Von Helmut Blepp

Der Dichter Eike von Eikenpracht vermied es nach Möglichkeit, von lieb gewordenen täglichen Routinen abzuweichen. Ferienreisen kamen für ihn nicht in Frage, und seiner Arbeit dienende Ortsrecherchen nahm er nur vor, wenn sie unbedingt erforderlich und lukrativ waren. Umso betroffener war er, als sein Arzt ihm eröffnete, dass ein hartnäckiges Leberleiden dringend einen längeren Kuraufenthalt notwendig machen würde. 

Schweren Herzens holte er also diverse Koffer und Taschen vom Dachboden, um sie mit Wäsche, Büchern und Manuskripten zu füllen und stieg in die nächste Bahn in Richtung eines Kurbades mit strahlender Historie.  Dort angekommen, nahm er seinen Tee im ersten Haus am Platze und machte sich einen Plan für seinen Aufenthalt, der hauptsächlich aus Mahlzeiten, Spaziergängen und kurzen Abstechern zur Trinkhalle mit dem berühmten Heilwasser bestand. 

Schon am ersten Nachmittag entdeckte er ein kleines verträumtes Gartencafé. Da alle Tische besetzt waren, trat er an einen heran, an dem nur ein alter Herr saß, und bat darum, Platz nehmen zu dürfen.

„Selbstverständlich, Herr von Eikenpracht“, sagte der Alte sofort. „Darf ich mich vorstellen? Akerueh mein Name. Ich fühle mich durch Ihre Anwesenheit geehrt.“ 

„Nicht doch“, entgegnete der Dichter, obgleich er sich sehr geschmeichelt fühlte. „Ich bin auch nur ein Kurgast wie viele und quasi incognito hier.“  

„Dann soll Ihre Kunst im Verborgenen blühen, wenn Sie es so wünschen. Wobei doch schon das Schreiben an sich eine einsame Angelegenheit ist.“ 

„Sie sagen das wie einer, der sich damit auskennt. Sind Sie ein Kollege?“

„Aber nicht doch! Ich würde mich nie mit Künstlern wie Ihnen in eine Reihe stellen. Tatsächlich bin ich nur Chronist, das Hobby eines Pensionärs, sozusagen.“ 

„Warum so bescheiden? Ich habe großen Respekt vor solcher Arbeit. Was ist denn Gegenstand Ihrer Aufzeichnungen, wenn ich fragen darf? Dieses malerische Städtchen?“ 

„O nein! Das wäre mir dann doch zu profan. Ich schreibe an einer Chronik der Beliebigkeit.“ 

„Beliebigkeit?“ 

Diese Auskunft ließ den Dichter nun doch etwas hilflos wirken. Herr Akerueh lächelte verständnisvoll und setzte zu einer Erklärung an.

„Sehen Sie, ich habe lange Jahre den Beruf eines Bibliothekars ausgeübt, weil ich Bücher liebe. Mit der Zeit aber verlor ich die Freude am Lesen. Man kann von allem zu viel bekommen, und ich war es irgendwann leid, mich an fremden Phantasien zu ergötzen. Deshalb wandte ich mich dem Phänomen der Ordnung zu. Nicht die Inhalte der tausenden von Bänden, die mich tagtäglich umgaben, waren mehr meine Passion, sondern die Fragen der Sortierung und die hohe Kunst des Alphabets, kombiniert mit Ziffern und Farben. Ja, die Lust, Ordnung zu schaffen, packte mich mit der gleichen Leidenschaft wie zuvor die Leselust.“ 

„Ein seltsamer Weg, den Sie da gegangen sind“, stellte Eike von Eikenpracht kopfschüttelnd fest. „Und für mich, der Bücher schreibt, ist es, ganz offen gesagt, schon recht befremdlich, wenn jemand die Schriften, die ich mir oft genug unter Schmerzen abringe, nur unter dem Aspekt der korrekten Einsortierung betrachtet. Aber jeder setzt nun einmal seine eigenen Prioritäten, drum möchte ich keinesfalls über Sie urteilen, mein Herr. Wie aber sind Sie denn auf Ihrem Weg der Ordnung zum Chronisten geworden, noch dazu zu einem, der der Nachwelt etwas so wenig Fassbares erhalten möchte? Empfinden Sie das Beliebige, was auch immer man darunter verstehen mag, als Wert, den es zu überliefern lohnt?“ 

