Von Denise Fiedler

Ich hätte nie gedacht, dass der Tod so kalt ist.

Das Klappern meiner Zähne lässt sich nicht mehr kontrollieren. Der ganze Körper ist erfüllt von einem starren Schmerz, die Hände zu Klauen verkrampft.

Meine Zahnbürste schwimmt vorbei. Wie viele Bakterien sich jetzt wohl darauf tummeln? Ich unterdrücke ein Lachen. Der Gedanke ist genauso absurd, wie der an die Kaffeemaschine, die ich einschalten wollte.

Warum bin ich auch hinuntergegangen?!

Das Wasser stand bereits bis zu den Fenstern.

Ich hätte auf das Dach gehen sollen. Die Boote sind bestimmt schon unterwegs, beladen mit Decken und heißem Tee, auf der Suche nach Menschen, die – wie ich – nicht auf die Unwetterwarnung gehört haben. Aber mich werden sie nicht finden. Bei dem Gedanken stöhne ich auf.

Es war dumm, und das nur, um ein paar Bücher zu retten.

Ich kann nicht sagen, warum das Regal umkippte, vielleicht hatte ich in der Eile zu fest an einem der Böden gezogen. Ein letzter Sprung zur Seite konnte nicht verhindern, dass sich mein Bein zwischen Wand und Mobiliar festgeklemmt hat, den Blick Richtung Treppe, die mich höhnisch auszulachen scheint. Jeder Versuch, mich zu befreien, misslingt. Erst brannten die Hände von den Splittern, die sich tief in das Fleisch bohrten, doch dieser Schmerz lässt nach, seit sich die Kälte in sämtliche Glieder beißt.

Das Wasser sucht seinen Weg, durch jede Ritze im Mauerwerk dringt es ein. Steigt unnachgiebig weiter. Verströmt einen modrigen Gestank. Anfangs noch eine bräunliche Masse, wandelt es sich zu einem dunklen Gegner – je länger die Schatten werden – bis es sich gänzlich schwarz färbt.

Ich kann gerade noch den Kopf hinausstrecken. Nicht mehr lange, und die Deckenleuchten verschwimmen vor meinen Augen. Der Drang zu atmen ist stärker als der Verstand. Sobald sich die Lungen mit Wasser füllen, wird der Körper nach einem letzten Krampf aufgeben.

Ich fokussiere die Treppe, das Mondlicht, das durch die oberen Fenster fällt und die Stufen in silbriges Licht taucht, nicht stark genug, um bis zu mir vorzudringen.

Der Mann ist nur eine Silhouette, erst nach und nach wird er sichtbarer. Aus dem bärtigen Gesicht starren mich Augen an, so dunkel wie das Wasser um mich herum.

„Hilf mir“, flehe ich.

„Ich kann dir nicht helfen.“ Seine Stimme klingt gedämpft, als befände er sich in einem anderen Raum, und nicht nur wenige Meter von mir entfernt.

„Bitte“, versuche ich es erneut. „Mein Bein ist eingeklemmt.“

Er legt den Kopf schief, sieht mich an, als wäre ich ein Objekt. „Du könntest es abschneiden. Wenn du Pech hast, stirbst du an dem Blutverlust, aber wenn du es richtig abbindest, hast du vielleicht eine Chance.“

Ist er verrückt?

„Gefahr verändert die Menschen, lässt sie Dinge tun, unvorstellbare Dinge.“ Er scheint mehr zu sich selbst zu sprechen, dann sucht er meinen Blick. „Bleibst du hier, wird die Bestie dich verschlingen, in dich eindringen und nie mehr loslassen.“

Was redet dieser Kerl da? Ich schließe die Augen, als ich sie wieder öffne, ist er weg.

„Nein“, flüstere ich, dann schreie ich meine Verzweiflung hinaus.

„Das Floß war nie konzipiert, um Menschen zu tragen. Zusammengebaut aus allem, was das Schiff hergab, sollte es die Fracht bergen.“ Die Stimme kommt aus einer anderen Ecke. Ich drehe den Kopf, soweit es mir möglich ist.

Das Bild ist grotesk. Er sitzt auf dem Wandregal. Unter seinem Gewicht müsste es sich biegen, doch nichts dergleichen geschieht.

Mit leerem Blick fährt er fort: „Der Sturm zwang uns, die Méduse zu verlassen. Unfähige Offiziere, die uns zuvor auf falschen Kurs gebracht hatten, die nicht in der Lage waren, das Schiff freizubekommen, beanspruchten die wenigen Beiboote für sich. Mit Waffengewalt zwangen sie die Männer auf das Floß. Einen Haufen Handwerker, ohne Seeerfahrung, mit einem verletzten Grünschnabel als Kommandanten. Zu wenig Platz, um sich zu setzen.“

Er sieht mich direkt an. Ich hätte nicht gedacht, dass mir noch kälter werden könnte.

„Hörst du ihre Schreie? Ihre Verzweiflung, als die Leinen, die uns ziehen sollten, gekappt werden? Abandonnons-les!, hörten wir sie rufen, lassen wir sie zurück!

