von Renate Oberrisser

 

 

Anton Wilhelm sperrte die Wohnungstür auf und schob sein Fahrrad in den schmalen Flur. Die Zeiten waren vorbei, in denen ein Rad irgendwo ungesichert stehen konnte und am nächsten Morgen auch noch dort stand. Vor etlichen Wochen verschwand seines trotz Sicherheitskette. In seiner Situation war das ein großes Dilemma. Einige Nachbarn erzählten von ähnlichen Vorfällen.  Seither drehte er den Schlüssel vorsorglich immer zweimal im Türschloss um und ließ sein neues, altes Fortbewegungsmittel, ein Geschenk eines ehemaligen Arbeitskollegen, kaum noch aus den Augen.

 

Der Rucksack stand noch im Fahrradkorb. Anton Wilhelm öffnete ihn. Er entnahm ihm eine Papiertüte, sah lächelnd hinein und legte diese behutsam auf den Tisch, neben den Stapel mit Post.  Für ihn war es ein langer Tag gewesen. Dennoch er war froh, dass diese wieder länger wurden. Erschöpft ließ er auf das schmale Sofa fallen, fand aber keine Ruhe. Was sollte er noch alles anstellen, um wieder Arbeit zu finden, in seinem Alter.

 

Lange wähnte er sich sicher in seinem Job. Doch dann traf es auch ihn. Es seien eben besondere Zeiten. Besonders schwierige Zeiten wurde ihm gesagt. Die Wirtschaftslage sei gerade besonders angespannt. Irgendwann hatte er nicht mehr zugehört. Er war nicht der einzige, den es traf. Man bekam derartiges mal hier und mal dort mit. Erschreckend jedoch waren die Zukunftsprognosen. Immer mehr kleine und mittlere Betriebe schlossen ihre Pforten. Und große Konzerne planten unzählige Arbeitskräfte abzubauen oder die Standorte zu verlagern. Es war schlecht bestellt, um die Aussichten auf einen neuen Arbeitsplatz.

 

Beiläufig sah Anton Wilhelm seine Post durch. Reklame über Reklame. Abverkäufe beim Möbeldiscounter. Abverkäufe beim Bekleidungsdiscounter. Neues hier und neues dort. Und ein Brief von der Wohnungsgenossenschaft.

 

„Mieterversammlung“, stand in Großbuchstaben auf dem Papier. „Sehr geehrter Herr Wilhelm, wie sie wissen … zu verzeichnen … vereinbarte Mietverhältnis kündigen werden … geeigneten Wohnraum anbieten … Lösungen suchen.“ Anton Wilhelm strich sich über die Augen. „Sehr geehrter Herr Wilhelm“, las er erneut. „Wie sie wissen … Mietverhältnis kündigen … Lösungen suchen.“

 

Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt wurde er auch noch aus seiner kleinen Wohnung geworfen. Auch hier war er augenscheinlich nicht der einzige. Wie er dem Brief entnahm, musste die Wohnungsgesellschaft anderen Verpflichtungen nachkommen. Wie sollte ein einfacher Mensch die vielen unvorhersehbaren Veränderungen nur bewältigen? Jeden Tag kam etwas neues.

 

Resigniert schaltete Anton Wilhelm den Fernseher ein und biss in seinen Krapfen mit Schokoguss. Ein süßer Trost in harten Zeiten. Über den Bildschirm flimmerte ein Beitrag aus einer Bäckerei.  „Der Spritz-Krapfen ist auch dieses Jahr wieder sehr gefragt. Als Novum gibt es heuer zum ersten Mal auch einen Protein-Krapfen“, tönte es ihm entgegen. „Es ist ein ganz normales Lebensmittel. Es schmeckt leicht nussig. Unterschiedliche Insekten sind als geringer Anteil im Mehl und in gemahlener Form in der Glasur enthalten.“ Fluchtartig sprang Anton Wilhelm auf und verschwand ins Badezimmer.

 

„Himmel noch mal. In welchen Zeiten leben wir den?“, empörte er sich. Aufgewühlt lief er in der kleinen Wohnung auf und ab. Öffnete ein Fenster, sah hinaus und schloss es wieder. Nahm ein Buch aus dem Regal, legte es auf den Tisch. Telefonierte. Dachte nach. Zappte unterdessen durch die TV-Programme. Grübelte. Kastentüren klapperten. Fieberige Geschäftigkeit erfüllte die Wohnung.

 

– – –

 

Aus welchem Grund werden einige wenige Menschen immer reicher und unzählig viele immer ärmer?

 

Wohin führt es, wenn immer mehr Menschen arbeitslos werden?

 

Woran liegt es, dass die Medizin scheinbar immer besser wird und die Menschen offensichtlich immer kränker?

 

Macht uns die Zivilisation krank?

 

Nutzt es mehr, als es schadet oder schadet es doch mehr, als es nutzt?

 

Warum muss Kohle verbrannt werden, damit Stromautos betrieben werden können?

 

Ist es umweltschonend, Rohstoffe mit großen Tankschiffen über die Weltmeere zu transportieren?

 

Haben wir die Fähigkeit, unsere Grundbedürfnisse selbst zu decken, verlernt?

 

Was geschieht im Himmel und auf Erden?

 

Sind ‚Ufo’s und Außerirdische‘ die gleichen Hirngespinste wie die ‚Flache Erde‘?

 

Haben Geopolitik und Geoengineering etwas gemeinsam?

 

Und wie viele Waffen braucht es für den Frieden?

 

Was bedeutet predictive programming?

 

Ist es besser, in der bitteren Realität, als in der süßen Illusion zu leben?

 

Bin ich Teil der Lösung oder eher Teil des Problems?

 

Dürfen Narrative hinterfragt werden?

 

Warum werden kritische Stimmen diffamiert?

 

Darf ich auch ’nein‘ sagen?

 

Bin ich ein verwerflicher Mensch, weil ich nicht mehr bedingungslos glaube?

 

Habe ich ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren?

 

Wem kann ich noch vertrauen?

 

– – –

 

„Herr Wilhelm. Herr Wilhelm.“ Laut klopfte es an Anton Wilhelms Wohnungstür. „Herr Wilhelm, ist alles in Ordnung. Wir haben ein paar Tage andauernde, ungewöhnliche Vorgänge in ihrer Wohnung vernommen.“ Als niemand antwortete, griff eine Hand nach der Türklinke. Die unverschlossene Tür öffnete sich. Mehrere Personen drängten in den kleinen Flur. Die Wohnung schien besenrein zu sein, als warte sie auf neue Bewohner. Einzig auf dem Tisch lag ein Zettel: „Ich war stets arbeitsam und angepasst. Habe nie etwas hinterfragt. Doch jetzt ist die Zeit für Veränderungen gekommen. Darum ziehe ich los, um mir ein ein eigenes Bild zu machen …“

 

 

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