Von Sonja Ziegler
Jeden Samstag mache ich mich auf den Weg zu meinem Dealer. Gleich nach dem Frühstück steige ich in die Straßenbahn und fahre in die Stadt. In der Fußgängerzone schlendere ich noch eine Weile ziellos umher, bis mir die Vorfreude fast ein Loch in den Bauch brennt.
Schließlich betrete ich den Fingerhut, meinen Lieblingsladen. Die Türglocke begrüßt mich mit einem fröhlichen „Auf einem Baum ein Kuckuck…“. Die Verkäuferin freut sich, mich zu sehen und schenkt mir ein verschwörerisches Lächeln. Ich lasse meinen Blick über die Regalbretter schweifen, auf denen sich Unmengen kunterbunter Wollknäuel dicht zusammengedrängt bis zur Decke türmen. Ehrfürchtig schreite ich durch den Verkaufsraum und suche nach meinen Lieblingsfarben. Naturfarben interessieren mich nicht. Die sollen mal schön in der Natur bleiben! Ich will doch nicht als graue Maus durchs Leben laufen; meine Kleidung soll ein Statement sein! Gab es etwas Schöneres als lila Mohairwolle oder Baumwolle in fünf verschiedenen Pinktönen? Ich bin im siebten Himmel! Vorsichtig nehme ich ein Knäuel aus dem Regal, presse es an meine Nase und atme tief ein. Der blumige Duft der Wolle lässt mein Herz höher schlagen. Sanft drücke ich den flauschigen Wollballen an meine Wange, liebkose Hals und Nacken. Was nützt mir die schrillste Bonbonfarbe, wenn der Pullover später am Ausschnitt juckt und ich mich ständig kratzen muss? Das absolute Nonplusultra ist Angorawolle, aber dieses Material bleibt für mich unerschwinglich. Als ich ein kleines Mädchen war, hatte mein Vater Angorakaninchen gezüchtet. In regelmäßigen Abständen wurden die armen Tiere von meiner Mutter geschoren und die Wolle an eine Genossenschaft geschickt. Im Gegenzug erhielt meine Mutter die Strickwolle, die sie so dringend für die Produktion ihrer Strickware benötigte. Damals hatte ich mir oft gewünscht, meine Mutter hätte mir statt- dessen ein Buch vorgelesen oder mich einfach nur in den Arm genommen. Die Stimme der Verkäuferin reißt mich jäh aus meinen Tagträumen: „Gestern hab ich frische Ware reinbekommen, aber ich hatte noch keine Zeit, sie auszupacken!“ Ich schnelle herum: „Wo??“
Als meine Schulkameradinnen in den 80ern das Stricken für sich entdeckten, konnte ich diese Begeisterung, die immer mehr um sich griff, nicht nachvollziehen, und fand, es gab weitaus spannendere Hobbys für eine
17-Jährige. Handarbeitsgeschäfte schossen wie Pilze aus dem Boden und es war wieder chic, Selbstgestricktes zu tragen. Ein paar Mädels strickten sogar gegen Bezahlung. 50 Mark verdienten sie an einem Pullover. Das machte dann wohl einen Stundenlohn von ca. einer Mark. Die Wolle für ihre Kunstwerke bekamen sie von den „Strick-Boutiquen“ zur Verfügung gestellt, die sich diese Strickware dann zu Werbezwecken ins Schaufenster hängten. Es gab einige Lehrer, die diese Art der „Nebenbeschäftigung“ sogar in ihrem Unterricht duldeten (Musik, Religion und Ethik). Die fleißigen Strickerinnen behaupteten dann immer, sie könnten besser zuhören und sich viel besser konzentrieren, wenn ihre Hände mit Stricken beschäftigt waren. Immer mehr Schülerinnen begeisterten sich für dieses Hobby und bald glich unser Religionsunterricht einer Plenarsitzung der Grünen. Ich verfolgte diesen neuen Trend zwar mit Interesse, war aber noch skeptisch. Zunächst fühlte ich mich noch stark an meine Kindheit erinnert. Meine Mutter war eine leidenschaftliche Strickerin gewesen und hatte uns immer mit allerlei Kleidungsstücken mehr oder weniger „beglückt“. Besonders das Tragen der mir verhassten Wollmützen war ein Dauerthema gewesen. Die Strickpullover meiner Mitschülerinnen waren aber ganz anders als die Kleidungsstücke meiner Kindheit, richtige Kunstwerke! Ich wurde neugierig, der Funke sprang über – und kurz vorm Abi hing ich an der Stricknadel.