Wir waren zu schwer, das Wasser stand uns hüfthoch, immer wieder rollten Wellen über uns hinweg. Jede Wunde brannte wie Feuer, als das Salz sich hineinfraß. Die Schreie der Männer mischten sich mit dem Tosen des Meeres. Am Tag kam ein weiterer Feind hinzu, ohne Schutz waren wir der sengenden Sonne ausgeliefert.

Einige ließen sich fortspülen, andere wurden einfach niedergetrampelt.“

Das Wasser schwappt über meinem Kopf zusammen, hustend schaffe ich es, Mund und Nase herauszuhalten. Etwas streift an meinem Bein entlang. Für einen Moment habe ich das Bild von bleichen Körpern im Kopf, die um mich herum treiben. Bittere Galle steigt mir die Kehle hoch.

„Einen Sack aufgeweichten Schiffszwieback, zwei Fässer Wein und nur eines mit Wasser hatte man uns überlassen. Zu wenig.

Savigny, riefen sie, sahen mich erwartungsvoll an, wie lange können wir das aushalten? Ich wusste, dass wir wahrscheinlich länger ohne Nahrung auskommen würden, das Wasser machte mir Sorgen.“

Plötzlich fängt er an zu kichern. „Warum bereits nach drei Tagen? Diese Frage wurde mir oft gestellt, auch von Géricault. Vielleicht war es die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit. Wir entschieden, wer leben durfte. Die Schwachen und Verletzten erschossen wir oder warfen sie einfach über Bord.

Was treibt einen Menschen dazu, seine Menschlichkeit abzulegen?

Wir versuchten die Männer vom Wein abzuhalten, doch vergebens. Mit vom Alkohol umnebelten Verstand fielen sie übereinander her, unser junger Kommandant konnte nur tatenlos zusehen.

Die Toten lagen da, direkt vor uns. Ein Großteil weigerte sich, aber schließlich gaben wir einem Bedürfnis nach, das stärker war, als jegliche Menschlichkeit.* Ich schlug vor, das Fleisch zu trocknen, um es im Geschmack erträglicher zu machen.“ In seinem Blick liegt eine tiefe Traurigkeit. „Von einhundertsiebenundvierzig Passagieren verließen nur fünfzehn das Floß lebend, fünf starben kurz darauf, doch keiner ist ihm je entkommen.

Niemand fühlte sich dafür verantwortlich. Sie stellten nur Fragen und verlangten Berichte. Wir aber nahmen das Geschehene mit uns. Den Blicken der Menschen ausgeliefert. Selbst wenn sie versuchten, Verständnis für unser Handeln aufzubringen, lasen wir in ihren Augen unsere Schuld.

Ich wollte eine Entschädigung für die Hinterbliebenen, für die Kinder der Kannibalen, aber es war zwecklos.

Dank Géricault erinnert man sich an uns.“ Er legt den Kopf schief. „Wird man sich an dich erinnern?“

„Nein.“

Langsam verschwimmt seine Gestalt, auf dem Regal steht nur noch eine Blumenvase. Noch ein Atemzug, dann schließt sich das Wasser über meinem Kopf.

Mir fällt das alte Jagdmesser ein, ein Geschenk von meinem Vater. Ich greife nach der obersten Schublade des Sideboards, taste nach dem Lederetui. Die Klinge ist schwer. Mit der anderen Hand fahre ich an dem Bein entlang, halte inne. Was bin ich bereit, für mein Überleben zu tun?

„Der menschliche Wille ist stark, dennoch wird dich das Wasser nicht mehr loslassen. Es bleibt immer ein Teil von dir.“ Ich drehe den Kopf. Der Bärtige ist direkt vor mir.

„Mit der Argus kommt die Hoffnung. Halte nach ihren Lichtern Ausschau.“ Erneut löst er sich auf.

Mein Brustkorb drückt sich zusammen, ich weiß nicht, wie lang ich noch durchhalten werde. Ein Lichtkegel schimmert durch die Wasseroberfläche. Zuckt hin und her. Erst nach und nach wird mir dessen Bedeutung bewusst.

Ich hebe den Arm, mit letzter Kraft schlage ich Wellen.

Gedämpfte Stimmen – seltsam hohl in meinen Ohren. „Wir brauchen was zum Hebeln“, rufen sie.

Hände ziehen an dem Bein, das Regal wackelt, der schwere Druck lässt nach. Es fühlt sich an, als hustete ich meine Lungen raus, stattdessen spucke ich Wasser. Das Atmen tut weh, aber diesen Schmerz nehme ich dankbar an.

 

Die Leinwand ist riesig. Die Abbildung düster. Aber kann ein Bild das wahre Grauen darstellen?

Ich erkenne den Bärtigen.

Ob er wirklich da war, kann ich nicht sagen. Vielleicht war er auch nur Einbildung. Ein Streich meiner Fantasie.

Doch behielt er recht. Das Wasser lässt mich nicht mehr los. Mitten in der Nacht versucht es, in meine Lungen zu dringen, bis ich schweißgebadet erwache.

Noch einmal betrachte ich das Gemälde.

Das Floß der Medusa von Théodore Géricault.

Mit dem Blick des Bärtigen in meinem Rücken verlasse ich den Louvre.

War es seine Geschichte, die mich dazu brachte, den Kopf länger über Wasser zu halten?

 

*Aus dem Bericht von Henri Savigny. Quelle: Wikipedia, Méduse