Von Maria Lehner

Mein Steckenpferd? Es steht im Stall und wartet jeden Abend auf mich, wenn ich aus dem Parteisekretariat komme. Ich striegle es und dann reiten wir in den Sonnenuntergang. 

So wie auf dem Plakat? Ah, das haben Sie gesehen? Stimmt, da sitze ich auf dem alten Pferd, das steht jetzt im Museum. Ich besuche es manchmal und streichle verstohlen seine Mähne. Aber das ist schon Vergangenheit. Dieses Pferd … das konnte tänzeln, das hatte Feuer im Blut! Es trug mich, als wäre ich gewichtslos. Wenn ich am Ziel war und abstieg, schien es mir zuzunicken: Du schaffst es!

Die Clownsnase? Sie hat eine Bedeutung, dazu später. Nein, das hat nichts mit dem Plakat zu tun. Damals – Sie sehen ja die Programmankündigung – war meine große Zeit. „Mein Wort ist ein Messer!“, so nannte ich mein Programm. Ich redete nicht einfach, sondern warf die Wörter. Das Publikum suchte den Thrill, weidete sich an der Angst derer, die auf der Bühne mein Gegenüber waren und starrte mich an: Würde ich hoffentlich die Scheibe treffen und nicht etwa den Menschen? Der Saal war immer voll. Mut oder Übermut – an Freiwilligen fehlte es nicht.

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Das Messerwerfen? Ich habe es als Kind von Zirkusleuten gelernt. Als ich zwölf Jahre alt war, verfehlte ich bereits die Menschen, wie es vorgesehen ist, denn mein Ziel lag neben ihnen. Zuerst erlernte ich den Hammergriff. Der alte Branko, mein bester Freund damals, legte meinen Daumen auf den Messerrücken und lenkte meinen Blick in die richtige Richtung – so erlernte ich das Zielen. In meinen Jugendjahren wurde ich immer besser. Mein Handgelenk wurde stark, sodass das Messer nicht vorzeitig aus der Hand rutschen konnte. 

Später half mir das, dass das Wort nicht vorzeitig ausgesprochen und unvorbereitet ins Ziel geschleudert wird. Konzentriert muss man sein und doch gleichzeitig entspannt – damit es keine unvorhersehbaren Drehungen und Wendungen gibt. Ich wusste: Niemals das Wort an der Klinge anfassen, jeder Fingerabdruck schadet; es musste sich im Flug um seinen Schwerpunkt drehen, genau ein einziges Mal um sich selbst, bevor es im Ziel steckenblieb. Mit der Spitze. Sonst fällt es zu Boden und nimmt Schaden. Wortbruch nennt man das.

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Die Menschen konnten unbesorgt sein, sie waren mein Nicht-Ziel. Sie mussten nur ruhig bleiben, dann geschah ihnen nichts. Sie hörten das Wort an ihren Ohren vorbeizischen und spürten den scharfen Lufthauch. Mitunter wurde sogar ein kleines 0,04 Millimeter starkes Körperhärchen gekappt. Das war die hohe Kunst. Es bedeutete, dass sich dem Menschen die Haare gesträubt hatten, als sich ihm mein Wort näherte.

Was aber, wenn er treffen würde? Stets bevorzugte ich die frisch geschliffene und saubere Klinge, die präzise Schnitte setzt, die heilen besser. Ich schärfte die Begriffe, allzu weich sind sie ungeeignet. Zum Beispiel solche wie „Gesellschaft“, was oder wer soll das sein? Das prallt von der Zielscheibe ab und bleibt nicht stecken und kann ins Auge gehen, im wahrsten Sinn des Wortes. Verschnörkelte Begriffe sind auch von Übel: Hätte ich von „Phänomenen in der Enkulturation“ geschwafelt, wäre ich selbst zu leicht beim Werfen abgerutscht und Wer-Weiß-Was hätte passieren können…

Wer, wie ich, Erfolg haben wollte, musste wählerisch sein: Ich warf nicht jedes Wort und polierte die ausgewählten so lange, bis ich mich darin spiegeln konnte: Das Wort „zeitnah“ zum Beispiel – tchüüüü – sauste herab, weil es ein modernes Wort ist. Dann das Wort „Zivilcourage“: ftchchchch wirbelte es und drehte sich – das gilt als besondere Kunstfertigkeit unter jenen, die Wortmesser werfen. Oder „integer“: „tschschschng“ blieb es stecken beim richtigen Wurf und federte leicht nach, während der Mensch vor der Zielscheibe hörbar ausatmete. 

