Von Brigitte Noelle

(aus: Anshelm Wasserschneider: Verkannte Genies. 24 tragische Biografien. Selbstverlag, Unter-Oberndorf. 2020, S. 11-17)

Die Wiege unseres Helden stand in der kleinen Stadt Mistelbach im Norden des schönen Bundeslandes Niederösterreich. Dort wurde er am 1. April 1939 als fünftes Kind František Fröschelthalers und seiner Frau Anna geboren. Im Laufe der folgenden Jahre sollte die Familie um vier weitere Kinder wachsen.

Als Hannibal das sechste Lebensjahr erreichte, erlebte die Familie einen Schicksalsschlag: Vater František, der als Sekretär der Bezirkshauptmannschaft die Seinen bisher gut versorgen konnte, verlor seine Anstellung. Glück im Unglück, bot ihm ein Freund den Posten eines Buchhalters in seiner Werkstatt für landwirtschaftliche Maschinen an, und damit war die Zukunft der Fröschelthalers weiterhin gesichert. 

Auch dem kleinen Hannibal brachte das Jahr eine große Veränderung, denn er wurde eingeschult. Den Recherchen für dieses Buch zufolge war er ein braver, stiller Schüler, der sich vor allem in den Fächern Rechnen und Schönschreiben hervortat. Im Archiv der Mistelbacher Volksschule fand sich ein Aufsatz, den der Junge vermutlich in der dritten Klasse verfasst hatte und der den werten Lesern nicht vorenthalten bleiben soll:

„Was ich am Sonntag getan habe  

Am Sonntag war es schön. Ich bin vor das Haus gegangen und habe den Gehsteig angeschaut. Da gab es graue und weise Pflastersteine. Zuerst bin ich nuhr auf die weisen gesprungen, dann nuhr auf die grauen. Dann hab ich gesehen, das es auch welche mit grau und weis gab und wolte auch drauf springen, aber die alte Frau Nowotni hat angefangen zum schimpfen. Da bin ich wieder herein gegangen.“

Welch bewundernswerte Beobachtungsgabe und Fähigkeit zur Analyse zeigte dieses Kind bereits im zarten Alter!                               

Hannibals Vater war für den Jungen Held und Vorbild zugleich, daher war es naheliegend, dass seine Eltern ihn zu seiner weiteren Ausbildung auf die örtliche Handelsschule schickten, die er erfolgreich absolvierte, um danach den großen Sprung zu wagen und in der Hauptstadt Wien eine Stelle als Unterlohnverrechner bei der Firma „Adonis – Pomaden en gros und en detail“ anzutreten. 

Durch Fleiß und Geschick konnte sich Hannibal im Laufe der Jahre zum Oberlohnverrechner hocharbeiten. Ehemalige Kollegen erinnern sich an seine unermüdliche Einsatzbereitschaft, mit der er, den Notizblock in der Hand, akribisch kontrollierte, ob die Arbeiterinnen ihre vorgeschriebene Arbeitszeit einhielten.       

In seinen Dreißigern wurde unser Held von Amors Pfeil getroffen. Durch Hannibals zärtliches und hartnäckiges Werben gerührt, sagte seine Angebetete schließlich ja. Am 5. Mai 1972 ehelichte er seine Amalie, geborene Rübenhaas. Das junge Paar lebte still, bescheiden und kinderlos sieben Jahre zusammen. Wie konnte Hannibal ahnen, dass sein Glück abrupt enden sollte? Das Unheil nahte in Gestalt seines Wohnungsnachbarn, eines feurigen Tangolehrers, der Amalie ganz neue Seiten der Liebe empfinden ließ. Zeugen zufolge verließ die Ungetreue ihren Gatten mit den Worten: „Ich halte es mit diesem langweiligen Pedanten keinen weiteren Tag aus“, um mit ihrem Galan nach Brasilien zu übersiedeln. 

Unser Held überstand die Enttäuschung. Spuren hatte sie trotzdem hinterlassen, denn nach seinem Tod fand man unter seinen Papieren einen Stapel von Heften, in die er hunderte Zeitungsartikel, in denen die Wörter „Amalie“, „Brasilien“ und „Pedro“ (der Name des Liebhabers) vorkamen, mit Quellenangabe versehen, eingeklebt hatte. 

So vergingen die Jahre, bis Hannibal einen weiteren Schicksalsschlag erdulden musste: „Adonis – Pomaden en gros und en detail“ stellte die Buchhaltung auf EDV um und er erhielt seine Kündigung zum dritten Quartalsende. Wohl besuchte er den vom Arbeitsamt vorgeschriebenen „Berufsorientierungskurs“, angesichts seines Alters verzichtete man jedoch auf weitere Qualifizierungsmaßnahmen. 

