Von Ulli Lenz
„Wie wird das sein, wenn ihr einmal Kinder habt. Sagen wir, ihr bekommt eine Tochter. Wird diese das Schwimmbad besuchen dürfen?“ Kian schaut fragend durch die Klasse. Zustimmung ist zu hören, aber auch Protest.
„Zeigt mal auf: Wer von euch will nicht, dass seine – sagen wir mal – 15-jährige Tochter das Schwimmbad besucht.“ Drei Hände in der hinteren Ecke schießen in die Höhe und auch in der ersten Bank wird eine Hand gehoben.
„Alleine nicht“, meint Emir.
„Ok, also nicht alleine, aber mit ihrem Freund? Anzor, wiederhole das bitte laut!“
Anzor hebt die Schultern und sagt mit Nachdruck: „ Das geht nicht! Die muss zu Hause bleiben.“
„Warum nicht?“, setzt der Workshopleiter nach.
„Haram*“, murmelt Timur.
„Ok, akzeptiere ich. Haram*. Aber warum?“ Fragend blickt Kian auf die drei Jungs.
„Weil sie muss man schützen. Vor schmutzigen Blicken“, bemerkt Anzor.
„Hast du schon mal einem Mädchen auf die Brüste geschaut?“, fragt Kian. „Ganz ehrlich! Du weißt, Allah hört dich.“ Er deutet mit dem Finger zur Decke.
Anzor schüttelt vehement den Kopf. „Nein, das mach‘ ich nicht.“
Aufmerksam beobachtet Kian den Jungen. „Und warum nicht?“
„So wurde ich erzogen.“
Kian nickt und sagt: „Ich glaube dir. Und wie sieht es mit dir aus, Timur?“
„Ja, sicher.“ Timurs Wangen färben sich rot und passen nicht zu seinem coolen Ton. Unsicher schielt er zur Klassenlehrerin, die aus der Ecke die Diskussion verfolgt. Die Klasse lacht und redet durcheinander.
Kians Hand macht deutlich, dass es zu laut ist. Unüblich schnell wird es ruhig.
„Das ist in Ordnung. Die Gesellschaft zeigt vieles nicht richtig vor.“
Nach einer Pause fährt er fort: „Ich habe eine Tochter. Sie wird ins Schwimmbad gehen dürfen, wenn sie alt genug ist, im Bikini. Wisst ihr warum?“, fragt Kian.
„Weil sie Österreicher sind, Mann“, meint Emir.
„Ja, ich bin Österreicher. Aber auch Iraner. Und Moslem. Das alles lässt sich vereinen. Es ist nicht einfach, aber es ist möglich.“
Emir lacht und schüttelt den Kopf.
„Meine Frau ist eine Österreicherin“, fährt Kian fort.
„Das geht nicht“, meint Bedran sofort.
„Doch, aber dann kann man nicht in einer Kirche oder einer Moschee heiraten“, unterbricht Georg.
„Stimmt“, sagt Kian.
„Mein Vater würde mich schießen aus der Familie“, wirft Bedran ein.
„Meiner auch, ich darf nur eine Tschetschenin heiraten.“ Anzors Arm schneidet dabei durch die Luft.
„Ich weiß, es ist schwer. Das verstehe ich sehr gut. Aber es ist möglich.“
„Sie haben also ein Kind?“, fragt Emir neugierig.
„Ja, zwei. Einen Jungen und ein Mädchen.“
„Und welche Religion haben die?“
„Meine Frau und ich zeigen ihnen beide Religionen: den katholischen Glauben, und den Islam.“
„Und trotzdem darf ihre Tochter ins Schwimmbad?“, fragt Timur.
„Ich sage euch etwas: Alle die, die ihre Töchter nicht ins Schwimmbad gehen lassen, sollen sich fragen: Hat meine Tochter etwas Falsches getan, dass sie nicht ins Schwimmbad gehen darf? Oder sind es vielleicht die Männer, die einen Fehler machen? Wenn die Männer respektvoll schauen, glaubt ihr, dass Allah etwas dagegen hat, wenn der Mann eine Frau ansieht?“
Verstohlen blicken einige Schüler zu Timur, der der unausgesprochene Führer der Klasse ist. Der zuckt die Schultern und meint: „Nein.“
Stille macht sich in der Klasse breit.
