzten Blick dieser Frau, die er kaum kannte. Sie fing an zu schreien. Chris umschloss ihren Hals noch enger. Soviel Kraft hätte er sich nicht zugetraut. 

Langsam lösten sich Noras Arme von seinem Leib, dann erschlafften ihre Beine. In der Wohnung war es totenstill. Chris richtete sich hastig auf, lief aus der Wohnung, schlug die Eingangstür hinter sich zu, lief auf die Strasse, rannte in die Nacht, rannte ohne Orientierung in irgendeine Richtung, rannte bis er keinen Atem mehr hatte und blieb dann keuchend stehen.

Er stand lange auf der Strasse, ohne zu wissen, was er tun sollte. Menschen tauchten aus dem Dunkel auf. Ein Pärchen, das eng umschlungen an ihm vorbeischlenderte. Eine junge Frau, die sich im Vorbeigehen eine Zigarette anzündete und den Rauch des ersten Zuges genüsslich in die Nacht blies. Sie achteten nicht auf ihn und es war ihm recht so.

Allmählich beruhigte sich sein Atem, das Pochen in seinen Adern hatte aufgehört. Er hob seine Hände, schaute sie an, als könnten sie ihm erklären, was passiert war.

„Ich werde sie doch nicht umgebracht haben?“, dachte er bestürzt und nahm sich vor, in den nächsten Tagen die Zeitungen nach Todesanzeigen durchzusehen. Seine Hände steckte er in die Hosentaschen, als wolle er sie vor neugierigen Blicken schützen.

Zwei Tage später las er vom gewaltsamen Ableben einer jungen Frau namens Nora Jens. Er zuckte die Schultern, redete sich ein, sie sei ja selber schuld an ihrem Tod. Warum hatte sie ihn auf dieses Sofa genötigt? Schnell schlug er die Zeitung zu, faltete sie feinsäuberlich und legte sie in die Papiersammlung zu den anderen Zeitungen.

Das war vor sechs Monaten. Er hatte den Vorfall so gut es ging verdrängt. Bis zu dem Tag, als Paula ihn zum Essen einlud. Beim Eintritt in ihre Wohnung, stockte ihm das Blut in den Adern. Das rote Sofa fiel ihm sofort ins Auge und als Paula ihn bat darauf Platz zu nehmen, drehte er sich einfach um und lief wortlos aus der Wohnung.

„Nein, ich darf sie nicht wiedersehen,“ rief er nochmals verzweifelt aus und doch wusste er, dass er einer erneuten Einladung Paulas Folge leisten würde. Wenn er an sie dachte, fühlte er sich gut. Mit ihr konnte er sich eine Zukunft vorstellen, das war ihm in den ersten Stunden ihres Zusammenseins klar geworden. 

Die nächsten Tage vergingen schnell. Chris hatte im Büro viel zu tun. Nur die Abende krochen langsam wie eine Schnecke dahin. Dann kam der gefürchtete und gleichermassen ersehnte Anruf Paulas.

 „Ja, ich komme gern,“ hörte er seine eigene Stimme und sie kam ihm fremd vor. 

Eine halbe Stunde später war er unterwegs. Er versprach Paula am Telefon, nicht mehr fortzulaufen. Mit der Rose, die er für sie gekauft hatte, wollte er diesem Versprechen Nachdruck verleihen. 

Paula öffnete nach dem ersten Klingeln. Sie trug eine bunte Sommerbluse und einen kurzen, engen Rock, der ihre Figur vorteilhaft betonte. Sie lächelte ihn an, bat ihn in die Wohnung, führte ihn in das Esszimmer, an den geschmackvoll gedeckten Tisch und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Sie setzte sich Chris gegenüber, begann ein Gespräch über Alltägliches. Etwas später stand sie auf, sagte: „Ich komme gleich wieder“, und lief in die Küche. Als sie zurückkam, trug sie ein Tablett vor sich her, mit verschieden grossen Schüsseln darauf. Geschickt servierte sie das Abendessen, schenkte den bereits geöffneten Wein in die passenden Gläser, zündete die Kerzen an und setzte sich erneut. Sie nahm ihr Glas, prostete ihm zu mit den Worten: «Schön, dass Du gekommen bist.»

Chris merkte, dass die Anspannung langsam aus seinem Körper wich, die ihn zu Beginn dieses Besuches fast gelähmt hatte.

Nach dem Abendessen bat Paula Chris in das Wohnzimmer. Chris spürte sein Verlangen nach ihr, nahm sie in die Arme. Ihr heisser Atem an seinem Ohr erregte ihn. Sie zog ihn auf das rote Sofa und begann sein Hemd aufzuknüpfen. Ihre Hand streichelte über seine nackte Brust. Chris wurde plötzlich übel. In seinen Ohren brausten die dumpfen Schreie des Vaters und der keuchende Atem seiner Mutter. Seine Hände griffen nach Paulas Hals. 

An diesem Abend klingelte bei der Ortspolizei das Telefon und eine erregte Stimme meldete: „Ich habe einen Menschen getötet, kommen sie schnell.“ Danach nannte diese Stimme eine Adresse und legte ohne Gruss den Hörer auf. Als die Polizei dort eintraf, sass Paula verstört neben Chris’ Leiche. Den Polizeibeamten erzählte sie stockend von den Geschehnissen des Abends. Wie sie an die Schere kam, die sie dem Toten in den Rücken gerammt hatte, konnte sie jedoch nicht erklären.

 

© Manuela Bacalja, Ravensburg