Von Angelika Brox



Erster Schultag nach den Sommerferien.
Herr Taubner referiert über Karl den Großen.
Warum nicht Karl, der Käfer?, denkt Mia. Sie liebt die CD von Gänsehaut; manchmal kommen ihr immer noch die Tränen an der Stelle: „Karl, der Käfer, wurde nicht gefragt, man hatte ihn einfach fortgejagt.“
Aber was geht sie dieser Kaiser aus dem Mittelalter an? Nur, weil er sein riesiges Frankenreich zu klein fand, zettelte er ständig neue Kriege an, bis sein Land von Spanien über Italien bis zur Nordsee reichte. Die historische Karte im Geschichtsbuch zeigt die eroberten Gebiete in verschiedenen Grüntönen. Das könnte eigentlich ganz hübsch aussehen – wenn nicht damals unschuldige Menschen überrannt worden wären. Man hatte sie nicht gefragt.
Solche machthungrigen Typen sterben wohl nie aus, denkt Mia und schüttelt den Kopf.
Links neben ihr zeichnet Nele wie üblich Pferde ins Heft. Sie malt immer nur Pferde. Rechts neben ihr schreibt Lara ohne Ende „Jannik“, in allen möglichen Schriftarten, verziert mit Schnörkeln und Herzchen. Auch der i-Punkt ist ein kleines Herz.
Mias Blick wandert zu der neuen Mitschülerin hinüber. Schon wieder! Als hätten ihre Augen einen eigenen Willen. Egal, wie sehr sie sich bemüht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Malou heißt sie. Ein zartes Gesicht, eingerahmt von einem halblangen fransigen Bob. Weiße Shorts und Turnschuhe, dazu ein Top in leuchtenden Regenbogenfarben. Ein schöner Name. Malou.
Die Neue merkt, dass sie beobachtet wird, und schaut zurück. Erschrocken starrt Mia Herrn Taubner an, als hinge sie an seinen Lippen, und versucht, nicht rot zu werden. Noch niemals hat ihr Herz beim Anblick eines Mädchens schneller geklopft. Wenn das Nele oder Lara wüssten! Das darf sie ihnen auf gar keinen Fall erzählen. Und auch sonst niemandem.
Karl der Große hatte achtzehn Kinder, erzählt der Lehrer soeben. Einer seiner Söhne hieß Pippin der Bucklige. Auch Mobbing ist also keine neue Erfindung, stellt Mia fest. Armer Pippin.
Um Malous Hals hängt ein kleines Herz mit rosa und lila Streifen an einer zierlichen silbernen Kette. Malou schaut Mia direkt an und lächelt.
Mist, erwischt! Schnell schnappt sich Mia einen Stift und tut so, als müsste sie dringend eine Stelle in ihrem Buch unterstreichen. Sie ärgert sich über sich selbst. Wie peinlich war das denn gerade? Wieso verunsichert das neue Mädchen sie so sehr? Sie hätte doch einfach zurücklächeln können. Jetzt ist natürlich alles zu spät!
Den Rest der Stunde verbringt sie damit, das Gesicht auf die Hände zu stützen und ihre Gedanken um Ruhe zu bitten.

Auf dem Heimweg fährt Mia durch den Park. Am See hält sie an, stellt ihr Fahrrad ab, setzt sich ans Ufer und öffnet ihren Turnbeutel. Darin sind die Flusskiesel, die sie in den Ferien gesammelt und mit Acrylfarben bemalt hat. Einen nach dem anderen nimmt sie heraus, betrachtet sie noch einmal von allen Seiten und legt sie dann ins Gras. Der mit dem Smiley trägt auf der Rückseite die Botschaft: „You’re perfect!“ Auf dem Stein mit den Möwen über dem Meer ist zu lesen: „Follow your dreams!“ Zu dem Bild eines Schmetterlings hat sie geschrieben: „Alles wird gut.“ Auf der Rückseite einer blau-weiß-gelben Blüte steht: „Hab‘ einen schönen Tag!“
Sie hält gerade den Kiesel mit dem Mandala in der Hand, als eine Stimme hinter ihr sagt: „Schön!“
Sie zuckt zusammen. Während Malou sich neben sie setzt, bemüht Mia sich, ihre Fassung wiederzugewinnen.
„Was hast du damit vor?“, fragt Malou.
„Ich wildere sie aus“, antwortet Mia, nachdem sie ihren Schreck überwunden hat.
„Und dann?“
„Komm mit, ich zeig’s dir!“
Auf einmal fühlt es sich ganz einfach an, in Malous Nähe zu sein. Gemeinsam sammeln sie die Steine ein und legen sie an verschiedenen Stellen aus, auf Bänken, zwischen Baumwurzeln oder am Wegesrand.
„Da, schau!“, flüstert Malou und deutet zu einer Bank hinüber. Eine ältere Frau hat sich dort niedergelassen und wendet einen Kiesel zwischen den Fingern hin und her. Es ist der blaue mit den gelben Sternen und den Worten: „Du kannst mehr, als du glaubst.“ Ein Lächeln breitet sich in ihrem Gesicht aus. Sie steckt Mias Kunstwerk in ihre Handtasche und geht mit beschwingten Schritten weiter.
Das Mandala wird von einer Joggerin gefunden. Sie betrachtet das bunte Muster auf der Vorderseite, dann dreht sie den Stein um. „Schön, dass du da bist!“ Lächelnd nimmt sie ihn ein Stück mit und gibt ihm dann einen neuen Platz auf einem Baumstumpf.
„Cool“, sagt Malou. „Das macht Spaß.“
Mia freut sich. „Ich hab‘ zu Hause noch mehr Flusskiesel“, sagt sie, „die sind aber noch nicht fertig.“
„Sollen wir sie zusammen bemalen?“, fragt Malou.

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