„Genau, ihr Männer seid die, die schmutzige Blicke haben, aber die Mädchen sollen sich verstecken, das ist nicht fair!“, platzt es aus Rabia heraus.
Kian nickt. „Sie hat recht. Kommen wir zu dir zurück, Anzor. Du hast gesagt, du siehst Mädchen nicht schmutzig an. Ich glaube dir!
Ich glaube auch, dass du dich sehr bemühst, alles richtig zu machen. Aber seien wir mal ehrlich: Nicht einmal Erwachsene schaffen es, immer alles richtig zu machen, oder? Bei Kindern oder Jugendlichen kann man also Fehler erst recht akzeptieren. Aber es muss Grenzen geben.“ Er streicht sich mit der Hand durch den Bart und hebt dann den Zeigefinger.
„Ihr habt gesagt, dass ihr die schlimmste Klasse in der Schule seid. Ich habe aber im Workshop heute festgestellt, dass ihr genau wisst, was richtig und falsch ist.
Ihr wisst es!
Ihr seid vernünftige 7.-Klässer. Aber“, er macht eine Pause, „ihr müsst noch lernen, euch besser zu beherrschen. Das ist schwer! Nur darf es einfach nicht passieren, dass zum Beispiel wieder Stühle durch die Klasse fliegen.“
Langsam marschiert Kian vor den Tischen auf und ab.
„Was glaubt ihr, warum ich in jeder freien Minute Sport mache?“, fragt er dann.
„Ablenkung“ – „Hobby“ – „Langeweile“, tönt es kreuz und quer.
Lucas zeigt auf: „Auspowern!“
„Super, genau! Ich muss manchmal aufgestaute Energie loswerden. Jeder muss seinen Weg finden, diese Energie loszuwerden. Damit ich nicht herumschreie oder mich anders danebenbenehme. Und da komme ich wieder zu dir, Anzor. Überleg‘ mal, wie anstrengend es für dich sein muss: nicht zu gucken. Oder sich nicht in ein österreichisches Mädchen zu verlieben. Oder, oder, oder.
Du bemühst dich, alles richtig zu machen, aber kein Mensch kann das immer schaffen. Man braucht Wege, um diese aufgestaute Energie loszuwerden. So einen Weg muss jeder von euch für sich finden. Sonst fliegen die Stühle.“
„Und die Erwachsenen?“, fragt Tamara. „Was ist mit denen? Die schaffen es ja auch nicht.“
Stumm sieht sich Kian in der Klasse um. Dann nickt er.
„Ich glaube, ich kann das mit euch besprechen, aber ihr müsst ehrlich sein.“ Er hebt den Finger.
„Wer von euch kennt eine Familie, in der der Vater die Mutter schlägt. Aufzeigen!“
Verunsichert sehen sich die Jugendlichen an, schließlich hebt sich langsam die erste Hand. Anerkennend nickt Kian dem Mädchen zu. Weitere Hände folgen, bis mehr als die Hälfte aufzeigt.
„Ist es in Ordnung, wenn ein Mann seine Frau schlägt?“, hakt Kian nach.
„Nein!“, ruft Tamara aus.
„Es ist seine Frau, er ist der Mann im Haus.“, meint Timur.
Meinungen so bunt wie die Klasse schwirren durcheinander. Kian hält die Hand wie ein Stoppschild hoch.
„Warum ist es nicht in Ordnung?“, fragt er.
„Weil die Frauen die Schwächeren sind?“, vermutet Emir.
„Ist das so?“ Kian schaut sich fragend um.
Der Workshopleiter breitet die Arme aus: „Nehmen wir mal an, in einer Familie neigt der Vater dazu, immer wieder mal auszurasten. Das Leben kann hart sein. Es gibt also oft die Möglichkeit auszurasten – wenn man sich nicht beherrschen kann. Die Mutter versucht ihre Kinder zu schützen, indem sie die Schläge des Vaters in Kauf nimmt. Wer ist der Stärkere?“
„Die Frau!“, platzt Aisha heraus.
Kian zeigt auf Timur: „Was meinst du: wer ist der Stärkere? Der Mann, der sich nicht im Griff hat und auf die Mutter einprügelt, oder die Frau, die die Schläge erträgt?“
„Die Frau.“ Timur nickt. Seine Augen glänzen bevor er blinzelnd den Kopf senkt.