„Aber ja doch! Für mich ist es außerordentlich befriedigend, gerade das zu dokumentieren, was so wenig Wertschätzung erfährt, obwohl es letztlich unser planloses Leben dominiert. Sie werden es erraten haben: auch der Ordnung, zu der ich stets meinen Beitrag leisten wollte, habe ich letztlich abgeschworen. Leben ist so vielfältig und im Grunde nicht kalkulierbar, da ist es doch wahnwitzig, es in Systeme und Regeln pressen zu wollen. Man kann seine Zufälligkeiten nicht zu Kunstwerken bündeln, allenfalls als Chronist verdichten.“ 

„Die Verdichtung der Beliebigkeit …“ Eike von Eikenpracht ließ den Gedanken auf sich wirken. „Ich muss bekennen, dass mir die Vorstellung von der Art solcher Niederschriften schwerfällt. Aber neugierig darauf bin ich allemal.“  

Herr Akerueh war begeistert und griff nach einer Aktenmappe, die am Tisch lehnte. 

„Zufällig habe ich aktuelle Auszüge meiner Chronik dabei. Es sind Kopien, und ich würde sie Ihnen gern überlassen. Ihre Expertise wäre mein ganzer Stolz.“ 

Eike von Eikenpracht nahm den dünnen Schnellhefter entgegen, dessen Deckblatt mit einem Datum und mehreren Ortsbezeichnungen beschriftet war. 

„Ich werde mich heute Abend umgehend an die Lektüre machen“, versprach er. „Und sofern Sie denn morgen wieder hier sind, können wir über meine Eindrücke sprechen. 

„Lassen Sie uns so verbleiben“, bestätigte der alte Bibliothekar. 

Der Dichter erhob sich. 

„Jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen. Ich habe noch einen Besuch der Trinkhalle auf dem Programm und möchte nicht nachlässig werden.“

 

Nach einem leichten Abendessen mit gedünsteter Forelle, auf den sonst üblichen Grauburgunder verzichtend, begab sich Eike von Eikenpracht auf sein Zimmer. Er war neugierig auf diese Chronik, erahnte da eine literarische Schatzhebung. Doch die Lektüre war ernüchternd. Er las die erste Seite, dann die zweite und legte die Blätter vor der dritten nieder. 

War er einem Scharlatan aufgesessen? 

Er griff das erste Blatt erneut auf und las: 

Jetzt sitz mal endlich gerade noch einen Espresso bitte Silke ist wohl auch infiziert gerade als er soweit war ging nichts mehr wir dürfen nicht rückwärts in die Gasse Fleischwurst wird aus Schwein gemacht der Rest ist für Sie das hier ist eine Fußgängerzone kaum in der Rente und dann eine solche Diagnose ich möchte aber eine Tasse Kaffee der Weg ist der gleiche gestern war Neumond und dann hat sie ihn mit Gerda erwischt mein Arzt rät mir von Aufhellern ab hast du das von der Rentenreform gelesen der Altbau steht nicht unter Denkmalschutz wenn er fragt lasse ich ihn ran die wollen doch tatsächlich den Hort schließen im Alter müffelt er ein wenig nach zehn gehe ich im Dunkeln heim wer nicht fährt braucht keinen Parkplatz… 

Das war kein schlechter Scherz, stellte er widerwillig fest. Aber was war es? Er las weiter:

