Von Sarina Stützer

Als ich den langen, spärlich beleuchteten Gang mit den purpurdunklen Tapeten entlanggehe, wird mir plötzlich erst schummrig und dann schwarz vor Augen. Ich stütze mich an der Wand ab und warte, bis es vorübergeht – nichts Ungewöhnliches für mich: niedriger Blutdruck.

Ich bin das erste Mal in Berlin. Außer den üblichen Sehenswürdigkeiten will ich unbedingt das berühmte Berliner Clubleben kennenlernen. Es muss nicht gerade das Berghain sein, es gibt ja genügend kleinere Lokalitäten, in denen bis zum Morgengrauen gefeiert wird. Ich habe mir den Toppkeller ausgesucht, weil der Retrocharme dieses Namens mich anspricht. Von der Straße aus gelangt man in einen Vorraum, in dem man seinen Eintritt bezahlt (16 Euro! Die spinnen, die Berliner!), dann einige Stufen abwärts und durch besagten Gang.

Ich öffne die schwere Holztür am Ende und trete ein. Schlagartig befinde ich mich in einer anderen Welt. Der Raum ist spärlich beleuchtet, es gibt viel dunkles Holz. Die Herren tragen Anzug oder Knickerbocker, bei den Frauen sind jede Menge Bubiköpfe, Stirnbänder und tief taillierte Kleider zu sehen. Eine Band spielt irgendwas Altmodisches, Swing oder so.

Blöd. Ich wollte einen hippen Club besuchen und bin in der Golden-Twenties-Szene gelandet. Bei dem Namen hätte ich gewarnt sein müssen, aber ich hatte nicht auf dem Schirm, dass die Berliner auch anders feiern. Enttäuscht überlege ich, umzukehren und mir einen anderen Club zu suchen. Aber ich habe 16 Euro Eintritt bezahlt. Und dieses 20er-Jahre-Reenactment kann ja auch ganz interessant sein. Nur das Tanzbein werde ich nicht schwingen – Charleston, Swing und was sonst zu der Zeit noch so in war, ist so gar nicht meins.

Auf meinem Weg zur Bar werde ich von den Gästen angestarrt. Ich kontrolliere, ob ich mich vorhin mit der Currywurst bekleckert habe. Alles in Ordnung; auch der möglichst unauffällige Blick in den Spiegel hinter der Theke offenbart mir keine peinlichen Flecken im Gesicht. Während ich darauf warte, dass der Barkeeper mich bedient, sehe ich mich um. Alle, wirklich jeder einzelne Gast ist verkleidet. Außer mir. Okay, ein, zwei Drinks, um mir das Geschehen anzuschauen, dann gehe ich wieder. Das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, behagt mir nicht besonders.

Als der Barmann sich mir zuwendet, bestelle ich einen Baileys und ernte einen verständnislosen Blick. „Einen … was?“

Oh Mann, die treiben dieses Reenactment wirklich bis ins letzte Detail. „Was trinkt man denn in den Zwanzigerjahren so?“, frage ich ihn.

„Gin, Martini, Absinth, Champagner … Limonade“, entgegnet er.

Ich wollte immer schon mal cool sein und Martini trinken, verkneife mir aber lieber den Spruch von wegen gerührt und geschüttelt (der Barkeeper schüttelt). Mit dem Glas in der Hand schlendere ich an der Tanzfläche entlang und suche an den umliegenden Tischen nach einem Sitzplatz, von dem aus ich möglichst viel beobachten kann. Hinten in der Ecke steht genau der richtige Tisch: Ich hätte eine Wand im Rücken und könnte fast den gesamten Raum überblicken. Leider sitzt dort schon ein Mann mittleren Alters, der blicklos vor sich hinstarrt, einen Schreibblock und ein Glas mit einer milchig-trüben Flüssigkeit vor sich. Plötzlich kommt Bewegung in ihn, er beugt sich über den Block und beginnt zu schreiben. Er stockt, streicht durch, schreibt erneut. Hält wieder inne.