Der Zeigefinger wandert zu Anzor, der etwas zögernd ebenfalls zugibt: „Die Frau.“
„Gut! Das stimmt. Überlegen wir weiter:
Heute habe ich in der Pause gehört, dass Danjel selbst schuld ist, wenn er verpügelt wird, weil er sich nicht wehrt. Stimmt das? Ist er, der nicht zurückschlägt sondern einsteckt, wirklich der Schwächere? Oder sind es die, die auf ihn einschlagen, weil sie sich nicht im Griff haben?“
„Bullshit, das ist ganz was anderes, er hat…“ ruft Anzor empört raus.
Der Zeigefinger deutet wieder auf Timur, der ruhig in der Bank sitzt.
„Er hat Recht, Mann. Eigentlich es ist scheiße.“
Kian lässt den Zeigefinger sinken und lächelt. „Respekt. Du kannst stolz auf dich sein. Du hast gerade etwas verstanden, dass viele Erwachsene nicht verstehen. Das verdient großen Respekt!“
Ein kleines Lächeln huscht über das sonst so ernste Gesicht des Jungen.
„Erwachsene machen also auch Fehler. Das ist menschlich.
Es kann also sein, dass eure Eltern Dinge tun, die falsch sind. Das heißt aber nicht, dass ihr diese Fehler übernehmen müsst. Ihr könnt es besser machen!“
Kian verstummt und sieht die Klasse eindringlich an.
„Wer von euch möchte, dass seine Kinder einmal NICHT geschlagen werden.“
Sofort sind alle Hände in der Luft.
„Und wer von euch wird geschlagen?“, fragt Kian leise.
Betretenheit tritt ein, unsicher schauen viele auf den Tisch.
„Ihr könnt ehrlich sein“, sagt Kian und geht langsam vor den Tischreihen auf und ab. „Das ist nichts, wofür ihr euch schämen müsst.“
Timur setzt sich mit einem Ruck auf. „Ich werde geschlagen, wenn die Lehrerin anruft, und mein Vater erfährt, dass ich in der Schule Problem gemacht habe.“
Im Augenwinkel erkennt Kian, dass die Lehrerin die Hand vor den Mund schlägt und bedeutet ihr, nicht zu reagieren.
„Mein Vater schlägt mich auch, wenn ich schlechte Noten habe“, gibt Anzor zu.
„Jeder ist schon mal von seinen Eltern geschlagen worden, glaube ich.“ Emir lacht unsicher auf.
Über Angelas Wange rollt heimlich eine Träne.
„Stimmt das? Oder gibt es auch jemanden in dieser Klasse, der noch nie von seinen Eltern geschlagen worden ist?“ Kian bleibt vor der Tafel stehen und dreht die Handflächen nach oben. „Niemand?“
„Doch, ich!“, meldet sich James, hebt seine Hand und blickt sich verwirrt um. Außer ihm heben sich noch zwei Arme.
Kians Gesicht zeigt keine Regung sondern bleibt neutral. Er lässt sich nicht anmerken, wie sehr es ihn trifft, dass nur drei der 21 Kinder ohne Schläge aufwachsen.
„Wenn jemand bestraft wird: Wie sieht das aus? Sagen wir bei irgendjemand, den ihr kennt? Ist das eine Ohrfeige, so mit der Hand? “ Kian zeigt es vor.
Dann piekt sein Zeigefinger wieder durch die Luft und deutet auf jene, die sich zur Wort melden.
„Ins Zimmer sperren.“
„Mit der Faust schlagen.“
„Mit dem Patschen.“
„Ja, oder eine Gegenstand, zum Beispiel eine Buch“
„Mit Bambusstock“
„Mit der Hand, aber nicht ins Gesicht.“
„Schreien und Handyverbot.“
„Mit heißem Wasser.“
„Mit Seil.“
„Mit eine Gürtel.“
Unaufhörlich piekt der Finger weiter. Bringt die Gewalt, die in unsichtbaren Rucksäcken ins Klassenzimmer geschleppt wird, ans Licht.
Schließlich schaut Kian stumm durch die Klasse.
„Seid stolz auf euch, dass ihr euch meistens zu benehmen wisst. Ich jedenfalls bin es. Ich kann verstehen, dass bei euch manchmal auch Stühle durch das Klassenzimmer fliegen.“
*Haram: bedeutet im Islam „Tabu“
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