Von Franck Sezelli

 

Da lagen nun Elisabeths und meine Kugel zwischen den vielleicht dreißig anderen. Walter hatte uns einen Tag zuvor diesen Tipp gegeben. »Kommt einfach 15 Uhr auf den Platz und werft eure Kugeln auch in die Mitte. Dann seid ihr dabei.«

Die Franzosen ringsum nickten uns freundlich zu. Walter hatte uns schon angekündigt. Wir hatten den Belgier kürzlich kennengelernt, als er vor seinem Wohnwagen saß. Auf eine sympathische Art fragte er uns aus und so waren wir ins Gespräch gekommen. Mit ihm war das einfach, denn neben Flämisch sprach er auch Deutsch und Französisch.

Einer der Männer griff sich nun völlig zufällig Kugeln aus der Ansammlung am Boden und legte sie drei und drei oder am Ende zwei und zwei zur Seite. So standen die Spielpaarungen fest.

Am Ende des Nachmittags wussten wir, dass wir uns nicht blamiert hatten, im Gegenteil. Sowohl Elisabeth als auch ich hatten unseren Spielpartnern und -gegnern bewiesen, dass wir mithalten konnten.

Das war nicht weiter verwunderlich, denn es lag schon ein Jahr Übung hinter uns. Angefangen hatte es mit einer Ankündigung in der Leipziger Volkszeitung. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in Leipzig lud Interessierte zu ihrem Sommerfest ein. Es gab Musik, ein Buffet, Wein und interessante Informationsrunden. Etwas abseits spielten ein paar Leute Boule. Das hatten wir im Frankreichurlaub schon des Öfteren beobachtet. Wir kamen mit Mireille, der Präsidentin der DFGL, ins Gespräch, einer Französin, die schon lange in Leipzig lebte und an der Universität unterrichtete. Sie überredete uns, mit ihr und ein paar anderen Mitgliedern Boule zu spielen, Kugeln waren vorhanden.

Die Grundregeln waren schnell erklärt und erste Spieltechniken gezeigt und eingeübt. Wir fanden Gefallen daran und erfuhren, dass sich ein paar Spielbegeisterte jeden Samstagnachmittag auf dem Platz trafen. So kamen wir zum Pétanque, wie dieses Spiel als Sportart korrekt heißt und oft als französischer Nationalsport bezeichnet wird.

Es wird im Allgemeinen zwei gegen zwei, als Doubletten, oder drei gegen drei, als sogenannte Tripletten, gespielt. Jede Partei hat sechs Kugeln, bei Doubletten jeder Spieler also drei, bei Tripletten jeder nur zwei Kugeln. Die beginnende Partei wird ausgelost und wirft eine kleine Holzkugel, das Cochonet oder Schweinchen, vom Abwurfkreis aus in sechs bis zehn Meter Entfernung. Dann versucht der erste Spieler eine seiner Kugeln so nahe wie möglich ans Schweinchen zu bringen. Die Gegenpartei wirft danach solange ihre Kugeln bis eine näher als der Gegner ist. Dann ist wieder die andere Partei dran, solange, bis alle Kugeln geworfen sind. Dabei dürfen die gegnerischen oder eigenen Kugeln auch angestoßen und wegbewegt werden, ebenso das Cochonet. Zum Schluss der sogenannten Aufnahme wird gezählt. Die Mannschaft, deren Kugel am nächsten zum Schweinchen platziert ist, bekommt so viele Punkte, wie sie Kugeln näher zum Ziel als die beste des Gegners hat. Es gibt also einen bis maximal sechs Punkte bei einer Aufnahme. Dann beginnt der Gewinner der Aufnahme und es geht von vorn los. Eine Spielpartie ist beendet, wenn eine Partei 13 Punkte erreicht hat.