So sah er sich, ausgestattet mit dem finanziellen Polster einer üppigen Abfertigung, in noch rüstigem Alter bereit für neue Herausforderungen. Die folgende Zeit sollte sein verborgen schlummerndes Genie endgültig zum Vorschein bringen! 

Zunächst begnügte er sich damit, ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen und die Adressen der Gebäude in seinem Notizheft zu notieren, auf denen die Wörter „Pomade“, „Adonis“ und „EDV“ zu lesen waren. 

Doch eines Tages traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sein Schlüsselerlebnis schilderte er in einem Brief an seinen zweitjüngsten Bruder Siegfried: 

„Am Dienstag wanderte ich den Nachtigallenweg entlang, als mir eine prunkvolle Villa mit bemerkenswert vielen schönen Palmen in großen Blumentöpfen auf der Terrasse auffiel. Gerade in diesem Augenblick fuhr eine Reihe teurer Autos mit italienischem Kennzeichen vor.  Männer in Nadelstreifanzügen und breitkrempigen Hüten stiegen aus und betraten das Haus. Noch dachte ich mir nichts dabei. Doch am nächsten Tag, Mittwoch, passierte mir in der Himmelstraße das Gleiche! Ein luxuriöses Haus mit Palmen, italienische Autokennzeichen und dunkel gekleidete Männer – ich bin davon überzeugt, dass das  kein Zufall ist und werde herausfinden, wie diese Umstände miteinander zusammenhängen. Ich bin etwas Großem auf der Spur!“

Die folgenden Monate verbrachte Hannibal mit dem Studium der Architektur, der Botanik der Palmen (Arecaceae) und der aktuellen Herrenmode. Bald fand er übereinstimmende Merkmale von teuren Häusern und Anzügen, doch weder die Palmen noch die Herkunft der Wagen und ihrer Besitzer ließen sich einordnen. 

Anstatt sich entmutigen zu lassen, spornte das seine Forschungslust weiter an. Welchem Rätsel war er auf der Spur? Je weiter er seine Studien vorantrieb, desto mehr kam er ins Sinnieren. Manchmal, vor den Einschlafen, stellte er sich vor, wie seine wissenschaftliche Tätigkeit in aller Welt bekannt wäre, und eines Tages würde er einen Anruf bekommen, aus Schweden, das Nobelpreiskomitee … 

Wochen vergingen ergebnislos, Monate, bald gingen drei Jahre ins Land, die seinem Erkenntnisdrang gewidmet waren. Hannibal weitete seine Forschungen auf die Symbolik und Psychologie der Farben und der italienischen Landeskunde aus, doch immer wieder stieß er an seine Grenzen. Ein weiteres Zitat an seinen Lieblingsbruder gibt Zeugnis von seiner Verzweiflung:

„Ich bin sicher, lieber Siegfried, dass mich nur ein winziges Detail davon abhält, die Wahrheit zu erkennen. Denn sollte ich mich geirrt haben, wäre mein Leben und Streben umsonst gewesen. Ich werde einen letzten Versuch wagen und dorthin zurückkehren, wo meine Forschungen ihren Anfang nahmen. Morgen werde ich mit der Beobachtung der Häuser am Nachtigallenweg und der Himmelstraße beginnen.“

In den folgenden Wochen scheint Hannibal die beiden Gebäude intensiv und nahezu rund um die Uhr im Auge behalten zu haben. Er verlor an Gewicht und wirkte unruhig und gereizt. Ob er schließlich das letzte Puzzlestück gefunden hat? Man kann davon ausgehen, auch wenn er es der Nachwelt nie mitteilen konnte. Am 1. Jänner des Jahres 2000 fand man seinen leblosen Körper am Ufer der Donau.

 

Anlage: Ein Zeitungsartikel, erschienen am 3. Jänner 2000:

„Mysteriöser Mord – Polizei tappt im Dunkeln 

Am Neujahrsmorgen machten Spaziergänger einen grausigen Fund: Am Donauufer nahe Petronell lag die Leiche eines offenbar angeschwemmten Mannes, der inzwischen als Hannibal F. (60) identifiziert werden konnte. Die Polizei geht von Mord aus. Aufgrund verschiedener Hinweise vermuten die Ermittler, dass der Täter Verbindungen zur Mafia hat. Das Opfer führte ein zurückgezogenes Leben und kann in keinerlei Hinsicht mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Die Ermittler hoffen auf Hinweise im schriftlichen Nachlass des Ermordeten, doch das kann dauern: Nach Auskunft der zuständigen Beamten fanden sich in der Wohnung rund 2000 Aktenordner und 980 Notizbücher.“

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