Ich ringe um den Mut, mich dazuzusetzen. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Er scheint nicht besonders groß, trägt Anzug, Weste und Krawatte; sein Hut liegt vor ihm auf dem Tisch. Er ist füllig, das Gesicht etwas schwammig, die Haare altmodisch geschnitten und nach hinten gekämmt. Anders als viele andere hat er sie aber nicht gegelt.

Er sieht mich an und mir wird bewusst, dass ich ihn anstarre. Um die Peinlichkeit zu überbrücken, setze ich mich in Bewegung und versuche möglichst lässig zu sein.

„Hier noch frei?“ Ich weise auf einen der Stühle.

Er nickt ohne Begeisterung. Ich setze mich und gebe vor, die Tanzenden zu betrachten. Dabei bin ich mir jetzt ganz sicher, dass ich den Mann schon mal gesehen habe, und versuche, ihn unauffällig aus dem Augenwinkel zu beobachten.

Auf der Tanzfläche bildet sich ein Kreis, in dessen Mitte ein Paar eine Tanzeinlage hinlegt, die mich von dem Mann ablenkt. Was sie zeigen, ist wirklich beeindruckend, und begeistert schließe ich mich dem rhythmischen Klatschen der Zuschauer an. Plötzlich schießt mir ein Name durch den Kopf, und bevor ich nachdenken kann, sage ich laut: „Kurt Tucholsky!“

Der Mann am Tisch zuckt zusammen und sieht mich fragend an. Ich hoffe, dass die Beleuchtung mein Erröten verbirgt. „Sie sehen aus wie Kurt Tucholsky!“

Er lächelt säuerlich. „Das ist ja mal ein Zufall“, meint er trocken. „Da bin ich aber mächtig froh, dass Muttern mir den passenden Namen zum Aussehen ausgesucht hat.“

Ich brauche ein paar Sekunden, bis mein Hirn auseinandergedröselt hat, was er gesagt hat. Okay, denke ich, dann spiele ich eben mit.

„Was schreiben Sie denn gerade? Ich bin ein großer Fan von Ihnen, ich verehre Sie geradezu!“

Er zieht seinen Block zu sich heran und legt die Hand darauf, aber vorher erkenne ich die Überschrift: „Mit“. Wow, der nimmt seine Rolle aber ernst.

„‚Mit‘! Den Text liebe ich ganz besonders!“ Die Gelegenheit, meinem Idol von Angesicht zu Angesicht sagen zu können, wie sehr ich es bewundere, beflügelt mich, auch wenn es nur ein Reenactment-Tucholsky ist. „Aber ich liebe alle Ihre Texte! Ich wüsste gar nicht, für welchen ich mich entscheiden sollte!“

„So so, alle“, brummt er. „Auch die, die ich noch gar nicht geschrieben habe, scheints. Sollte ich mich geehrt fühlen?“

„Noch nicht geschrieben?“ Ich schlage mir die Hand vor die Stirn. „Ach, klar, Sie schreiben ‚Mit‘ ja gerade erst!“ Ich kichere wie ein Teenager und bin mir selbst peinlich. „Aber im Ernst, ich habe Ihre Gesamtausgabe und möchte beim Lesen nach jedem zweiten Satz vor Ehrfurcht auf die Knie sinken!“ Ich steigere mich so in das Spiel hinein, dass ich inzwischen fast glaube, tatsächlich mit Kurt Tucholsky an einem Tisch zu sitzen. Diese Vorstellung ist so umwerfend, dass ich mit Vergnügen auf die Realität pfeife. „Eines meiner Lieblingszitate stammt sogar aus ‚Mit‘: ‚Erst denken sie nicht, und dann drücken sies schlecht aus.‘ – Wunderbar!“

Er fährt sichtbar zusammen, seine Hand zuckt zum Block, aber ich bin so in Schwung, dass ich das kaum registriere. „Was mich allerdings oft deprimiert, ist die Tatsache, dass Ihre Texte auch heute noch Wort für Wort gelten. Man könnte meinen, sie wären gerade erst geschrieben. Einerseits erschütternd, aber anderseits: was für ein Genie! Der Größte! Ever!“ Ich lasse mich völlig von meiner eigenen Begeisterung mitreißen. Auch der inzwischen geleerte Martini mag seinen Anteil daran haben.