Fast jeden Samstag und manchmal auch sonntags waren wir nun auf dem Platz und erfreuten uns an diesem Spiel, das eine eigenartige Faszination auszuüben vermag, wenn man sich intensiver damit beschäftigt. Wir wurden mit der Zeit auch immer besser, schließlich macht auch hier Übung den Meister. Vor allem im Legen vervollkommneten Elisabeth und ich unsere Fähigkeiten stetig, während andere sich als Schießer hervortaten. Generell gibt es im Pétanque nämlich zwei grundverschiedene Techniken. Der Leger versucht, die Kugel durch Rollen, auch nach einem halbhohen oder höheren Abwurf, nah an die gewünschte Position zu bringen. Das muss nicht immer direkt am Schweinchen sein. Eine gut davor gelegte Kugel macht es dem Gegner schwer, selbst wenn sie noch weit vom Cochonet entfernt liegt. Ein Schießer nun knallt mit seiner Kugel eine oder mehrere des Gegners durch einen kraftvollen Wurf weg. Große Kunst ist es, und das beherrschen die Spitzensportler, die es wie in jedem Sport auch hier gibt, wenn die eigene Kugel von oben auf die gegnerische trifft, diese weghaut und die eigene deren Stelle einnimmt.

Auf jeden Fall gab es für uns viel zu üben und manches intensiv genutzte Wochenende brachte auch einen ordentlichen Muskelkater. Entweder in den Armen vom Schießen, die Wettkampfkugeln sind immerhin zwischen 650 und 800 Gramm schwer. Oder auch in den Oberschenkeln. Denn vor dem Abwurf ist es zweckmäßig, sich den Boden sehr genau anzusehen, größere und kleinere Steinchen, Grasbüschel, weiche Stellen, Vertiefungen und Erhöhungen zu registrieren, um alles beim Legen berücksichtigen zu können. So macht man an einem Übungsnachmittag schon einige Dutzende Kniebeuge. Und das, obwohl Pétanque in der Provence 1910 eigentlich als Behindertensport erfunden wurde. Ein guter Spieler des damals sehr beliebten Kugelspiels Jeu Provençal konnte die dabei geforderten Anlaufschritte auf Grund von Rheuma nicht mehr machen. Also beschlossen seine Freunde, dass alle darauf verzichten und aus einem Kreis heraus mit geschlossenen Füßen, provenzalisch ped tanco, spielen.

An den Boulenachmittagen spielte die Geselligkeit natürlich auch eine Rolle. Ab und zu wurde gegrillt, gern trank man auch mal ein Glas Rotwein oder gönnte sich einen Pastis, den französischen Anisschnaps, der mit Wasser verdünnt wird. Schließlich beschloss man, aus der lockeren Freizeitgruppe einen von der DFGL unabhängigen Sportverein zu machen, der dann auch Unterstützung vom Rat der Stadt bekam. So wurden Elisabeth und ich Mitglieder des Leipziger Pétanque-Club „Pastis 1996“ e.V. Bald traf man sich auch mit anderen Pétanque-Gruppen der Region zu freundschaftlichem Wettstreit, bei dem wir weitere sportliche Erfahrungen sammelten.

 

So waren wir in diesem ersten Jahr und auch den folgenden immer gern gesehene Mitspieler auf dem Boulodrome im französischen Feriendorf. Wir konnten dabei sowohl unsere Sprachkenntnisse als auch die spielerischen Fähigkeiten verbessern. Zweimal in der Woche wurden Turniere veranstaltet. In jeder von drei Runden wurden die Mannschaften frisch ausgelost und die gewonnenen Punkte für jeden Spieler einzeln festgehalten. Bei der anschließenden Siegerehrung gab es allerhand zu gewinnen. Die Organisatoren Claude und Bob kauften von den 1 € Spieleinsatz einiges ein, Whisky und Pastis billig im benachbarten Spanien. Wein, Gebäck, Gutscheine zum Essen u.ä. wurden von den Händlern des Feriendorfes gespendet. Dazu kamen Spenden von den anderen Urlaubern, oft Werbegeschenke der Firmen, bei denen sie arbeiteten. Der Sieger durfte sich von den Preisen zuerst etwas aussuchen, dann der zweite usw. Elisabeth und ich haben viele der Weinflaschen, die wir im Urlaub abends getrunken haben, bei diesen Turnieren gewonnen. Nach dem Turnier gab es immer eine gesellige Runde, in der man Sangria und Pastis trank, Nüsse knabberte und sich unterhielt.