Meine Mutter kramte für mich eine Strickfibel aus ihrem Bücherregal, und ich legte los mit den Basics. Bereitwillig wurde mein Taschengeld erhöht, damit ich mein neues Hobby finanzieren konnte. Nach dem Abi zog ich vom Dorf in die Großstadt, wohnte in einem möblierten Zimmer mit Gemeinschaftsbad und besuchte eine Handelsschule. Die einsamen Abende und Wochenenden waren kein Problem für mich. Ich bin gern allein und wusste mich zu beschäftigen. In meiner neuen Schulklasse traf ich auf weitere Abhängige, die so wie ich einen Pullover nach dem anderen produzierten. Wir strickten um die Wette. Ein Pullover pro Woche war keine Seltenheit. Da wir in der Schule auch viele Stunden an der Schreibmaschine saßen, gab es bald die ersten Sehnenscheidenentzündungen.
Meine Strickleidenschaft nahm bald zwanghafte Züge an. Ohne mein Strickzeug ging ich nicht mehr aus dem Haus. Ich strickte im BWL-Unterricht, im Zug und in der Straßenbahn. Ich strickte vor dem Essen und nach dem Essen, vor dem Schlafengehen und beim Fernsehen. Ohne mein Strickzeug wusste ich nicht, wohin mit meinen Händen, wurde ganz nervös und zappelig. Das monotone Klappern der Stricknadeln lullte mich ein. Wie ein Mantra glättete es die Wogen und spendete mir Trost, wenn mal wieder etwas nicht nach Plan lief. Das Stricken schützte mich auch zuverlässig vor unerwünschten Annäherungsversuchen. Welcher junge Mann wollte schon mit einer Strickliesel anbändeln? Ich genoss es, meine eigenen Kleidungsstücke zu kreieren und sonnte mich in der Anerkennung meiner Freundinnen. Oft wurde am Monatsende das Geld knapp. Meine Mutter freute sich zwar über meine Kreativität, aber meine Ausbildung war schon kostspielig genug und es gab keine weiteren Zuschüsse. Ich schränkte mich deshalb beim Essen ein und ernährte mich wochenlang von Tütensuppen.
Beim Stricken konnte ich bei Bedarf den Rest der Welt komplett ausblenden. Als Boris Becker im Finale von Wimbledon stand, fuhr ich mit meinem Freund an den Baggersee. Es war ein heißer Tag und der Strand brechend voll. Viele Menschen hatten sich um ein paar Radios versammelt und verfolgten aufgeregt die Übertragung dieses Duells – ich saß wie immer allein auf meinem Badetuch und strickte einfach weiter. An die 100 Pullover wurden es wohl in dieser Zeit. Die fertige Strickware trug ich meist nur kurz – meine Schwester nahm meine Kunstwerke mit Kusshand. Nach meiner Ausbildung fand ich eine Stelle als Sekretärin. Auch im Büro gab es viele Leidensgenossinnen, die meine Begeisterung für dieses Hobby sehr gut nachvollziehen konnten. Jeden Morgen, um halb zehn trafen wir uns zum Kaffeetrinken, ließen die Nadeln tanzen und strickten Pullover für unsere zukünftigen Ehemänner. Als Freunde ihr erstes Kind erwarteten, fertigte ich die ersten Babysachen, bald auch für mein eigenes Baby. Ich strickte rosa Schühchen für meine Tochter, die ihr schon nach vier Wochen zu klein waren. Die selbst gemachten Mützen riss sie sich ständig vom Kopf. Von wem hatte sie das nur?
Nach und nach verschoben sich meine Prioritäten, aber ich strickte immer weiter, obwohl meine Droge schon lange nicht mehr die gewünschte Wirkung zeigte.
Eines Abends saß ich vor dem Fernseher und strickte an einem zartgelben Pullover mit vielen komplizierten Mustern. Mein Leben als voll berufstätige Mutter laugte mich aus. Ich fühlte mich gehetzt und ausgenutzt. Meine Mutter kam mir in den Sinn, wie sie noch spät abends in ihrem Sessel gesessen und Pullover für uns Kinder gestrickt hatte. Warum tat ich mir das an? Wollte ich etwa so enden wie sie?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, stopfte ich mein Strickzeug zurück in die Plastiktüte, lief zur Tür hinaus und warf den Beutel im hohen Bogen in die Mülltonne. Seitdem bin ich clean, aber die Strickfibel steht bis heute in meinem Bücherregal…
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