Ein Café ohne Schwarzwälder Kirsch und nun vorsichtig zurücklehnen Mama hätte es nicht überlebt Sie sollten weniger rauchen er fährt einen Überkopflader offene Beine mehr sage ich nicht die Wohnung ist natürlich überteuert sie hat mir ein Briefchen zugesteckt koffeinfrei was hat das mit Freiheit zu tun ich finde das Wasser hier salzig der Typ ist doch ein Penner stell dir vor ein Essig als Aperitif wer hat sich nur Kreisverkehre ausgedacht mein Vater ist dort gefallen aber der Masseur ist eine Zehn ihr macht es mit Gummi keine geschlossenen Vorhänge in der Nacht… 

Nie war der größte lebende Dichter deutscher Zunge sprachloser, aber er spürte, dass er auf eine Kunst gestoßen war, die ihn zu neuen Grenzen leiten wollte. Und darüber hinaus. Er warf den weißen Bademantel mit dem Emblem des Hotels über und trat hinaus in die Kühle des abendlichen Balkons. Mit geschlossenen Augen sah er den quengelnden Enkel, der zappelnd sein Pückler-Eis in sich hinein schaufelte, die Müllkutscher, die dem türkischen Kollegen ihre Hausmannskost anpriesen, die Sekretärin, deren Chef immer privater wurde, den Steuerberater in all seiner Ratlosigkeit, die Krankenschwester mit Grenzerfahrung, den erblindenden Rentner, die kleinen verhärmten Witwen mit ihren kleinen verhärmten Träumen, all diese Möchtegerns und Willnichtmehrs … und wurde sich seiner dem Feuilleton gnädiger Weise verborgen gebliebenen, aber offenkundigen  Unzulänglichkeit bewusst. 

Noch lange sann er nach über die willfährigen Wege der Dichtkunst, die er ein Leben lang beschritten und festgestampft hatte. In der Dämmerung, die der Nacht nicht weichen wollte, lauschte er dabei dem Gesang eines Amselmannes , der wohl seine Gefährtin rief. 

Mitten in der Nacht stieg er dann schlaflos aus dem Bett, weil ihn etwas im Traum dazu getrieben hatte, zur Chronik von Herrn Akerueh einen Beitrag zu leisten . Doch als er mit seinem geliebten Gelschreiber vor dem leeren Blatt des Hotelblocks saß und ihm die Gesichter des Tages verschwammen zu einer Collage aus Augen, Mündern und Stimmen, da musste er sein Scheitern einsehen. Kein Kellner, der sich für Trinkgeld bedankte, war ihm präsent, keine werdende Mutter ohne Erwartung, kein Zigarre rauchender Honoratior mitten im Restaurant, keine Ausrufe angesichts des Infarkts auf dem Kiesweg des Kurparks. Einfach nichts aus diesem zurückliegenden Tag seines Lebens hatte sich ihm wirklich eingeprägt. Nur der Gesang der Amsel wollte ihm nicht aus dem Sinn. Und so pfiff er vor sich hin, immer lauter, immer länger. Letztendlich aber schrieb er diesen einen Satz, bevor er sich aufraffte und erschöpft in sein Bett fiel. 

 

Der Cafétisch war unbesetzt. Keine Spur von Herrn Akerueh. Und dabei hatte sich Eike von Eikenpracht nach dem Mittagessen so beeilt, um pünktlich zu seiner Verabredung zu kommen. Er setzte sich und wartete eine Weile, doch zu seiner großen Enttäuschung erschien der alte Bibliothekar nicht. So nahm der Dichter sein Notizbuch zur Hand und riss ein Blatt heraus. In schönen verschnörkelten Buchstaben schrieb er einen Satz darauf und schob den Zettel unter die kleine Blumenvase mit den Röschen. Dann stand er seufzend auf, wendete seinen Blick noch einmal in alle Richtungen und nahm dann schweren Herzens den Weg zurück zum Hotel. 

Herr Akerueh, der sich die ganze Zeit hinter der Hainbuchenhecke versteckt hatte, die das Café von der Straße trennte, trat nun hervor und ging zu seinem angestammten Tisch. Bedächtig zog er die Notiz unter der Vase hervor und las. Dann lächelte er versonnen und las ein zweites Mal: „Und der Amsel ins Belieben gestellt, erklang das Weltenlied.“