Wir gehörten schnell zu der eingeschworenen Gemeinschaft von französischen Urlaubern und Ferienhauseigentümern, die sich jedes Jahr wieder hier trafen. Wenn wir an den Strand kamen, wurden wir von vielen Franzosen dort kameradschaftlich begrüßt. Man warf sich ein paar freundliche Worte zu oder schwatzte auch mal länger miteinander. Die deutschen Urlauber hielten uns immer für Franzosen, was wir nicht ungern gesehen und manch einen auch in dem Glauben gelassen haben.

Hier im Urlaub war das Boulespiel für uns für den Zusammenhalt mit den Franzosen wichtig. Sportlich konnten wir nur von einigen wenigen etwas lernen, da die meisten nur Urlaubsspieler waren. Wir merkten aber schon, dass sich manch guter Schießer wie zum Beispiel Gérard und Phillippe im Turnier freute, wenn Elisabeth oder ich in seine Mannschaft kam. Er konnte sich auf uns verlassen wie wir auf ihn. »Keine Sorge, leg einfach deine Kugel. Ich schieße den Gegner weg.« Da ist Siegen dann einfach.

 

In Deutschland beteiligten wir uns zunehmend an Meisterschaften und Wettkampfturnieren. So reisten wir an manchen Wochenenden in verschiedene Städte Thüringens, Sachsen-Anhalts und Sachsens, manchmal mit Übernachtungen, manchmal nur tagsüber. Wir wurden Vizestadtmeister in Gotha bei offenen Stadtmeisterschaften, Zweite und Dritte auch bei anderen Turnieren. Später erhielten wir auch Einladungen nach Berlin, Hannover, Göttingen, Bielefeld und Bremen, lernten nette Leute kennen und sammelten Pokale. In dieser Zeit betrieb ich auch eine gut besuchte Webseite zum Thema Pétanque, auf der ich den Sport vielen bekannt machen konnte. Sogar aus Kanada bekam ich daraufhin E-Mails mit Fotos von Spielern, die sich auch von tiefem Frost und Schnee nicht abhalten ließen.

Auf den großen Turnieren lernten wir auch die psychologische Seite des Sports kennen, den Gegner und dessen Taktik einzuschätzen und ihn zu verunsichern. Obwohl ich sonst nie eine Mütze trage, lernte ich, meine Basecup tief in die Stirn zu ziehen und mit langsamen und bedeutend wirkenden Schritten die Bahn abzuschreiten, im Wurfkreis tief in die Hocke zu gehen und dann doch von oben zu spielen.

Elisabeth und ich eigneten uns die Kunst an, genau den Boden zu lesen und Unebenheiten und Bodenkrümmungen auszunutzen. Von derartigen Techniken profitierten wir natürlich auch im Urlaub. Gern stellte ich mich hinter Fabienne, eine ausgezeichnete Legerin, und beobachtete sie beim Wurf. So gelang es oft, denselben Aufschlagpunkt zu treffen, sodass die eigene Kugel dieselbe oder fast gleiche Bahn nahm wie die beobachtete. Diese wurde dann weggeschubst, und die eigene mogelte sich vorbei direkt ans Schweinchen.

 

An eine Begebenheit bei einem Turnier im Urlaub erinnern sich Elisabeth und ich auch heute noch sehr gern. Als Gilbert, einer der ältesten und geachtetsten der Pétanquer-Gemeinschaft und sehr guter Schießer, erkannte, dass wir beide zufällig gemeinsam zu seiner Gegenpartei gehörten, sagte er: »Oh, le couple diabolique …«  Das war für uns ein echter Ritterschlag.

 

 

 

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