Andere Wörter aber, man mochte sie hegen und pflegen, sind ungeeignet. Das Wort „Eskimo“ zum Beispiel würde bloß taumelnd zur Erde niederstürzen. Der Mensch hätte das Gesicht zur angewiderten Grimasse verzogen: „Ihhh! Das sagt man nicht!“ und würde die Keule des Beleidigt-Seins wie den Pokal eines großen Gewinns vor sich hertragen. 

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Wenn ich die Bühne betrat, packte ich bedächtig meine Worte aus, schaute ins Publikum, schlenderte an der Zielscheibe vorbei und klopfte dem Menschen, der dort stand auf die Schulter. Ich brauchte nur verstohlen zu schnuppern und schon wusste ich, wen ich vor mir hatte. Dann wendete ich mich abrupt dem Publikum zu und warf mit einer schwingenden Bewegung das erste Wort zehn Zentimeter hoch, so wie man elegant einen Regenschirm am Stock grade nach oben wirft und ihn anschließend mühelos durch Schließen der Hand auffängt.

Ich mochte es, wenn die Stille eintrat. Dann funktionierte mein Körper wie ein präzises Uhrwerk. Arme und Augen, Oberkörper und Ohr, Zunge und Hüfte, Sprachzentrum und Beine. Wäre die Zunge gestolpert und hätte ich Silben verschluckt, dann hätte ich einpacken können. Im Nu hätten sie mich von der Bühne gejagt. Meine Worte wären in den Staub getreten worden, schlimmstenfalls hätten sie sogar damit nach mir geworfen – und mich getroffen, da sie ja in der Kunst des Wort-Werfens nicht geübt sind. Es galt auch zu vermeiden, dass eines meiner Worte mitten im Geworfen-Werden stumpf geworden wäre. Ein geworfenes Wort kann nicht zurückgenommen werden. 

Schön war der Moment, in dem das Publikum zum Schlussapplaus verschmolz. Ich fragte mich immer: Wem gilt er? Dem Menschen, der nicht getroffen wurde? Den Wörtern? Mir, dem Werfer? 

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Dann kam der Abend, an dem alles anders war. Ich trat auf die Bühne. Als ich vor der Zielscheibe gestanden hatte, hatte sie mir in die Augen geschaut. Sie? Die Person. Denn es ist nicht von Belang, ob Mann oder Frau. Es ist übrigens auch nicht von Belang, ob ich Mann oder Frau bin. 

Sie hatte mir lächelnd zugeflüstert: „Dein Wort ist kein Messer. Es ist ein Nichts, es ist Silbengestammel. Ich kann deine Angst riechen“. Und ich roch ihre Angstlosigkeit. Der Geruch hatte etwas Neues, Erotisierendes, Verwirrendes. Es wurde ein Fiasko. Ich hatte nach dem Geschoss gegriffen und das Wort „Gehorche!“ war durch die Luft gezischt. Schlecht gewählt. Dann war der kleine spitze Schrei gewesen, das kollektive Aufstöhnen – und die große Stille. 

Ich weiß bis heute nicht, ob sie – die Person – nur aus Mitleid bei mir geblieben war oder aus Rache, damit ich Tag für Tag sehen muss, dass ihr das letzte Glied des linken kleinen Fingers gebrochen wurde. Und das kann durch kein Wortpflaster, sei es noch so sorgsam appliziert, schneller geheilt werden als Körper und Seele dazu bereit sind. Werde ich jemals wieder das Wort über die Lippen bringen, das damals die Bruchstelle verursacht hat? Selbst wenn: Ich werde es nicht wollen. Wird der Finger wieder wie früher? 

Wir schnuppern jetzt jeden Morgen an einander. Der Geruch der Angstlosigkeit trägt mich durch den Tag. Angeblich soll ich auch wieder riechen wie jemand, der keine Angst hat, denn an jenem Abend habe ich aufgehört, Macht ausüben zu müssen und mich hinter Metaphern zu verstecken. Meine Wörter wähle ich sorgsam, überreiche ich bedächtig und lasse manch eines ungesagt. Ich brauche kein Publikum und keine Beifallsbekundungen mehr.

Das Plakat? Sie sehen, es ist schon vergilbt und an den Rändern eingerissen. Nein, das Wortmesser-Werfen habe ich aufgegeben.

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Mein neues Steckenpferd ist zahm; es trabt beinahe blind in die Manege. Der Zirkus ist meine Passion, das habe ich schon erzählt: Ich habe den Clowns einiges abgeschaut, deshalb die Clownsnase. Wenn keiner lacht? Naja, dann…

 Version 3