Ich verstumme erst, als ich bemerke, dass mein Gegenüber mich mit einem Schweißfilm auf der Stirn fassungslos ansieht.

„Kch …“, krächzt er und räuspert sich. „Claire?“, ruft er dann, und noch mal, lauter: „Claire? Kommst du mal?“

Eine Frau mit roten Haaren, weißer Bluse und Krawatte kommt an unseren Tisch und mustert mich missbilligend. „Was los, mein Dickerchen?“, fragt sie ihn mit rauer Stimme. Sie setzt sich auf den freien Stuhl und kneift ihn in die Wange.

„Lass uns gehen. Hier werden Sätze zitiert, die bisher nur in meinem Kopf existieren“, sagt er leise zu ihr und nimmt seinen Block und den Hut. „Mir ist unheimlich.“

„Was denn“, sagt Claire. „Von dieser überaus schlecht gekleideten Frau lässt du dich ins Bockshorn jagen? Och, komm.“

„Erklär ich dir später.“ Der Mann schnauft. „Bitte, Claire.“

Jetzt fällt bei mir der Groschen. „Claire? Etwa Claire Waldoff?“ Ich strahle die Frau an. „Sie sind so ein großes Vorbild für mich! Wenigstens Sie haben die Nazis nicht auf dem Gewissen. Aber dass man Sie dann so völlig vergessen hat … so was macht mich immer traurig.“

„Sie haben doch nicht alle Tassen im Schrank!“ Die Frau springt auf, ich meine, in ihrem Blick einen Anflug von Panik zu erkennen, aber warum sollte sie? „Komm, Kurtchen“, sie zupft ihn am Ärmel, „lass abhauen.“

„Sag ich doch.“ Umständlich steht der Mann auf und folgt hastig Claires Slalom durch die Tische. Keiner von beiden dreht sich nach mir um.

Was habe ich bloß falsch gemacht? Ich wollte doch bloß mitspielen. Daran, dass ich Jeans und Turnschuhe trage, statt Charlestonkleid und Perlenkette, wird es doch hoffentlich nicht liegen..

„Spielverderber“, murmele ich und winke einem der Kellner, um mir noch einen Martini zu bestellen.

 

Als ich drei Martinis später aufstehe, um zu gehen, wird mir wieder schwindlig. Das hat jetzt allerdings nichts mit meinem Blutdruck zu tun und geht auch nicht weg. Ich wanke zwischen den Tischen hindurch, stoße mir mehrfach schmerzhaft den Oberschenkel, weil ich die Entfernungen zu den Tischen falsch einschätze, und hangele mich schließlich an der Wand entlang durch den Gang. Frische Luft wird mir guttun.

Endlich bin ich draußen und atme tief ein. Sogleich schüttelt mich ein Hustenanfall. Von wegen frische Luft, ich habe Rauch in der Lunge, es riecht wie Holz- und Kohlefeuer. Brennt es? Ich höre keine Martinshörner. Überhaupt ist es sehr ruhig und dunkel – die Straßenlaternen sind nicht an. Stromausfall? Vielleicht hängt das mit dem Brand zusammen. Muss ich die Feuerwehr rufen? Aber ich weiß nicht mal, in welcher Straße ich bin. Ich huste noch einmal. Dann gehe ich los, wobei ich mich zur Sicherheit mit einer Hand an den Häusern abstütze. Hoffentlich finde ich meine Pension wieder.